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Weltdorf LV

Hello, Freunde des Weltdorfs LV,

Krise ruft nach Erlösung, Depression nach Wunder. Kaum hatten sie Trauer über ihre Toten getragen, stellte sich punktgenau die Erleuchtung ein. Nach deutscher Art muss es Kunst sein, die die Hoffnungslosen aus dem Jammertal führt.

Doch Wunder und Demokratie schließen sich aus. Wenn das Volk das Sagen hätte, gäbe es weder Pyramiden, noch gotische Kathedralen, fürstliche Gärten und bewundernswerte Museen. Wie aber erklären wir uns, dass in der ersten Demokratie der Weltgeschichte die Kunst zur Vollendung reifte?

Die Herrschaft des Volkes in christlichen Breitengraden ist eine Epoche des Ordinären, Nützlichen, Gemeinen und Banalen. Der rohe Pöbel besitzt keine Empfindung für das Erhabene und Außerordentliche. Herrliche Schlösser, entzückende Musik, wundersame Malerei, vollendete Skulpturen und berückende Poesie gibt es allein in aristokratischen Gesellschaften. Nur die Eitelkeit und Ruhmsucht der Besten und Vermögendsten schaffen zeitüberdauernde Gebilde der Bewunderung und Ehrfurcht.

„Gerade erst ist die Hamburger Elbphilharmonie vollendet worden, und doch erhebt sie sich da am großen Fluss so selbstverständlich und selbstbewusst, als hätte die Welt nur auf sie gewartet. Von vielen Stellen der Stadt aus kann man sie sehen, wie eine Verheißung. Dieses kristalline Gebäude ist beinahe ein Wunder. Und das hat nicht nur …

… mit seiner Gestalt zu tun. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, hätte es dieses Wunder nie gegeben. Wären die Vorschriften, all die üblichen Prozeduren des öffentlich-rechtlichen Bauens eingehalten worden, wäre alles so vernünftig abgelaufen, wie es in einer Demokratie sein sollte, gäbe es heute keine Elbphilharmonie im Hamburger Hafen.“ (SPIEGEL.de)

Eben erst hatte ein hamburgisches Magazin sich zu Aufklärung und Demokratie bekannt, als nach wenigen Tagen der Schwur kippte und Demokratie widerstandslos dem Wunder zum Opfer fiel. Immer wieder kokettiert der SPIEGEL mit post- und außerdemokratischen Staatsgebilden.

„Die Geschichte dieses einmaligen Baus, der nun in Anwesenheit des Bundespräsidenten und der Kanzlerin mit einem Festkonzert eröffnet wird, ist auch die Geschichte öffentlichen Versagens. Und – das ist das Paradoxon – ohne dieses Versagen hätte es kein Gelingen gegeben.“

Die Wunderprotokollanten erinnern an die Erbauer der ägyptischen Pyramiden – an die demokratiegeborene Kunst der Athener erinnern sie nicht:

„Diese Architektur ist Ausdruck von Reichtum, Macht und Narzissmus eines Bauherrn, der das eine wollte: für alle Ewigkeit unvergessen bleiben. Und bis jetzt hat das geklappt. Und in Hamburg? Da lief es nicht so gut. Hier befahl kein Pharao, hier war der Bauherr eine Stadt, also eine Bürokratie.“

Könnte das Erstaunliche damit zusammenhängen, dass auch moderne Bürokratien von pharaonischer Geltungssucht durchdrungen sind, die sich als bewusstseinsloses Versagen tarnen muss, um wie Phönix aus der Asche in die bürgerliche Ewigkeit einzugehen?

Ist die Moderne etwa das Korrektiv zum Gigantismus der Fürsten, Könige, Kaiser und gottähnlicher Regenten?

Davon kann keine Rede sein. Der moderne Größenwahn allerdings bedient sich nicht künstlerischer, sondern technischer und ökonomischer Mittel. Das unberechenbare Risiko, der Drang ins Weltall, das Abenteuerliche, Geniale und Kreative, die furchterregende Fähigkeit der Naturzerstörung sind die Wunder moderner Quantität, die die vergangenen Wunder der Qualität verdunkeln sollen.

Bis zum Ende des Hoch-Mittelalters fühlte sich Europa im Schatten „der Alten“ – von der Kleinigkeit abgesehen, dass der christliche Glaube alle Welt überwunden hatte, also auch die bewunderten Heiden. Schon im tiefsten Mittelalter gab es bei Abälard, dem französischen Mönch und Gelehrten, Konflikte zwischen heidnischer Logik und christlichem Glauben, die nicht anders zu lösen waren als durch die Lehre von der doppelten Wahrheit oder die Unterordnung der weltlichen Weisheit unter die Erleuchtungen des Himmels. In weltlichen Dingen, auf der niedersten Stufe der Fakultäten, galt aristotelische Biologie und Logik, in geistlichen das paulinische Dreigestirn aus Glaube, Liebe und Hoffnung. Letztendlich wurde weltliches Denken als Torheit der Welt der Weisheit Gottes geopfert.

Dass solche Konflikte nur in Kreisen der Gottesgelehrten als akademische Schaukämpfe ausgetragen werden durften – mit advocatus dei und advocatus diaboli (Anwalt Gottes und des Teufels) – verstand sich von selbst.

Erst in der beginnenden Neuzeit verschärfte sich der Konflikt zwischen aufkommender Vernunft und inquisitorischem Glauben. Wiederum in Frankreich entbrannte ein exemplarischer Streit zwischen Alten und Modernen oder Heiden und Wiedergeborenen (Querelle des Ancients et des Modernes). Seltsamerweise aber nicht als wissenschaftlicher, sondern als ästhetischer Streit. Vermutlich waren ästhetische Fragen nicht so brisant wie naturwissenschaftliche und politische. Die Auseinandersetzung um das Schöne schien harmloser und glaubensneutraler zu sein als das scharfe Messerwetzen zwischen autonomer Erkenntnis und unfehlbaren Heilswahrheiten.

Charles Perrault, Zeitgenosse Ludwigs XIV., dichtete:

Die schöne Antike verdiente immer Verehrung, Doch nie, glaubte ich, Anbetung.

Ich sehe die Menschen der Antike, ohne die Knie zu beugen, Sie sind groß, das ist wahr, doch Menschen wie wir.

Und man kann den Vergleich anstellen, ohne ungerecht zu sein, zwischen dem Zeitalter von LOUIS und dem schönen des Augustus.

Hier fällt auf, dass die Franzosen – bis weit über die Aufklärung hinaus – sich mehr an Rom und Sparta orientierten als etwa die Engländer, deren „Gentleman“ eine Wiedergeburt des besonnenen, selbstbestimmten und kosmopolitisch- hellenischen Philosophen sein sollte.

Kant wiederum bezieht sich nur selten auf die Alten. Er war gespalten zwischen dem Franzosen Rousseau (dessen „Emile“ ihn „zurechtbrachte“) – dem Holländer Spinoza, dem Engländer Hume und dem Schotten Adam Smith. (Kants Vorfahren waren eingewanderte Schotten). Die nachkantische Graecomanie bezog sich keineswegs auf die griechische Aufklärung, sondern begnügte sich mit der Anbetung urgriechischer Götter – und der vollendeten Kunst der Griechen.

Goethe und Schiller waren zu unpolitisch, geradezu politikallergisch, als dass sie sich mit demokratischen Gedanken herumgeärgert hätten. Schillers jugendliche Begeisterung für die Französische Revolution endete abrupt mit dem Terreur Robespierres. „Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen“: das war Schillers moralisch begründete Absage an einen verbrecherischen Demos und die Hinwendung zur deutschen Ästhetik, die ab jetzt zum Ersatz für ordinäre Politik wurde. Eine äußerlich-revolutionäre Veränderung der Verhältnisse könne den verdorbenen Untertanen nicht zum „neuen Menschen“ machen. Nur Theater, Kunst oder das Schöne in jedweder Form seien in der Lage, den Menschen zu humanisieren.

Das Theater wurde zur moralischen Anstalt. Doch nicht lange und die nächste Generation begann den „Moraltrompeter von Säckingen“ zu verspotten. Die Romantiker entfernten alle „Spießermoral“ aus der hehren Kunst – die sie als Transformation des Irdischen in Überirdisches verstanden.

„Romantisieren“ war ästhetisches Verzaubern der schnöden Realität in eine himmlische Phantasiewelt auf Erden. „Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst“. Das himmlische Wachküssen der Erde in Überirdisches: das war die ästhetische Fähigkeit der romantischen Künstler. Katholischen Priestern gleich, die aus schnödem Brot und Wein den Leib und das Blut des Herrn zauberten, wollten die Romantiker die Erde in das Reich Gottes „transsubstantiieren“ (verwandeln).

Wer die deutsche Kollektivseele verstehen will, muss sich die Volte der Romantiker klar machen. Aus moralischen Gründen hatte sich Schiller von der äußeren Politik verabschiedet, um durch ästhetische Innerlichkeitsarbeit den Untertanen in einen wahrhaften Menschen zu verwandeln. Just diese moralische Intention verwerfen die Romantiker, die unter Politik nur noch christlich-germanisches Erobern, ja Erlösen, der Welt verstanden. Mit den Worten Ricarda Huchs:

„Die Helden der romantischen Dichtungen waren Dichter, Maler, Musiker, als höhere Menschen über den Gemeinen stehend, die sie teils verehrten, teils aus roher Unwissenheit verachteten. Die Gebräuche und Gesetze der Durchschnittsmenschen galten für diese Ausnahmenschen [Carl Schmitt ist hier vorweggenommen: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand bestimmt“. Auch der amerikanische „Exzeptionalismus“ ist nichts anderes als die permanente Sonder- und Ausnahmestellung der erwählten Nation] nicht. Sie befanden sich immer in außergewöhnlicher, „romantischer“ Lage, wo der gemeine Maßstab nicht anzulegen war. Neben der Überschätzung der Kunst entsteht im Schoße der Romantik ihre Unterordnung unter Religion und Leben.“

Präziser müsste man sagen: es war keine Unterordnung, sondern eine Identifikation. Romantik wurde Religion, das Leben der Deutschen wurde aller Tages-Politik überdrüssig. Bei Richard Wagner – dem Vollender der deutschen Romantik und Idol Hitlers – fällt ästhetische Erlösung mit Politik zusammen. Die Politik der Nationalsozialisten führte zur Installierung des Dritten Reiches, jener Epoche der Heilsgeschichte, in der der Heilige Geist selbst die irdische Regierung übernimmt. „Den sittlichen Gesichtspunkt ordneten sie dem ästhetischen unter. Schien ihnen etwas schön oder ihrem Gefühle entsprechend, fragten sie nicht, ob es moralisch sei“, so beschrieb Ricarda Huch die Genieallüren der Romantiker.

Ihre Moral- und Politikverweigerung verstanden die Romantiker als moralischen, ja übermoralischen Akt. Das entspricht der heutigen Situation. Keine literarische Kritik, die nicht emphatisch darauf hinwiese, dass der Autor nicht mit der moralischen Keule daherkäme.

Ästhetische Darstellung der Realität darf mit primitiver Moral nicht verunreinigt werden. Kunst hat nichts mit Politik zu tun. Das betrifft auch das Theater. Zwar gibt es politische Regisseure, doch sie gelten als ästhetische Holzhacker.

Die wahre Kunst beginnt, wo alles Politische endet. Die Amoral der Kunst ist die eigentliche Moral. Diese Mixtur aus moralischen und amoralischen Prinzipien entspricht der theologischen Antinomie (= wider das Gesetz), die die widersprüchlichen Moraldevisen der Bibel je nach Zeitgeist und Opportunität auswählt. Heute sentimentale Liebe, morgen Liebe mit dem messianischen Schwert. Heute sozialistisch, morgen neoliberal. Heute obrigkeitlich, morgen staatsverdrossen. Heute Merkel‘sche Lindigkeit, morgen Merkel‘sche kalte Brutalität.

Auch die gegenwärtige Verachtung des niederen Volkes ist von den Romantikern vorweggenommen. Sie definieren sich als geniale Übermenschen, die von genielosen ästhetischen Vollidioten nicht verstanden werden können. Heute sprechen die elitären Übermenschen von komplexen Problemen, die vom Volk nicht verstanden werden können.

Verstehen könnte man sie nur, wenn man sie rational erklären könnte. Da ästhetische Urteilskraft sich aller Ratio entzieht, kann sie mit schlichten und einfachen Vernunftbegriffen nicht erklärt werden. Man hat‘s oder hat‘s nicht. Entweder gehört man intuitiv dazu oder man steht draußen vor der Tür und wartet auf Godot, bis man schwarz wird.

In fast allen zivilisatorischen und kulturellen Errungenschaften gingen die westlichen Nachbarn den Deutschen voraus. Mit einer schrecklichen Ausnahme. In ihrer abscheulichen Fähigkeit, das Böse als moralisch-notwendige Tat zu vollstrecken, fühlten sich die Nationalsozialisten allen Vernunft-Heuchlern des Westens überlegen, die sich nicht trauen würden, zu tun, was auch sie im tiefsten Innern für richtig hielten. Nach der Niederlage fielen sie in ein Nichts und mussten das demokratische ABC vom Punkte Null an von ihren Befreiern lernen.

Den Romantikern war die Zurückgebliebenheit der Deutschen bewusst. Die Deutschen – so Schlegel – würden an „Reichtum mannigfacher Erfindung und an Einfluss auf das Ausland gegen die Hauptnationen Europas zurückstehen“. Doch aus der Not machten sie eine Tugend. „Reculer, pour mieux sauter“, um besser zu springen, müsse man Anlauf nehmen. Nach dieser Devise betrachtete Schlegel die Deutschen als zukünftige Spitzenreiter der europäischen Entwicklung. „Wenn wir dies bedenken, so müssen wir uns Glück wünschen, Deutsche zu sein oder an deutscher Bildung Anteil zu nehmen, weil uns nur dadurch, im Gegensatz mit der einseitigen Befangenheit anderer Nationen, zugleich mit dem freien Überblick der Vergangenheit eine erfreuliche Aussicht in die Zukunft gegönnt ist.“ (Nach R. Haym)

Nach ihrer Aufholjagd in allen demokratischen und ökonomischen Dingen stehen die Deutschen heute wieder an der Spitze Europas. Mit Ausnahme Amerikas haben sie alle Siegermächte überholt. Selbst in moralischer Hinsicht haben sie – durch Merkels caritativen Augenblicksheroismus – alle westlichen Staaten in den Schatten gestellt.

Obgleich die Willkommensaktion nur die sporadische Ausnahme von der harten Außenpolitik Merkels ist, stilisierte sich die Kanzlerin zum moralischen Gegenpol gegen den amerikanischen Machiavellisten. Über Nacht scheinen die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Nur Merkel, so die New York Times, könne den Amerikanern gegen Trump beistehen. Übersehen wird dabei, dass Merkel auf die Willkommensatmosphäre der Basis nur aufgesprungen war, ansonsten aber eine knallharte ökonomische Wettbewerbspolitik betreibt – selbst gegen die europäischen Verbündeten. Wirtschaftliche Solidarität ist in der EU durch vertraglichen Beschluss verboten.

Befinden sich die Deutschen überhaupt in einer Krise? Laut Umfragen sind über 80% der Deutschen mit ihrer privaten Situation durchaus zufrieden. Doch den Umfrageprofis ist zu misstrauen. Die richtigen Fragen stellen sie nicht. Fast all ihre Fragen haben einen suggestiven Unterton: wehe, ihr sagt, was ihr wirklich über Gott und die Welt denkt. Eure Untertanenpflicht besteht darin, das deutsche Gejammer sein zu lassen und Dankbarkeit zu zeigen ob eurer privilegierten Lage. Vergesst nicht, den meisten Völkern der Welt geht es schlechter.

Die german Angst oder das deutsche Gejammer entspringen nicht der Einschätzung des Privaten, sondern einem allgemeinen Blick über die apokalyptische Situation der Weltpolitik. In der Fragesituation haben die Deutschen gelernt, nur ihre private Sicht der Dinge zu artikulieren. Die Deutschen spüren, wann sie aus staatsbürgerlicher Pflicht eher zufrieden oder unzufrieden sein sollen. Brav, wie sie sind, geben sie die Antwort, die man von ihnen erwartet. Da viele noch die Kriegssituation kennen, wissen sie, dass sie in einem wirtschaftlichen Wunderland leben.

Die german Angst bezieht sich vor allem auf eine unberechenbar-düstere Zukunft. In der jüngsten Vergangenheit haben die Deutschen allzu viele Brüche und Katastrophen erlebt, als dass sie ruhigen Bluts nach vorne schauen könnten. Das Krisengerede ist vor allem ein hinterlistiger Motivationsstachel der Eliten, die die Befürchtung hegen, das Volk könnte beim derzeitigen Wohlstand in Trägheit verfallen und die rasante Hochkonjunktur gefährden. Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten sind die hartnäckigsten Zweckpessimisten, die hinter jedem Sonnenschein die nächsten Gewitterwolken an die Wand malen. Da das Volk zur Bequemlichkeit neigt, muss es ununterbrochen angestachelt werden.

Die Krise ist vor allem eine der Eliten, die sich ihre Versagensängste nicht eingestehen und auf das niedere Volk projizieren. Das ziemlich abrupte Ende der deutschen Nachkriegsidylle hat die führenden Klassen in nicht geringe Panik versetzt. Seit Pegida, der AfD, vor allem seit Trump war die erste Reaktion der Kommentatoren: das Spiel ist aus. Joschka Fischer, der die Politik in Ekelgebärden hinter sich ließ, um sein Taschengeld aufzubessern, spricht vom „Ende des Westens“.

Das sind die wahren Heroen der Demokratie. Sie wehren sich nicht gegen deren Beschädigungen, sie nehmen Reißaus und flüchten in Fatalismus. BILD-Wagner ist ein klassisches Beispiel. Da er fürchtet, politische Lügen (Fake News) könnten die nächste Zukunft bestimmen, will er in den deutschen Wald fliehen, um den Vöglein zu lauschen:

Am liebsten würde ich mit einem Rucksack in die Wälder fliehen, in einen kleinen Bach meine Füße hineinstecken, hoch oben auf den Bäumen Vögel singen hören. Eine Welt ohne Lügen.“ (BILD.de)

Die Bewusstseinslosigkeit – oder rituelle Heuchelei – der Medien ist grenzenlos. Jahrzehntelang wurde Wahrheit in hiesigen Gazetten als dogmatische Besserwisserei an den Pranger gestellt. Doch seitdem andere noch dreister lügen, sind sie über Nacht zu Freunden der Wahrheit konvertiert. Desgleichen predigen sie seit Jahr und Tag Resilienz (Widerstandskraft), um den wachsenden Stress des Kapitalismus zu bewältigen. Aber antidemokratischen Attacken wehrhaft zu widerstehen, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Spätestens seit der Romantik sind die Deutschen zu devoten Mitläufern der Geschichte oder Heilsgeschichte degeneriert. Dabei hieß der erste Deutsche, „der in der Geschichte einzeln und persönlich vorkommt, Ehrenfest“. Der letzte Deutsche wird Mitläufer heißen.

Die Hamburger klammern sich an ihren ästhetischen Tempel, als würden sie ohne ihn in der Alster versinken. Sie wiederholen den romantischen Eskapismus in die Kunst und wenn die Demokratie dabei unterginge. Was versprechen sie sich von der überteuerten und gleißenden Präsentation der Musik – die von den meisten Kritikern als gar nicht gelungen bezeichnet wird? Wenn man jedes Räuspern hört, hört man keine Musik mehr.

Da wir in eine planetarische Krise geraten sind, müssen wir wieder lernen, Urfragen zu stellen. Eine Urfrage wäre: welche Einflüsse der Kunst auf das Publikum erwarten die Hamburger? Moralische, politische? Keine? Narzisstische Erbaulichkeiten, um sich als Creme de la Creme der Weltkultur zu empfinden?

Jahraus, jahrein besuchen die Kultureliten ihre Orchester- und Theaterhäuser. Verlassen sie die Aufführungen als Veränderte oder bleiben sie hartnäckig die Alten, nur bestärkt im Dünkel, zur erlesenen Oberschicht der Gesellschaft zu gehören?

Für Pythagoras war die Zahl der Kern der Harmonie. Mathematik und Musik verschmolzen die Vielheit der Dinge zum geordneten Kosmos. Diesem musste das Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft entsprechen. Harmonie war das Grundgesetz der pythagoreischen Ethik und Politik, die in der Gerechtigkeit gipfelte.

Platons Enthusiasmus für die Musik war so groß, dass er in seinem idealen Staat unmoralische, staatsfeindliche und „wehrmachtzersetzende“ Musik verbieten wollte. Dann kam der Bruch. Für Gorgias gehörte jede Kunst zur Rhetorik, worunter er die geschickte Leitung des Volkes zu beliebigen politischen Zwecken verstand. Auf die Beherrschung der Massen zielte jede Beeinflussung durch verbale und ästhetische Mittel, die man als legitime Lügen bezeichnen konnte. Man sieht, Fake News sind ein uraltes Mittel suggestiver Politführung, sei es durch Worte, Musik oder Theater.

Seit den Sophisten – heute würde man von Populisten sprechen – wurde das Volk zum Objekt propagandistischer Irreführung. Durch das digitale Netz ist das Volk zum ersten Mal in der Lage, zeitgleich mit Medien und Eliten seine Meinung zu äußern. Das konnte nicht gut gehen.

In der Neuzeit wehrte sich die Kunst gegen jegliche Form gesellschaftlicher Nützlichkeit. L’art pour l‘art wurde zur Fanfare einer freischwebenden Kunst. War diese Befreiung ein Sieg – oder eine Niederlage?

Heute ist Kunst zur Geldanlage oder zum bloßen Amüsement verkommen. Kunst widerspiegelt nicht mehr die Inhumanität der Zeit, um die Verhältnisse zu verändern. Sie wurde zum dekorativen Schein einer Welt, die man ohne sie kaum ertragen könnte. Insofern ist sie mitschuldig an der wachsenden Misere der Menschheits-Situation. Irrte Hegel, als er bereits vor 200 Jahren das „Ende der Kunst“ konstatierte?

„Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

…denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“

Rilkes Imperativ war bereits Haschen nach Wind, als er sein berühmtes Gedicht schrieb. Flugs kamen professionelle Interpreten, die seine Aufforderung, sich durch Kunst verändern zu lassen, klinisch rein entmoralisierten. „Der Imperativ „Du mußt dein Leben ändern“ ziele nicht auf eine Umgestaltung der Lebensweise“. (Ulrich Karthaus)

Da haben wir nochmal Glück gehabt, dass wir zwar alle Welt, aber nicht uns verändern müssen.

Das Maß musikalischer Empfindungsfähigkeit in zeitgenössischen TV-Wettbewerben trägt den interessanten Begriff: Gänsehaut. Gänsehaut – medizinisch Piloerektion – ist die Erektionsfähigkeit der menschlichen Körperbehaarung bei musikalischer Stimulanz. Wer fühlt sich durch musikalisch erregte Körperhaare nicht bestens präpariert, die Welt in eine bessere zu verwandeln?

Musik verändert nicht die Welt. Dazu ist sie zu unscharf und begriffslos. Selbst wenn sie zu erschüttern vermag, kann jeder sich der Erschütterung mühelos entziehen. Soll sie die Welt überhaupt verändern?

Seltsame Frage. Wie kann etwas, das Geist hat, davon befreit werden, am Werk der Humanität mitzuwirken?

Die Eröffnungsfeier endete mit Beethovens 9. Sinfonie, der Vertonung des Schillergedichtes „An die Freude“. Welche Aussagen Schillers sollen gelten? Haben die Konzerthörer leidenschaftlich darüber gesprochen und gestritten – oder haben sie in ästhetischer Unberührbarkeit alles an sich abgleiten lassen?

Duldet mutig Millionen!
Duldet für die beßre Welt!
Droben überm Sternenzelt
wird ein großer Gott belohnen.

Das wäre fromme Ergebung in das Schicksal und radikale Absage an jegliche demokratische Bemühung. Oder soll gelten:

„Bettler werden Fürstenbrüder,
wo dein sanfter Flügel weilt.“

Wäre diese Botschaft angekommen, könnten die Hamburger keinen Tag länger hartleibige Kapitalisten bleiben, denen das Schicksal unendlich vieler Verlierer gleichgültig wäre.

Hitler war berauscht von Wagner – und ermordete Millionen. KZ-Wächter waren leidenschaftliche Bach- und Mozart-Liebhaber. Lenin hat die moral-amputierte Funktion der Musik drastisch auf den Begriff gebracht:

„Ich kenne nichts Besseres als die Appassionata, ich könnte sie jeden Tag hören. Eine erstaunliche, nicht mehr menschliche Musik. Doch kann ich die Musik nicht oft hören, sie greift die Nerven an, man möchte liebevolle Dummheiten sagen und den Menschen die Köpfe streicheln … Aber heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln, man muss die Köpfe einschlagen, mitleidlos einschlagen.“ (Lenin)

 

Fortsetzung folgt.