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Weltdorf LIV

Hello, Freunde des Weltdorfs LIV,

Rückschau gibt es in Deutschland nur als Totenverklärung. Heros zu werden, ist hierzulande einfach: man muss nur sterben und in die ewigen Jagdgründe eingehen. Heldentod und Tod sind identisch geworden. Über Tote nur Gutes? Über Tote nur Heldenhaftes. Wer stirbt, hat Recht gehabt und geht ein in Walhall.

In der deutschen Vergangenheit kann es nur Heroen gegeben haben, sonst hätten sie nicht das Recht gehabt, gestorben zu sein. Safranskis Bücher über tote Deutsche sind allesamt Heroenverklärungen. Die Schande der Deutschen währte nur einen Augenblick, davor und danach strahlte alles im Heldenglanz. Ob man wie Goethe Fürstenknecht oder wie Heidegger Bewunderer Hitlers war: sie waren Deutsche und also waren sie ehrenhaft, tiefsinnig und unvergleichlich. Und wenn ihr ein vorbildliches Leben haben wollt: nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis, das Leben möge gewesen sein, wie es war.

Noch immer kämpfen Helden gegen Krämer – und wenn sie selbst zu Oberkrämern geworden sind, die nur noch fuggern und exportieren können. Auch Helden müssen das ABC der Moderne beherrschen: die Wirtschaft ist unser Schicksal.

Was unterscheidet deutsche von amerikanischen Helden? Während Amerikas Erwählten-Traum zerplatzt ist und demokratisch dringend nachjustiert werden müsste, träumen die Deutschen unbeirrt den amerikanischen Traum – den sie in ihrem kollektiven Es schon immer für minderwertig hielten. Was Max und Marianne Weber mit Ernst Troeltsch im Jahre 1904 in Amerika erlebten, ist heutigen Deutschen im tiefsten Innern noch …

… immer nicht fremd, auch wenn sie sich noch so kapitalistisch gerieren:

„In der Tat nehmen die Freunde die kapitalistische Dynamik ringsum unterschiedlich wahr: Troeltsch und die kulturprotestantisch fromme Marianne sehen durch entfremdet arbeitende Massen den „unendlichen Wert jeder Menschenseele“ bedroht und leiden unter dem Schmutz, Lärm und Gestank in New York und Chicago, während Max sich für freien Markt, neue kapitalistische Fließbandproduktion und die kaum begrenzte Freiheit der Businessmen begeistert. Troeltsch fragt mit Sorge, wie sich die bunte „Sammlung der verschiedenen Völker“ auf Dauer werde integrieren lassen. Weber hingegen stürmt erlebnishungrig überall voran, weil er in allem sozialen Chaos primär die großen Chancen ethisch verantworteter freier „Lebensführung“ sieht.“ (FAZ.NET)

Auch Max Webers anfängliche Begeisterung hielt nicht lange an. Dennoch trat er dafür ein, den dynamischen way of life der Amerikaner zu übernehmen. Andernfalls liefen die Deutschen Gefahr, von der unbesiegbaren Wirtschaftswalze des neuen Kontinents überrollt zu werden.

Der Antiamerikanismus der Deutschen ist – trotz aller wirtschaftlicher Höchstleistungen – eine tief verdrängte Aversion gegen den angelsächsischen Lebensstil, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg nur an den rechten und linken Rändern der deutschen Gesellschaft bemerkbar machen durfte und nach dem Abklingen der sozialistischen 68-er-Bewegung in Jazz-, Hemingway- und Hollywood-Faszination umkippte. Bob Dylan ist für deutsche Ex-Revolutionäre eine größere Ikone, als Rudi Dutschke je eine war.

Die Deutschen nahmen nicht wahr, dass Amerika die gottähnlichen Schwärmereien ihrer Romantiker in Weltpolitik verwandelt hatten. Doch die Romantik hatte zwei Seiten. Dem Welterlösungs-Titanismus eines Fichte, der die Welt als bloßes Produkt des deutschen ICH phantasierte, stand eine scheue und poetische Bewunderung der unberührten Natur gegenüber, die allerdings nie wissen wollte, ob sie die irdische oder die überirdische Natur meinte. Der Garten der irdischen Natur sollte zugleich der wiedergewonnene Garten Eden sein.

Das kollektive amerikanische ICH setzt sich selbst und lässt sich von keiner Macht dieser Welt dreinreden, wie es sich setzen soll. Doch die scheue Bewunderung der Natur fehlt ihm völlig. Die erste Natur muss verschwinden, um einer zweiten, selbstgemachten Platz zu schaffen. Allmählich erst und nur in europa-kompatiblen Populationen kommt ökologisches Bewusstsein zutage. Mehrere Firmen haben Trump aufgefordert, den beginnenden ökologischen Trend nicht ins Gegenteil zu verkehren.

Obamas Summa seiner Regierungsepoche widerspricht sich in wichtigen Punkten. Er ist stolz auf seine Erfolge – und muss dennoch zugeben, dass die Nation mit Trumps Wahl auf das Gegenteil seiner Politprinzipien gesetzt hat. Trump, Inbegriff des weißen Herrenmenschen, ist eine schallende Ohrfeige für den Abkömmling schwarzer Afrikaner. Das muss eine außerordentliche Kränkung des noch amtierenden Präsidenten gewesen sein, die ihn zu unvereinbaren Aussagen über seine Amtszeit führte. Hier die Erfolge:

„Es geht ihm darum zu zeigen, dass sein Versprechen des Wandels in seiner Präsidentschaft auch tatsächlich eingehalten wurde. Also zählt er sie auf, die Erfolge: Den Kampf gegen die Finanzkrise und den Aufschwung am Arbeitsmarkt die Gesundheitsreform und die Ausschaltung Osama Bin Ladens. „Hätte ich euch das damals gesagt, ihr hättet mir wahrscheinlich vorgehalten, meine Ziele ein bisschen hoch zu setzen“, ruft er und es herrscht Stimmung wie auf einem Parteitag.“ (SPIEGEL.de)

Es geht ihm darum zu zeigen, dass sein Versprechen des Wandels in seiner Präsidentschaft auch tatsächlich eingehalten wurde.

Doch die Misserfolge, weswegen sein Antityp Trump gewählt wurde, sind weitaus gravierender:

„Die Ungleichheit wachse, die Chancengleichheit schrumpfe, die Polarisierung nehme zu, das Vertrauen in Institutionen nehme ab. „Zu viele Menschen fühlen sich abgehängt“, ruft er. Den Sorgen der vielen Bürger, die mit den Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte ihre Welt verloren hätten, müsse sich das Land eigentlich wieder stärker widmen. Nur sei den Amerikanern etwas Wesentliches abhanden gekommen: Die Fähigkeit, sich in den jeweils anderen hineinversetzen zu können. „Wir fühlen uns immer sicherer in unseren Blasen, dass wir – egal ob sie richtig oder falsch sind – nur noch jene Informationen akzeptieren, die zu unseren Meinungen passen“, kritisiert Obama.“

Den entscheidenden Widerspruch kann Obama nicht wahrnehmen. Wären seine Erfolge wirkliche Erfolge, hätte das demokratische Bewusstsein keinen Schaden nehmen dürfen. Er ähnelt einem Mediziner, der einem Todkranken die frohe Botschaft eines Lottogewinns mitteilt, gleichzeitig die betrübliche Nachricht seines baldigen Todes überbringen muss. Obama schwankt zwischen Prediger und Politiker. Die Defizite der Politik sollen mit privater Moral übertüncht werden.

Zwar ist alle Politik die Summe privater Verhaltensweisen. Eine Demokratie aber muss entscheiden, was der „Staat“ an sozialen Pflichten übernehmen muss, um die Meinungen der Privaten zu bündeln oder die Mängel privater Solidarität auszugleichen.

Der Staat ist nicht das Gegenteil der Privaten, sondern die gewählte Bündelung privater Entscheidungen. Die Regierung ist nichts als das instrumentelle Organ der Mehrheit der Citoyens. Jeder Steuerzahler, der das solidarische Programm einer Partei gewählt hat, will, dass der Staat mit Hilfe seiner Mittel dem Nachbarn in der Not hilft.

Für Christen, die ein gestörtes Verhältnis zur civitas terrena (zum irdischen Staat) haben, ist diese gesetzliche Hilfe kalt, mechanisch und abstoßend. Sie bevorzugen die persönliche Hilfestellung, die jede staatliche Fürsorge überflüssig macht. Ihre Hilfe zielt auf den Staat im Himmel, denn sie haben hier keine bleibende Polis, sondern die zukünftige suchen sie.

Superreiche Almosengeber würden den Staat am liebsten abschaffen. Sei es, weil sie von niemandem in ihrer wirtschaftlichen „Freiheit“ eingeschränkt werden wollen, sei es, weil sie die kalte und mechanische Fürsorglichkeit des Staates abschaffen wollen zugunsten der Willkür privater Nächstenliebe. Hätte der Almosengeber plötzlich keine Lust mehr, dem renitenten Nachbarn weiterhin Hilfe zu leisten, wäre das Objekt der Caritas von jetzt auf nachher verloren.

Warum empfinden Christen den Staat als kalten und abstoßenden Mechanismus? Weil er sich anheischig macht, der civitas dei Konkurrenz zu machen. Wären die Ungläubigen fähig, durch kollektive Absprachen – also durch demokratische Mehrheitsentscheidungen – den Schwachen ihrer Gesellschaft zu helfen, wäre ein überirdischer Staat oder eine Kirche völlig überflüssig. Der autonome Mensch wäre in der Lage, durch kollektiv abgesprochene Maßnahmen, die Probleme der Polis selbständig zu lösen.

Just dies war das Ziel der Demokratie, die in Athen durch Irrungen und Wirrungen, Kämpfe und Auseinandersetzungen hindurch lange Zeit so erfolgreich funktionierte, dass sie zum Urmodell aller zukünftigen Volksherrschaften wurde.

Die Kirche der Wiedergeborenen wollte diesen funktionierenden Staat der Heiden abschaffen zugunsten der Kirche, die das zukünftige Reich Gottes bereits hienieden repräsentierte. Die Tugenden der Heiden sollten als goldene Laster entlarvt und der Staat als – wenngleich notwendige – Räuberhorde diskriminiert werden. Die Gesunden sollten als kränker entlarvt werden als die Kranken, die einen überirdischen Arzt und Heiland benötigten.

In einer Demokratie kann der Staat kein kaltes Monstrum sein, denn er ist die Herzensangelegenheit aller BürgerInnen. Der Staat ist nicht das Werkzeug der BürgerInnen, nicht das Väterchen Staat, welches diese überflüssig machen könnte. In einer Demokratie kann sich niemand auf den Staat verlassen, auf den er seine eigene Verantwortung abwälzt. Denn der Staat ist – er selbst. L’etat, c‘est moi: der solitäre und despotische Satz Ludwigs XIVen, ist der Grundsatz jedes mündigen Demokraten. Würde er den Staat als seine ureigene Angelegenheit betrachten, könnte er ihn nicht länger als herzlos und kalt empfinden.

Zudem ist es jedem unbenommen, auch dem Schwachen gegenüber, der „Sozialknete“ (welche Verachtung aus diesem Begriff spricht!) empfängt, seine persönliche Anteilnahme und Fürsorglichkeit zu bekunden. Schon das Verhalten der staatlichen Beamten auf den Ämtern muss nicht unpersönlichen und kaltherzigen Automaten ähneln. Beamte sind Beauftragte der BürgerInnen, keine leblosen Instrumente eines Innen- oder Sozialministers.

Zeige mir das Verhalten staatlicher Beamten und ich sage dir, ob sie Volksherrschaft verstanden und verinnerlicht haben oder immer noch die Zahnräder und Kolbenstangen einer mechanischen Obrigkeit darstellen müssen.

Christliche Politiker wie Obama und Merkel verstehen den Staat als notwendiges Übel, das durch das Verhalten caritativer Untertanen erst erträglich wird. Der Philosoph Sloterdijk wollte alle Pflichtsteuern abschaffen zugunsten privater Klingelbeutel-Politik. Was Demokratie ist, kann er nicht verstanden haben.

Warum reden die Deutschen am liebsten von Staat? Weil auch sie Demokratie nicht verstanden haben und den absolutistischen, monarchischen oder faschistischen Staat für dasselbe Gebilde wie die Herrschaft des Volkes halten. Ist eine Demokratie zu einem Eisklotz denaturiert, ist dieser keine Demokratie mehr.

Obama glaubte, durch sein persönliches Charisma – unabhängig von seiner konkreten Politik – die Nation miteinander zu versöhnen und ihre Spaltungen zu überwinden. Nicht, dass es überhaupt keine Rolle spielte, ob die Gewählten sich als empathische Wesen zeigten oder nicht. Dennoch müssen die Wirkungen einer Regierung auf konkreten Taten beruhen und nicht auf pseudo-empathischen Propagandamaßnahmen. Die Nationalsozialisten verstanden es meisterhaft, ihre menschenvernichtende Politik mit Operettenfilmen und Rührstücken zu garnieren. Dass privates Verhalten wichtiger ist für ihn als seine ganze überprivate Regierungskunst, zeigt Obamas Satz, der in kitschiger Erbaulichkeit nicht mehr übertroffen werden kann:

„Da steht Barack Obama am Pult in Chicago, beißt sich auf die Lippe und wischt sich eine Träne aus dem Auge. „Bei allem, was ich in meinem Leben gemacht habe, bin ich am stolzesten darauf, euer Vater zu sein“, ruft Obama seinen Töchtern Malia und Sasha zu.“

Wunderbar, dass er ein guter Vater sein will. Wenn aber sein familiäres Vaterverhalten weitaus wichtiger sein soll als seine nationale Fürsorge, dann entlarvt er seine gestörte Beziehung zum Staat, den er tief innerlich noch immer als heidnische Erfindung ablehnt und die private Seligkeit seiner Lieben für wichtiger hält als das Wohlergehen eines ganzen Volkes.

Vor der ganzen Nation verkündet er seine moralische Rangskala: zuerst kommt das Familiäre, danach die Belange der ganzen Gesellschaft. Wer hört hier nicht das Wort des Herrn:

Was hülfe es, wenn ihr die ganze Welt gewönnet, nähmet aber Schaden an der Seele?

Weltgewinnen ist eine polemische Metapher für die Fähigkeit des Menschen, auf Erden human und verantwortlich miteinander umzugehen. Was aber ist solche irdische Mündigkeit, verglichen mit der Fähigkeit, die überirdische Seligkeit zu gewinnen? Der kluge Christ setzt alles auf jene Perle, mit der er den Himmel gewinnt und wenn er dabei sein ganzes irdisches Glück aufs Spiel setzte.

Am Schluss seiner Rede kommt der Höhepunkt seines predigenden Scheintrostes. Dem seelsorgerlichen Palliativverhalten seiner Kollegin Merkel vergleichbar, spendet er Trost, obgleich alle Welt weiß, dass er vor seinem Nachfolger mit eindringlichen Worten warnen sollte. Wider alle Vernunft endet er wie ein Kanzelprediger: Der Friede, der höher ist denn alle Unfriedfertigkeiten meines Nachfolgers, bewahre eure Herzen und Sinne. Im Original:

„Es ist kurz vor zehn Uhr, Obama ist am Ende seiner Rede angelangt. Eins möchte er seinen Leuten noch mitgeben: Er kommt als Mann der Hoffnung, er will gehen als Mann der Hoffnung. „Lasst uns wachsam sein. Aber nicht ängstlich“, ruft er. „Die Zukunft ist in guten Händen.“

Absurder kann die amerikanische Mixtur aus demokratischer Vernunft und christlichem Opium nicht sein. Zwar wissen alle, dass die nächste Epoche schlimm werden könnte, doch Obama spielt Christus, der dem im Wasser versinkenden Petrus die Hand reicht: „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und als sie ins Schiff gestiegen waren, legte sich der Wind.“

Der russische Zar war ein offizieller Cäsaropapist: Cäsar und Papst in Personalunion. Obama ist eine atmosphärische Mischfigur aus säkularem Regierungschef und spiritueller Vaterfigur. Trump wird dieselbe Rolle spielen. Sein Väterverhalten allerdings wird sich durch „unberechenbare Ehrlichkeit und Impertinenz“ auszeichnen. Ein polternder, aber authentischer Vater ist allemal wichtiger als ein Süßholzraspler, der seine Untertanen durch unaufrichtige Frömmelei in die Irre führt.

Auch der deutsche Heros, der als ehrliche Haut in Erinnerung der Deutschen bleiben wollte, zeichnete sich durch eine bajuwarisch-klare Sprache aus:

„Das Volk bewegt sich nicht. 90% tragen Bedenken, 10% Verantwortung. Die ganze Gesellschaft leidet an eingeschlafenen Füßen, die allerdings bis ans Gehirn führen. Durch Deutschland muß ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen, vor allen Dingen von den geistigen, von den Schubläden und Kästchen, in die wir gleich alles legen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen.“

Womit ausreichend deutlich ist, wen der Redner für wichtiger hält als das träge Volk: die elitären Verantwortungsträger. Wie ein Wiedergänger Hayeks will er die deutsche Wirtschaftsmaschine ankurbeln, um den Wettbewerb gegen alle Völker dieser Welt zu gewinnen. Mit seinem Slogan „Amerika zuerst“ meint Trump nichts anderes:

„Die Aufgaben, vor denen wir stehen, sind gewaltig. Die Menschen fühlen sich durch die Fülle der gleichzeitig notwendigen Veränderungen überlastet. Das ist verständlich, denn der Nachholbedarf an Reformen hat sich bei uns geradezu aufgestaut. Es wird Kraft und Anstrengung kosten, die Erneuerung voranzutreiben, und es ist bereits viel Zeit verloren gegangen. Niemand darf aber vergessen: In hochtechnisierten Gesellschaften ist permanente Innovation eine Daueraufgabe! Die Welt ist im Aufbruch, sie wartet nicht auf Deutschland.“ (Bundespräsident.de)

Wie Michelle Obama stolz ist auf ihr Land, dass ein schwarzer Einwanderer an die Spitze der Nation kommen konnte, so ist der präsidiale Redner auf Deutschland stolz. Nicht Merkel war die erste, die den Slogan prägte: wir schaffen es:

„Unsere Rechtsordnung, unsere soziale Marktwirtschaft haben sich andere Länder als „Modell Deutschland“ zum Vorbild genommen. Und vor allem: Überall in der Welt – nur nicht bei uns selbst – ist man überzeugt, dass „die Deutschen“ es schaffen werden.“

Wenn die Deutschen es schaffen, schaffen es dann die anderen Völker der Welt auch? Können es die Deutschen alleine schaffen, mitten in einem internationalen Chaos? Überstiegener kann nationaler Narzissmus nicht sein. Der Einzelne, das einzelne Volk kann alles schaffen. Kann es auch die Menschheit schaffen? Glauben die tüchtigen Wettbewerbsgewinner tatsächlich, die Welt wird freudig zuschauen, wenn Erwählte den Planeten erobern und alle anderen in den Staub treten werden?

Dieser nationale Egoismus-Appell wurde vor 20 Jahren gehalten, als die Deutschen noch vollständig vom amerikanischen Vorbild trunken waren:

„Warum sollte bei uns nicht möglich sein, was in Amerika und anderswo längst gelungen ist. Wir müssen jetzt an die Arbeit gehen. Ich rufe auf zu mehr Selbstverantwortung. Ich setze auf erneuerten Mut. Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.“

Da wird noch ein Bill Gates gerühmt, der in einer Garage begann und die Welt eroberte. Dass die Garagenmilliardäre mittlerweilen die ganze Welt überwachen und zu den reichsten und einflussreichsten Tycoons der Welt gehören, welche Gesetze anderer Nationen missachten, Demokratien für veraltet und verrottet halten, konnte der Lobredner Deutschlands damals nicht ahnen. So schnell vergeht der Ruhm der Welt.

Auf der einen Seite werden die Deutschen als die Besten der Welt in vieler Hinsicht gelobt, auf der anderen Seite zu sicherheitssüchtigen, trägen und pessimistischen Parasiten erklärt:

„Ich komme gerade aus Asien zurück. In vielen Ländern dort herrscht eine unglaubliche Dynamik. Staaten, die noch vor kurzem als Entwicklungsländer galten, werden sich innerhalb einer einzigen Generation in den Kreis der führenden Industriestaaten des 21. Jahrhunderts katapultieren. Kühne Zukunftsvisionen werden dort entworfen und umgesetzt, und sie beflügeln die Menschen zu immer neuen Leistungen. Was sehe ich dagegen in Deutschland? Hier herrscht ganz überwiegend Mutlosigkeit, Krisenszenarien werden gepflegt. Ein Gefühl der Lähmung liegt über unserer Gesellschaft. Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression – das sind die Stichworte der Krise“.

Wer ist schuld an der Misere? Diejenigen, die stets nach dem Staat rufen und selbst keine Verantwortung übernehmen wollen:

„Allzu oft wird versucht, dem Zwang zu Veränderungen auszuweichen, indem man einfach nach dem Staat ruft; dieser Ruf ist schon fast zum allgemeinen Reflex geworden. Je höher aber die Erwartungen an den Staat wachsen, desto leichter werden sie auch enttäuscht. Die Bürger überfordern den Staat, der Staat seinerseits überfordert die Bürger.“

Schuld sind dumme Bürger, die die hochkomplexen Probleme der Gegenwart nicht mehr verstehen. Dass Eliten die selbstproduzierten Probleme ebenfalls nicht verstehen, sodass in regelmäßigen Abständen die Völker in erschreckende Krisen stürzen – aus denen die Eliten am meisten Honig saugen: dazu kein einziges Wörtchen des Einser-Abiturienten und Musterkarrieristen:

„Die Welt um uns herum ist hochkompliziert geworden, der Bedarf an differenzierten Antworten wird infolgedessen immer größer. Aber gerade bei den Themen, die am heftigsten diskutiert werden, ist der Informationsstand des Bürgers erschreckend gering. Umfragen belegen, dass nur eine Minderheit weiß, um was es bei den großen Reformen derzeit eigentlich geht.“

Gestritten wird viel, doch zumeist über das Falsche. Wer bestimmt überhaupt unsere Gesellschaft? „Können unsere Eliten über die dogmatischen Schützengräben hinweg überhaupt noch Entscheidungen treffen? Wer bestimmt überhaupt noch den Gang der Gesellschaft: Diejenigen, die die demokratische Legitimation dazu haben, oder jene, denen es gelingt, die Öffentlichkeit für ihr Thema am besten zu mobilisieren? Ich vermisse bei unseren Eliten in Politik, Wirtschaft, Medien und gesellschaftlichen Gruppen die Fähigkeit und den Willen, das als richtig Erkannte auch durchzustehen. Es kann ja sein, dass einem einmal der Wind der öffentlichen Meinung ins Gesicht bläst. Unser Land befindet sich aber in einer Lage, in der wir es uns nicht mehr leisten können, immer nur den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.“

Nicht das Volk soll gestärkt werden – das wäre hoffnungslos –, sondern die Eliten, die zum barschen Führen ermuntert werden. Die unbeweglichen Volksherrschaften sollen sich in Oligarchien und Elitokratien verwandeln, um die Konkurrenz gegen die Welt zu gewinnen.

„Ich glaube sogar: In Zeiten existentieller Herausforderung wird nur der gewinnen, der wirklich zu führen bereit ist, dem es um Überzeugung geht und nicht um politische, wirtschaftliche oder mediale Macht – ihren Erhalt oder auch ihren Gewinn. Wir sollten die Vernunft- und Einsichtsfähigkeit der Bürger nicht unterschätzen. Wenn es um die großen Fragen geht, honorieren sie einen klaren Kurs. Unsere Eliten dürfen den notwendigen Reformen nicht hinterherlaufen, sie müssen an ihrer Spitze stehen! Eliten müssen sich durch Leistung, Entscheidungswillen und ihre Rolle als Vorbild rechtfertigen.“

Alle Schlagwörter des totalitären Fortschritts und ökonomischen Darwinismus werden heruntergehechelt. Da darf die Jugend nicht fehlen:

„Unsere Jugend ist das größte Kapital, das wir haben.“

Es besteht keine Scheu mehr, die Jugend als Investition in die Zukunft zu betrachten.

„Wie kommt es, dass die leistungsfähigsten Nationen in der Welt es schaffen, ihre Kinder die Schulen mit 17 und die Hochschulen mit 24 abschließen zu lassen? Es sind – wohlgemerkt – gerade diese Länder, die auf dem Weltmarkt der Bildung am attraktivsten sind. Warum soll nicht auch in Deutschland ein Abitur in zwölf Jahren zu machen sein? Für mich persönlich sind die Jahre, die unseren jungen Leuten bisher verloren gehen, gestohlene Lebenszeit.“

Nur Bildungsdrill, der mit Bildung nichts zu tun hat, ist wahres Leben. Andere Länder wie Singapur, die ihre Jugendlichen unbarmherzig zu kapitalistischen Nachwuchssoldaten trimmen, sollen zum Vorbild der deutschen Weicheier und Sicherheitsfanatiker werden. Opfer werden gefordert, damit die Nation zu den Siegern der Geschichte gehören möge. Hier enthüllt sich das Geheimnis des Fortschritts: er verlangt immer höhere Opfer, um die nächste Stufe des Fortschritts zu erklimmen – die erneut höhere Opfer verlangt, um den nächsten Schritt zum Orgasmus der Opfer zu tun: zum apokalyptischen Untergang.

Roman Herzog war der Inbegriff des zwangsbeglückenden, macht- und geldgierigen Fortschritts, der uns alle gegenwärtigen Probleme ins Haus liefert.

„Roman Herzog, der Mann, der mit seiner Rede die neoliberale Hatz gegen Schwache und sozial orientierte Menschen eröffnete, ist gestern im Alter von 82 Jahren gestorben. Er war ein freundlicher Mensch.“ (Jan Feddersen, TAZ)

 

Fortsetzung folgt.