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Weltdorf LI

Hello, Freunde des Weltdorfs LI,

nun erntet die Welt, was sie gesät hat. Und wir können sagen, wir sind dabei gewesen – und haben das Maul gehalten.

Nichts geschieht ohne Ursache, die Ursache des Menschen aber ist der Mensch. Weder materielle Verhältnisse, noch das Sein, weder Götter noch Teufel, weder die Evolution, noch die Geschichte. Die Philosophen haben die Welt sehr wohl verändert, es kömmt darauf an, wieder philosophisch zu werden, um die Macht der Mächtigen auszuhebeln. Nur der wahre Gedanke, der zur Tat wird, kann die Welt zur wahren Heimat des Menschen machen.

Der SPIEGEL hat 70-jähriges Jubiläum und meint es bitterernst:

„Es geht heute um Freiheit, Aufklärung, Demokratie, es geht wieder oder noch immer um alles.“ Denn in Amerika ist einer zum Präsidenten gewählt worden, der „seine eigene Wirklichkeit erzeugt und allen, die ihn seiner Lügen überführen, unterstellt, dass sie Lügner seien.“

Wenn es um alles geht, geht es um Wahrheit. „Lügner müssen Lügner genannt werden.“ Spiegel-Chef Brinkbäumer nennt das W-Wort nicht, obgleich sein Kampf gegen die Lüge ohne Wahrheit in der Luft hängt. Warum nennt er es nicht? Weil fast alle Medien seit Jahrzehnten die Wahrheit verachten und verhöhnen – auch der SPIEGEL. Kein Wörtchen der Selbstkritik ist bei ihm zu lesen. Wenn es keine Wahrheit gibt, kann es auch keine Lügen geben. Wenn alle recht haben, auch die Lügner, kann es keine Lügner geben.

Trump ist das Erzeugnis jener philosophischen Dekadenz, die alle Wahrheit abgeschafft hat. Sie nannte sich Postmoderne, jene Epoche, die der Moderne folgt und der Wärmetod aller Epochen sein wollte. Es gebe nur verschiedene Perspektiven und verschiedene Wahrheiten. Wer jemanden einen Lügner nennt, stellt sich über ihn und will Solo-Besitzer der Wahrheit sein. Als fanatischer Besserwisser muss er aus dem Chor der …

… nie-lügen-Könnenden ausgeschlossen werden.

Sind das keine Fakten? Wären wahrheitsbewusste Medien nicht verpflichtet, solche Fakten nicht unter den Teppich zu kehren? Brinkbäumer gibt sich philosophisch, indem er die Philosophie ignoriert – und die Geschichte, die Biografie des Menschen, in der sich alles entwickelte, was heute über uns kommt. Ursachenforschung gibt es in den Medien nicht. Über Nacht erschien etwas und kein Mensch weiß, woher es kam. Wie kann Brinkbäumer die Lügner wirksam bekämpfen, wenn er nicht weiß, auf welch giftigem Boden sie gewachsen sind? Trump hat die Postmoderne nicht erfunden.

„Die wahre Welt haben wir abgeschafft, welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“ Schrieb ein Pfarrersohn, der nicht nur Gott tötete, sondern auch die Wahrheit. Götter kann man töten, die Wahrheit aber nicht. Nur wer seine Wahrheit Gott nennt, muss beide hegen und pflegen, weil sie identisch sind. Auf Bezeichnungen kommt es nicht an.

Brinkbäumer legt Wert auf eine ungebrochene Haltung seines Magazins, von Rudolf Augsteins Zeiten bis heute. Gab es keine Gefährdungen, keine Irrwege, keine Abgründe? Hat der SPIEGEL nicht oft genug jene Mächte besungen, die die Freiheit des Menschen vernichteten? Nicht die Aufklärung verraten, indem er der Gegenaufklärung huldigte? Kann man für Freiheit sein, ohne die Unfreiheit zu bekämpfen? Für Aufklärung, ohne ihren Feinden Widerstand zu leisten?

Wer aber sind die Feinde der Aufklärung? Die Feinde der Freiheit? Wer derart blutleer und wahrnehmungslos daherschwadroniert, hat immer recht. Er kann an keinem Maßstab überprüft, widerlegt oder bestätigt werden. „Lügenpresse“– das hat sie bis ins Mark getroffen. Obgleich sie die wahre und die scheinbare Welt abgeschafft hatten. Sind sie Lügner wie Trump, den sie als Großmeister der Lüge bekämpfen?

Lüge kann nur definiert werden, wenn man Wahrheit definiert. Auf solch niederes philosophisches Gelände begeben sie sich nicht, die Verehrer der Fakten, die nicht wissen, dass ein Faktum noch keine Wahrheit ist. Fakten müssen verstanden und bewertet werden. Ohne philosophische Zusammenhänge geht das nicht. Was aber ist die Philosophie des SPIEGEL?

Die Aufklärung ist eine Wiedergeburt griechischer Philosophie, die allem fremdbestimmten Denken den Kampf ansagte. Nicht alle Religionen sind aufklärungsfeindlich. Aber bestimmt jene Erlöserreligionen, die alle eigenständigen Fähigkeiten des Menschen als Gotteslästerung betrachten.

Der junge Augstein schrieb ein kritisches Jesusbuch und attackierte regelmäßig den Klerus – bis er einknickte und Gott einen guten Mann sein ließ. War das gradliniges Denken oder ein bedauerlicher Selbstverrat?

Heute gibt es viele Heilsreligionen, die als Fortschritt, Macht und Zukunftsvergötterung daherkommen. Wie lange lag das Magazin vor Silicon Valley gläubig auf den Knien? Erst seit kurzem kann man kritischere Töne vernehmen. Dabei lautete das ursprüngliche Motto, vor keiner Autorität zu kuschen, nicht einmal einer befreundeten.

Man kann auch kuschen, indem man blind bewundert. Gibt es irgendein eitles Ranking, über das der SPIEGEL nicht berichtete, als sei es ein Urteil von Oben? Die Mächtigsten der Welt, die besten Universitäten, die Reichsten, die schönsten Wohnungen, die schwierigsten Tests: alles subjektive Beliebigkeiten, die sich objektiv geben? Jedes Ranking zementiert die Ungleichheit der Welt und rechtfertigt die Macht der Ungleichen. Die Bewunderung des Erfolgreichen und die Verachtung all jener, die im Schatten stehen: das ist eine einzige Kategorie.

Gewiss doch, die Loser erhalten gelegentlich eine Prise Mitleid. Schlimmer kann die Verachtung nicht sein. Meistens werden sie gar nicht erwähnt. Dann wundern sich die Schreiber, wenn sie Lügner genannt werden, weil sie nur über diejenigen berichten, die im Lichte stehen. Im Lichte der Medien. Die Bewunderung allein sorgt für die unüberbrückbare Trennung der Menschheit in Sieger und Vielzuviele.

Lügen setzt Bewusstsein des Lügens voraus. Davon kann bei den meisten Medien keine Rede sein. Sie schwimmen im Sog der Erfolgreichen und glauben sich unschuldig, wenn sie gelegentlich scheinkritische Äußerungen absondern. Da sie zumeist aus bürgerlichen Familien stammen, ist ihnen die Welt der Abgehängten unbekannt. Solange der Pöbel still hielt, konnte es ihm doch gar nicht schlecht gegangen sein. Ja, sie sind wirklich der Meinung, zwischen Oben und Unten vermittelt zu haben. Solange es ruhig war im Staate Dänemark – wo sollte sich die Unzufriedenheit versteckt haben?

Aus Jubiläumszwecken wollte Brinkbäumer auf Deutschlands Lieblingsphilosophen nicht verzichten. Dass Platon ein faschistischer Wahrheitsfanatiker war, fiel dem SPIEGEL-Chef nicht auf. Popper war ein Ereignis ohne Folgen.

Warum ist Platon der Lieblingsgrieche der Deutschen? Weil er dem Christentum am nächsten kam und deutsche Intellektuelle sich als jene Weisen fühlen, denen das Regiment im Staate zusteht. Irgendwie ist jeder Edelschreiber ein platonischer Weiser, der mit der lutherischen Obrigkeit zusammenfällt.

„Wenn ein demokratischer Staat in seinem Freiheitsdurst schlechte Mundschenken als Berater hat und sich an der ungemischten Freiheit über das Maß hinaus berauscht, dann bestraft er seine Beamten wenn sie nicht ganz nachgiebig sind und ihm alle Freiheit gewähren und beschuldigt sie verbrecherischer und oligarchischer Gesinnung.“

Mit anderen Worten: wenn das Volk zu viel Freiheit hat, wird es übermütig und setzt die Demokratie aufs Spiel.

„Denn ein Übermaß von Freiheit schlägt beim einzelnen wie beim Staat in ein Übermaß von Knechtschaft um. Und mit Recht entsteht somit, denke ich, die Tyrannis aus keiner anderen Verfassung als aus der Demokratie, aus der höchsten Freiheit die tiefste und härteste Knechtschaft.“

Brinkbäumer zitiert eine zentrale Stelle aus dem achten Buch der Politeia, die direkt in die faschistische Zwangsbeglückung mündet. Demokratie ist die schlechteste Staatsform, weil sie am ehesten in Tyrannis umschlägt. Weil das Volk bei übermäßiger Freiheit über die Stränge schlägt, muss es gezügelt werden. Schlechte Führer des Volkes sind dazu nicht fähig. Es gibt nur eine mögliche Schlussfolgerung:

Wenn nicht in den Staaten entweder die Philosophen Könige werden oder die, welche man jetzt Könige und Herrscher nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn nicht diese beiden, die politische Macht und die Philosophie, in eines zusammenfallen und all die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, zwingend ausgeschlossen werden, dann, mein lieber Glaukon, gibt es kein Ende der Übel für die Staaten und, wie ich meine, auch nicht für die Menschheit.

Durch eine Fehlleistung hat Brinkbäumer seine geheime Utopie entlarvt. Die Medien müssten die eigentlichen Führer der Demokratie sein. Nur sie wären in der Lage, den Pöbel an die Leine zu legen.

„Die besten Philosophen“, so der SPIEGEL-Chef, „sind gute Propheten.“ Pardon, gute Philosophen sind überhaupt keine Propheten. Sie analysieren, was ist und sagen, was sein sollte. Mundstücke eines allmächtigen Gottes der Heilsgeschichte sind sie mitnichten. Gute Philosophen sind Freunde der Gegenwart. Ihre Utopien dienen der Gestaltung des Hier und Jetzt.

Propheten sind fremdgeleitet. Philosophen aber sind Selbstdenker, die es ablehnen, sich in den Dienst höherer Mächte zu stellen. Wenn man wüsste, wie der Mensch beschaffen ist, wüsste man auch, wie die Zukunft sein wird – vorausgesetzt, der Mensch änderte sich nicht. Die Zukunft fällt immer aus, wie der Mensch seine Gegenwart gestaltet. Die Erkundung einer Zukunft an sich ist überflüssig und unmöglich. Wer den Menschen kennen würde, würde auch seine Zukunft kennen – vorausgesetzt, dieser würde sich nicht ändern. Oder seine Änderung wäre eine erkennbare Konstante seiner Entwicklung.

Wie kann einer der wichtigsten Journalisten des Landes eine derartige Fehlleistung vollbringen? Hat der SPIEGEL nicht eine große Fakten-Überprüfungs-Redaktion? Besteht deren Aufgabe nicht auch darin, Textdeutungen zu überprüfen? Die wichtigsten Meinungen über Platon miteinander zu konfrontieren und die überzeugendste Lösung zu suchen? Sind Texte und deren Deutungen keine Fakten, die objektiv zu würdigen wären? Oder werden inzwischen auch Philosophen so willkürlich gedeutet wie Theologen ihre Heiligen Schriften nach Lust und Zeitgeist deuten?

Faktenpräzision ist wichtig, noch wichtiger wäre präzises Denken und Verständnis der Gegenwart aus der Kenntnis der Vergangenheit. Doch Ursachenerforschung ist so spurlos verschwunden wie die gesamte Vergangenheit.

Vergangenheit ist die Mutter der Gegenwart. Wie Mütter verachtet werden, wird Vergangenheit ausradiert. Das Prinzip Zukunft ist das männliche Prinzip. Das Mütterliche ist das Alte, das negiert werden muss. Das Neue ist das unberechenbare Ergebnis männlichen Hasardierens. „Wie der Mann im allgemeinen dazu neigt, das Weib zu verachten, aus dem er doch hervorgegangen ist, so verachtet die handelnde Zeit die hinter ihr liegenende Zeit.“ (Ricarda Huch, Die Romantik)

Mütter müssen berechenbar zuverlässig sein, sonst bringen sie das Leben ihrer Kinder in Gefahr. Männer verachten das monoton Zuverlässige. Sie lieben das unkalkulierbar Gefährliche und Unüberschaubare. Das solide Überleben der Gattung ist ihnen nichts, das Riskante und Unübersichtliche ist der Kick, ohne den sie nicht leben können. Sie pokern und zocken mit dem Leben der Gattung.

In seinem Artikel „Die Große Illusion“ (leider auch nicht online) beschreibt U. Fichtner den Konflikt zwischen Eliten und Pöbel. Das Internet wird bei ihm zum Medium des Hasses des Pöbels gegen die Eliten. „So viel Argwohn, so viel Hass gegen die Macht und die Mächtigen war nach dem Krieg kaum.“

Nach dem Krieg war das Volk noch ein arisches Untertanenvolk, gedrillt auf blinden Gehorsam. Nun hat es dazugelernt und ist in der Lage, die Herrschenden unter die Lupe zu nehmen. Die Unflätigkeiten sind das Ergebnis einer unausgereiften Emanzipation. Sie trauen sich, ihre geballte Inkompetenz zur Schau zu stellen. Das Volk hat sich nicht selbst geprägt. Seine Vor- und Nachteile sind das Ergebnis einer jahrhundertealten Erziehung und Unterdrückung seitens der Mächtigen. Die Eliten bestimmen seit Erfindung der männlichen Hochkultur die Schwachen und Einfältigen. Die negativen Elemente ihrer Machtpolitik projizieren sie auf die Kleinen, die nicht fähig seien, die Verdienste der Führer zu verstehen und zu würdigen.

Bei Fichtner gibt es nur Argwohn der Unteren gegen die Oberen. Die Eliten scheinen bei ihm perfekt. Wie oft haben sie die Menschheit in den Abgrund geführt! Auch die jetzige Krise ist nicht das Produkt pöbelhafter Ressentiments, sondern Früchte elitären Versagens. „Es wird pauschal gegen Eliten und alles Elitäre randaliert, Kompetenz wirkt verdächtig, Erfahrung gilt als Nachteil, Bildung als anrüchig.“

Das ist Bullshit. Die Krise beweist, dass es keine Kompetenz gibt, die in der Lage wäre, Krisen zu vermeiden. Im Gegenteil, Krisen scheinen willkommen zu sein als Läuterungsmittel gegen Routine und Monotonie. Krisen sind keine unvermeidlichen Folgen von Naturgesetzen, sondern hausgemachte Faktoren. Von welcher Erfahrung ist die Rede, wenn diese unfähig ist, die nächste Krise zu vermeiden? Eliten haben vor allem Erfahrung in Angelegenheiten der Selbstbereicherung und des Machtrausches.

Bildung – als Erkenntnis unserer Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen, gibt es überhaupt nicht. Was es gibt, ist Machtwissen, aber keine Bildung als Voraussetzung von Lebenskunst.

Fichtner zitiert einen Holländer, der der Wissenschaft den Vorwurf macht, sie sei gescheitert mit ihrem Versprechen, „an die Stelle von Religion und Aberglauben eine auf Vernunft und Überprüfbarkeit gebaute Welt zu setzen. Gelungen sei ihr nur, die Macht der Religionen nach und nach zu unterminieren – aber die entstandene Sinnlücke habe sie keineswegs füllen können, im Gegenteil.“

Wissenschaft ist keine Philosophie. Sie durchdenkt nicht das Menschliche in seinen Zusammenhängen, um dem Menschen seine Stellung in der Natur zu verdeutlichen. Sie betrachtet nur selektive Aspekte der Natur. Über das Humane haben Einzelwissenschaften nichts zu sagen, besonders, wenn sie sich in den Dienst politischer Mächte stellen, die in ihrer Struktur religiös geblieben und auf Glaubensbekenntnisse nicht angewiesen sind. Wir alle sind religiös, wenn wir durch Taten apokalyptische Politik betreiben, auch wenn wir bewusste Glaubensbekenntnisse nicht mehr ablegen können.

Es sind – von der Politik gehätschelte – religiöse Mächte, die es nicht zulassen, dass der Mensch autonom in sich ruht. Keine öffentliche Trauerfeier ohne ökumenischen Gottesdienst. Die Eliten selbst sind religiös – oder tun, als ob sie es wären. Wo hätte der Mensch lernen können, ohne den himmlischen Vater auszukommen, wenn er in allen Lebenslagen mit Religion zugeschüttet wird?

Es herrscht kein Vakuum bei denen, die sich von Gott losreißen wollen, sondern noch immer die jahrtausendelang eingebläute Furcht vor ewigen Höllenstrafen, die die Menschen davon abhalten, sich in allen Dingen von Gott zu lösen. Nicht mal die Wissenschaft ist wissenschaftlich, wenn sie als Zweck ihres Tuns die Suche nach Gott angibt.

Die Naturwissenschaft besteht aus unverbundenen Sensationen. Was diese mit unserem Leben zu tun haben, weiß kein Wissenschaftler zu sagen. In Amerika, dem Land der mächtigsten Zukunftstechnologie, ist der unvernünftige Creationismus am stärksten. Die angewandte Wissenschaft ist Teil der nationalen Machtentfaltung geworden, mit staunendem Erkennen und Verstehen der Natur hat sie nichts mehr zu tun.

Vor kurzem noch wurde Silicon Valley im SPIEGEL wie das Goldene Jerusalem verherrlicht. Inzwischen hat Thomas Schultz einige kritische Bemerkungen eingeflochten – ohne das Ganze stringent zu durchdenken. Was ist die Zukunft des Digitalen? „Der denkende Pullover, der kluge Kühlschrank, der Joghurt, der mitteilt, ob er noch frisch ist.“

Wer hier nicht zu lachen beginnt, dem ist das Lachen im Halse stecken geblieben. Was will die neue Technologie? „Das Alte zerstören, so sicher, dass das Neue automatisch immer besser wird. Doch gezeigt hat sich nur: die großen Futuristen haben keine Ahnung, welche Zukunft sie genau erfinden.“

Der Unsinn ist so augenscheinlich, dass man nur noch verstummen kann. Das Dogma der Zunft lautet: „Fortschritt ist gut, immer. Seine Vorteile überwiegen unter dem Strich immer die Nachteile. Ständiger Wechsel ist deswegen das Ziel. Je größer das Tempo, desto besser.“

Von ökologischen Schäden der Heilstechnologie ist so gut wie keine Rede. Die fortschreitende Maschinisierung dreht der Natur allmählich die Luft ab, doch in Silicon Valley scheint das kein Problem. „Bislang ist die Welt durch Fortschritt doch immer ein Stück besser geworden, mit weniger Armut, mit weniger Menschen, die in Kriegen sterben.“

Manches in der Welt ist besser geworden, aber nicht durch technischen, sondern durch politisch-moralischen Fortschritt. Vor allem ist die Freiheit verloren gegangen, sein Leben so zu leben wie man es für richtig hält. Wer sich dem Diktat des Fortschritts nicht beugt, wird überfahren. Eingeborenenstämme, die im Einklang mit der Natur leben, werden gnadenlos ausgelöscht. Die autarke Tier- und Pflanzenwelt wird erbarmungslos ausgerottet.

Die Futuristen selbst geben zu, nicht zu wissen, wohin sie steuern. Es ist eine Fahrt ins Unbekannte: „Das Internet ist das erste Ding, das die Menschheit sich gebaut hat, das sie aber nicht versteht, das größte anarchische Experiment der Geschichte.“

Ein Experiment, das man nicht versteht, ist kein Experiment, sondern ein Balancieren über den Abgrund, ohne zu wissen, ob man ankommen wird. Es ist ein Blindflug – oder ein religiöser Akt, sich mit geschlossenen Augen in die Hände Gottes stürzen. Ich glaube, obgleich es absurd ist. Je aussichtsloser, umso gläubiger werde ich.

Nicht mal die Theorie verstehen sie, der sie sich blind anvertrauen: „Immer öfter geht es um physikalische Grundsatzfragen, die kaum noch ganz nachzuvollziehen sind. Deswegen ist es so schwer, die Zukunft der Informatik, den Weg der Digitalisierung vorherzusagen.“ Je dunkler die Aussichten, umso mehr Endorphine darf die Menschheit ausschütten. Der Kitzel machts: kommen wir noch mal davon oder erleben wir das große Happy End mit Messias? Gottlob gehören wir zu den Lieblingen Gottes, uns kann nichts passieren.

Die Matadore des allmächtigen Algorithmus müssen Meisterdenker sein: „Das Internet ist eine Technologie der Freiheit, von zutiefst demokratischer Natur.“ Und das sagen die Zwangsbeglücker der Erde, die von Demokratie nichts halten und eigene Staaten gründen wollen, in denen allein der Wille der Techno-Weisen gilt. Man könnte auch von totalitären Alpträumen sprechen.

Und wozu das Ganze? Zur Erschaffung einer Welt „ohne Plackerei und voller Wohlstand.“ Das wäre Faulheit in ruinösem Luxus, das genaue Horrorgemälde für die hektischen Beschleuniger. Sie wollen ein Ziel erreichen, das sie in ihrem eigenen Leben verabscheuen. Menschlich unausgereifte Burschen mit technischer Spezialbegabung machen sich anheischig, das Schicksal der Gattung in eigenmächtiger Allmacht zu bestimmen. Müsste man sie nicht in Ketten legen und in Den Haag wegen globalen Faschismus anklagen?

Das neue Jahr begann, wie das alte endete. Mit religiöser Bewunderung digitaler Pioniere – ohne eine einzige kritische Anmerkung. Da kann man Sätze lesen wie den folgenden:

„Schmidhuber spricht über die KIs, die er sich für die Zukunft vorstellt, wie über eine faszinierende, fremde Spezies, die sich für die Menschheit interessieren wird wie heute menschliche Wissenschaftler Insektenstaaten erforschen. Angst macht ihm das nicht. Er meint, es gebe weiter viel mehr Grund, sich vor anderen Menschen zu fürchten.“

Der normale Mensch wird dämonisiert, damit der künstliche Mensch der Zukunft human erscheinen kann. Das Geschöpf der Natur ist minderwertig im Vergleich mit dem Geschöpf des Menschen. Wer so in seine eigenen Creationen verliebt ist, muss genial sein: „Der KI-Forscher ist ein Mann, der mit leiser Stimme schnell spricht und sich in Sekundenschnelle von einem Gedanken zum anderen weiterhangeln kann, einer, dem zu jedem Thema noch ein angrenzender Aspekt einfällt.“ (SPIEGEL.de)

Das ist bereits Engel- und Götterverehrung im SPIEGEL, der angeblich für Aufklärung eintritt. Warum merkt man das so selten? Und warum kann der SPIEGEL zwischen Vernunft und magischem Illusionismus nicht unterscheiden? Die Roboter sind schon so weit, dass Paare sich getrost trennen und dennoch miteinander intim sein können. Zumindest in der Propaganda der Hersteller:

„Man steckt sein Smartphone in einen Aufsatz und knutscht ein darin integriertes Silikonpad. Die Sensoren darunter übersetzen den Kuss in Einsen und Nullen und übertragen ihn an den oder die glückliche Empfänger_in, dessen/deren Lippen ebenfalls auf den „Kissenger“ gepresst sind. Die Selfie-Kamera des Telefons hält indes das Gesicht der küssenden Person fotografisch fest.“ (TAZ.de)

Menschliche Beziehungen kann der Kapitalismus immer weniger zulassen. Also müssen Maschinen erfunden werden, um den unmenschlichen Kapitalismus dennoch zu ermöglichen.

Die Einheitsübersetzung der Bibel war die Einheitslüge der Großkirchen, um jedem Aspiranten die heiligen Aspekte zu bieten, die er sich zu Weihnachten schon immer gewünscht hat. Das fromme Lügen geht in unverminderter Dreistigkeit weiter:

„Martin Luther begriff beim Lesen der Bibel, dass wir vor Gott keine Angst haben müssen. Gott hat uns den Sinn unseres Lebens schon längst zugesagt, selbst wenn wir Fehler machen oder scheitern.“ (BILD.de)

Wie war das Gottesbild Luthers wirklich – und warum schreibt der SPIEGEL keine Philippika gegen das Lügenduo Kässmann-BILD? Ist das Magazin nicht der Aufklärung verpflichtet?

Das Gottesbild Luthers – übrigens auch das Calvins – ,von dem die Gläubigen nichts wissen, möglichst nichts erfahren sollen, ist in der Tat monströs, ungeheuerlich, zutiefst erschreckend, erschütternd und abstoßend, unmenschlich, irrational und absurd. Gott sei „schrecklicher und greulicher denn der Teufel. Denn er handelt und geht mit uns um mit Gewalt, plagt und martert uns und achtet unser nicht.“ (2) „In der Majestät ist er ein verzehrendes Feuer.“ (3) Wenn ein Mensch „recht an Gott gedenket, so erschrickt ihm das Herz im Leibe und liefe wohl zur Welt aus.“ (4) Gott hat nach Luther eine geradezu sadistische Lust am Schmerzzufügen: „Er schlingt einen hinein und hat solche Lust daran, dass er aus seinem Eifer und Zorn dazu getrieben wird, die Bösen zu verzehren. Fängt das einmal an, dann hört er nicht mehr auf.“ (5) „Dann werden wirs lernen, wie Gott ein verzehrend Feuer sei, das da allemache und eifere zu beiden Seiten.“ (6) „Das ist denn das verzehrend fressige Feuer.“ (7) „Und wirst du sündigen, so wird er dich auffressen.“ (8) „Denn Gott ist ein Feuer, das verzehret, frisset und eifert, das ist, er bringt euch um wie das Feuer ein Haus verzehrt, zu Asche und Staub macht.“(9) Das Schreckliche, Wütende in Gott falle den Menschen an, als wäre Gott der Teufel selber. Er, Luther, sei „nicht nur einmal bis auf Todesgefahr davon angefochten worden (…) Lehren soll man zwar von Gottes unausforschlichem und unbegreiflichem Willen; aber sich unterstehen, denselben zu begreifen, das ist sehr gefährlich und man bricht sich dabei den Hals.“ (LinkeZeitung.de)

BILD & Kässmann ist keine Lügenpresse mehr, das ist propaganda fidei. Die Werbung für den Glauben durfte schon immer zu heiligen Lügen greifen. Wars doch für einen guten Zweck.

Wie begann das neue Jahr? Wie es endete: mit Frauenverachtung und einem erbarmungslosen Krieg gegen Kinder, die zu Arbeitssklaven des Kapitalismus gezüchtet werden. Singapur hat im PISA-Test am besten abgeschnitten. Warum? Weil schon die Kita-Kinder im Akkord den ganzen Tag lang pauken müssen:

„Die australische Soziologin Amanda Wise von der Macquarie Universität in Sydney leuchtet in ihrer Forschung die Schattenseite der schulischen Erfolge der jungen Singapurer aus. „Ihnen wird die Kindheit genommen. Freies Spiel, Freundschaften, Zeit für die Familie und zum Ausruhen kommen viel zu kurz.“ Schon kleinste Kinder erlebten großen Stress, sagt Wise. Das hat seinen Preis: Singapurer Wissenschaftler veröffentlichten 2015 eine Studie, wonach Schulstress die Hauptursache für psychische Probleme und Selbstmord von Kindern und Jugendlichen im Land sei.“ (SPIEGEL.de)

Zuerst werden die Ergebnisse des PISA-Tests kommentarlos in den Medien wiedergegeben, als seien die deutschen Kinder geistig minderbemittelt. In langem Zeitabstand erscheint endlich ein kritischer Bericht über die Kinderschändung in Singapur.

Wie eigenartig und grauenhaft, dass solche Artikel in Deutschland keinen einzigen Reflex auslösen. Mit Kindern kann man’s ja machen. Ohnehin werden sie bald überflüssig sein, wenn digitale Genies ihre technischen Kinderlein der staunenden Welt vorführen werden.

Warum kann sich Trump alle Schweinigeleien dieser Welt gegen Frauen erlauben? Weil Männer & Maschinen Frauen und Kinder für überflüssig halten.

 

Fortsetzung folgt.