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Was ist Antisemitismus – Zu Moshe Zimmermann

Was ist Antisemitismus?

 

Bei der Frage nach der Definition von Antisemitismus findet man von Moshe Zimmermann: „Die neue Auflage des Antisemitenkatechismus“ in seinem Buch: „Goliaths Falle“.

 

Im Folgenden zuerst der Text von Moshe Zimmermann, seine Fragen und Antworten, danach Thesen dazu vom Sokratischen Marktplatz.

 

 

Gebrauchsanweisungen für Israel-Kritiker -Oder:

Die neue Auflage des Antisemitenkatechismus

Moshe Zimmermann – 24. Mai 2002 (Süddeutsche Zeitung)

Zwei Fragen machen viele Deutsche ratlos: Wird ihr Land tatsächlich von einer Flut des Antisemitismus überschwemmt? Dürfen wir uns über Israel nicht kritisch äußern, weil uns dann automatisch Antisemitismus vorzuwerfen ist? Schüchtern wird nach einer klaren Grenze zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus gesucht, nach einem eindeutigen Warnsignal bei Grenzüberschreitungen. Als Antisemitismusforscher und Israel-Kenner zugleich stelle ich den folgenden Katechismus zur Verfügung.

F. Was ist eigentlich Antisemitismus?
A. Ein Begriff, der im Jahre 1879 von einem Deutschen erfunden wurde, um den nicht mehr salonfähigen Begriff „Judenfeindschaft“ oder „Judenfresser“ zu ersetzen. Antisemit ist einer, der aufgrund eines Vorurteils „die“ Juden – als vermeintliche Rasse, Nation, Religionsgemeinschaft oder soziale Gruppe – pauschal negativ bewertet und daraus im relevanten Fall auch soziale oder politische Konsequenzen zieht.

F. Kann ein Araber Antisemit sein?
A. Ja. Es gibt ja keine semitischen Völker. Mit dem Begriff „Antisemit“ wollte man von Anfang an nur Juden angreifen. Ein arabischer bzw. muslimischer Antisemitismus ist also nicht ausgeschlossen.

F. Was kann einen Araber zum Antisemitismus bringen?
A. In der muslimischen Tradition gibt es zwar ansatzweise auch eine pejorative Haltung gegenüber Juden. Doch erst seit Beginn des arabisch-zionistischen Konflikts bedienten sich Araber im Nahen Osten der vorrangig aus Europa importierten antisemitischen Argumente und Bilder, quasi als Schützenhilfe im neuen, akuten Kampf. Dieser arabische Antisemitismus hat den paradoxen Weg zurück nach Europa gefunden, wo heute beträchtliche arabische Minderheiten leben. Angriffe in Wort und Tat gegen Juden, die aus diesen Kreisen kommen – man macht „die“ Juden für israelische Taten und Untaten verantwortlich —, stehen gegenwärtig im Mittelpunkt des Antisemitismus in Europa.

F. Was erklärt diese gegenwärtige Welle des Antisemitismus?
A. Die aktuelle Situation im Nahen Osten. Die Reaktion auf Israels Verhalten während der Intifada verwandelt die ursprünglich antiisraelische Haltung in einen Antisemitismus. Ein Anschlag auf eine Synagoge – in Frankreich oder in Tunesien – ist ein antisemitischer Akt, auch wenn sich dahinter eine trotzige Reaktion auf die israelische Politik verbirgt. Die Zahl solcher Angriffe seit Oktober 2000 spricht eine deutliche Sprache.

F. Gilt diese Regel nicht auch für „autochthone“ Europäer?
A. Gewiß. Die antisemitische Tradition hat sich zwar in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa abgeschwächt, aber der Konflikt im Nahen Osten (und besonders die zweite Intifada) dient als Ansporn und Rechtfertigung auch für „autochthone“ Europäer, ihre antisemitischen Vorurteile im neuen Zusammenhang zu reaktivieren. Wer die Sympathien von Antisemiten für sich gewinnen will oder sich auf Stimmenfang antisemitischer Wähler im politischen Wahlkampf befindet, der kann es entweder über die Verwendung des antisemitischen Diskurses tun oder Menschen aus der nicht „autochthonen“ Gruppe unterstützen, die antisemitische Narrative und Bilder verwenden. Wer das tut, ist selbst Antisemit oder Mitläufer. Dafür muß man kein Rechtsradikaler von heute oder ein „neuer Linker“ von vor 30 Jahren sein.

F. Gibt es dann keine Kritik an israelischer Politik, ja keine Kritik an Israel, die nicht automatisch als Antisemitismus zu werten ist?
A. Jede ehrliche Kritik, die auf Sachkenntnissen beruht, ohne von judenfeindlichen Stereotypen und Pauschalisierungen Gebrauch zu machen oder latente antisemitische Sentimente heraufbeschwören zu wollen, ist nicht, kann nicht antisemitisch sein und ist deshalb legitim. Nicht nur, wenn sie in Israel zum Ausdruck kommt, sondern auch in Europa, ja sogar in Deutschland.

F. Es ist verhältnismäßig einfach, den „klassischen“ Antisemiten zu entlarven: Er denkt noch immer, daß man Juden vergasen darf, oder zumindest „loswerden“ muß, leugnet im selben Atemzug Auschwitz, spricht offen von einer „jüdischen Weltverschwörung“ oder von jüdischer Geldgier, will dazu keine Juden in seiner Nachbarschaft oder im Klub haben. Woran erkennt man jedoch den Antisemiten-Wolf im Israel-Kritiker-Schafspelz?
A. Eben an den Assoziationen, die der Kritiker heraufbeschwört, an den von ihm gewählten Angriffszielen und nicht zuletzt an seiner eigentlichen Absicht. Erstens geht es um die Assoziationswelt des Israel-Kritikers. Die Sprache ist ja die Mutter aller Assoziationen: Wird Shylok, Judas oder Der Stürmer im Zusammenhang mit dem Thema Israel erwähnt, wird von Deutschen vs. Juden gesprochen, wird hinter dem deutschen Juden der Auslandisraeli vermutet, wird von „Auge um Auge“-Mentalität gesprochen, werden der stereotype „reiche Jude“, der „Kosmopolit“ oder das „Weltjudentum“ in die Diskussion hineingezogen, kommt in der Karikatur die „jüdische“ Nase oder der Hinweis auf Ritualmord zum Vorschein – dann befindet man sich bereits im Bereich des Antisemitismus, weit über die legitime Sharon- oder Israel-Kritik hinaus.

Zweitens geht es um die Gruppe, gegen die die Kritik geäußert wird: Wenn es sich nicht um den spezifischen Politiker (israelischen oder auch deutschen) oder um die spezifische Organisation (auch wenn sie „Jüdischer Weltkongreß“ heißt) handelt, sondern um den vermeintlichen Vertreter „des“ Judentums oder „der“ Juden, wenn nicht an israelische, sondern an jüdische Charakteristiken gedacht wird, sind wir bereits beim Antisemitismus angelangt.

Und drittens, vielleicht noch wichtiger: Auf die Absicht kommt es an. Ein und derselbe Satz oder Ausdruck können unterschiedliche Intentionen haben. Sogar Vergleiche mit dem Nationalsozialismus erhalten so eine unterschiedliche Bedeutung: Ein Vergleich kann auf die Unterschiede abzielen, er kann einer Mahnung dienen, er kann aber auch eine Verharmlosung oder Relativierung des Nationalsozialismus beabsichtigen oder die Delegitimierung des Judentums. Ob es sich um eine antisemitische Absicht eines Israel-Kritikers handelt, kann man meist nur indirekt erfahren, wenn man die Denkweise des Kritikers oder die Adressaten dieser Vergleiche und historischen Anspielungen kennt. Die vor etwa 15 Jahren gefallenen Äußerungen des Historikers Ernst Nolte bieten dafür ein typisches Beispiel. In der Regel braucht der Beobachter jedoch viel Fingerspitzengefühl.

F. Können Juden nicht selbst Antisemitismus schüren?
A. Nein. Aber auch Juden können dazu beitragen, daß latente Antisemiten sich outen. Ohne das bereits vorhandene antisemitische Vorurteil hätte das Wort oder die Tat eines Juden nicht die auf Juden bezogene Reaktion heraufbeschworen. Wenn zum Beispiel jemand sowohl jüdisch als auch proisraelisch, Parteimitglied, Medienmensch etc. ist und gerade wegen seines Jüdischseins angegriffen wird, ist wahrscheinlich Antisemitismus im Spiel.

F. Ist der Aufschrei „Wolf, Wolf, Antisemitismus!“ unter Juden nicht oft übertrieben?
A. Heute ist Auschwitz aus den Köpfen nicht mehr wegzudenken. Auschwitz macht viele Juden zu Paranoiden.

F. Erklärt das auch die israelische Überreaktion beim eigentlichen oder vermeintlichen Antisemitismus?
A. Nur teilweise. Für die israelische Politik der letzten 25 Jahre gilt jeder Hinweis auf Antisemitismus, gleich, ob im Nahen Osten oder in Europa, als Bestätigung der im Zionismus verbreiteten Vermutung, daß der Antisemitismus ubiquitär und ewig ist und Israel deshalb vom Nachdenken über seine Ideologie und Politik- gegenüber Palästinensern, israelischen Arabern, linken „Verrätern“ etc. – freigestellt sei. Versteht man die Welt so, ist in den eigenen Augen alles, was Israel tut, legitim, quasi um einem neuen Auschwitz vorzubeugen. (Auch der Mossad schuf die absurde Abteilung zur Abwehr des Antisemitismus.) Kurz: Der gegenwärtige Antisemitismus dient just der israelischen Politik, die ehrliche Israel-Kritiker verurteilen.

 

Thesen vom Sokratischen Marktplatz

zu Moshe Zimmermanns „Die neue Auflage des Antisemitenkatechismus“

Der Begriff Antisemitismus von Wilhelm Marr sollte wissenschaftlich kühl klingen. Aber er ist ein Rückschritt, verglichen mit den früheren Begriffen „Judenfeindschaft“ oder „Judenfresser“. Was Feindschaft ist, weiß jeder, dass Juden oder Araber Semiten sind, oder nicht, weiß niemand.

Antisemit ist einer, der aufgrund eines Vorurteils „die“ Juden pauschal negativ bewertet.

Welchen Vorurteils? Der Begriff Vorurteil ist selbst ein Vorurteil und nicht sonderlich hilfreich. Ob ich jemanden aus Vorurteil oder aus Urteil hasse, ist belanglos. Wichtig ist, warum hasse ich ihn? Und was folgt daraus für meine Handlungen? Ein Mann, der seine Frau im Affekt schlägt, handelt aufgrund von Erfahrungen, die nicht falsch sein müssen, auch wenn seine Handlung falsch ist. Das Falsche liegt nicht in der Einschätzung der anderen Person, sondern in der Bewertung der Einschätzung.

Als Therapeuten haben wir die Erfahrung gemacht, dass das Problem bei Paar-Therapien darin besteht, die vertrackte Mischung aus „richtigen“ und „falschen“ Wahrnehmungen aufzulösen und die Genese der subjektiven Bewertungen zu entschlüsseln. Wenn ich Hitler hasse, weil er ein Massenmörder ist, dann liege ich nicht falsch und habe kein Vorurteil, dennoch hasse ich ihn. Die Fokussierung auf Vorurteile und Klischees ist in eine Sackgasse geraten.

Natürlich gibt es „den“ Juden nicht, aber es gibt sehr wohl jüdische Stereotype, wie es deutsche, französische und andere Stereotype gibt. Die können negativ oder positiv sein. Juden sind auch sehr stolz auf ihre „nationalen“ Eigenschaften, als da sind: ihre Intelligenz, Weltläufigkeit, Zähigkeit, Leidensfähigkeit, ihre in der Diaspora erlernte Fähigkeit, friedlich unter anderen Völkern zu leben, gleichwohl ihre eigene Identität nicht aufzugeben etc.

Übrigens erleben wir hier gelegentlich einen Doppelstandard: als wir neulich gegenüber einem deutschen Juden Kritik an Israel übten, fragte er uns, welche Kritik wir an „den“ Juden hätten. An welchen Juden, wenn es denn „die“ Juden gar nicht gibt? Das Thema ist in Deutschland immer noch so brenzlig, dass man selbst von Deutschen verdächtig angeguckt wird, wenn man über das jüdische Thema reden will oder den Begriff „Juden“ benutzt.

Wie stark ist der muslimische Faktor Antisemitismus?

Das ist schwer zu beantworten. In früheren Zeiten pflegten Juden vor europäischen Progromen regelmäßig in muslimische Länder zu flüchten. Dort waren sie zwar nicht gleichberechtigt, aber sicher. Christen und Juden gehören für Muslime zu den Buchreligionen und werden vom Koran nicht als Feinde betrachtet.

Den gegenwärtigen Hass der Muslime auf Israel halten wir deshalb für ein Produkt der momentanen politischen Spannungen zwischen Israel und den arabischen Staaten. Israel wird als westlicher Staat empfunden (die demokratische Villa im Dschungel), den Westen insgesamt empfinden die Araber als doppelzüngig und heuchlerisch. Beispiel Atomwaffen: die westlichen Staaten und Israel dürfen Atomwaffen haben, der Iran darf keine haben. Das kann niemand verstehen, das kann nicht vermittelt werden.

Wie unterscheidet sich „ehrliche“ Kritik an Israel von „antisemitischer“ Kritik?  Eine ehrliche Kritik, die auf Sachkenntnissen beruhe, sei legitim.

D‘àccord, nur: Ehrlichkeit ist eine subjektive Empfindung und ist im politischen „Schlagabtausch“ kaum verwendbar. Allzuschnell bin ich in der Gefahr, die unliebsame Meinung des anderen als unehrlich zu empfinden.

Die Ergebnisse aus der empirischen Antisemitismus-Forschung sind hoch problematisch. Wenn die Probanden nach der Einschätzung der israelischen Macht befragt werden und antworten „die Juden hätten zu viel Macht“, dann halten wir die Fragestellung selbst für empirisch sinnlos. Jeder, der schon einen Fragebogen entworfen hat, kennt die Wirkung von positiven und negativen Suggestiv-Fragen. Gibt es hier eine „richtige“ Meinung über eine „angemessene“ jüdische Weltmacht? Ist die israelische Lobby – siehe das Buch der beiden amerikanischen Soziologen Mearsheimer und Walt: „Die Israel-Lobby“ – im Vergleich zu anderen Lobbys zu stark, angemessen, zu schwach?

Uri Avnery z.B. hält ganz offensichtlich die israelische Macht in Washington für verhängnisvoll zu groß. Er hatte sich von Obama eine israelkritische Politik erwartet und erlebte, dass der amerikanische Präsident vor Netanjahu allzuoft in die Knie gegangen ist. Im Südwestrundfunk hörten wir das Zitat von Sharon, der gesagt haben soll: ‚Wir regieren Amerika‘. Sind das israelische Selbstüberhöhungen und Falscheinschätzungen?

Für uns sind das soziologische Fragen, die mit den üblichen soziologischen Mitteln erforscht werden müssten. Wir erleben aber z.B. nur, dass die Meinung, die Juden seien „zu mächtig“, als antisemitisch kategorisiert wird, ohne dass eine inhaltliche Begründung bzw. Differenzierung erfolgen kann, was mit „den“ Juden und was mit „mächtig“ überhaupt gemeint ist. Gleichzeitig wird von deutsch-jüdischer Seite der Tatbestand schlicht geleugnet. Auch auf dieser Seite keine Beweise und Argumente. Das ganze Thema ist ein riesiger tabuisierter Block, in den noch kein bißchen wissenschaftlicher Sauerstoff eingedrungen ist.

Natürlich sind wir Deutsche beim jüdischen Thema befangen. Diese Befangenheit ist ein außerordentlich schwieriges Gespinst von widersprüchlichen Gefühlen. Leider haben wir Deutsche nicht den Mut, diese Gefühle offen zu legen, aus Angst vor der Reaktion: aha, alles versteckte, latente antisemitische Gefühle. Die Folge davon ist, dass die meisten Deutschen ihre Gefühle wegpacken und verdrängen.

Das ist gefährlich, wie jeder Psychoanalytiker weiß. Habe ich einen Mörder auf der Couch liegen, muss ich als Therapeut ihn motivieren und bestärken, seine mörderischen Motivationen offenzulegen. Erst dann kann er durch Akzeptanz des Bösen das Böse durcharbeiten und reduzieren.

Wir sind der Meinung, dass nur eine therapie-äquivalente politische Methode die Deutschen befähigen würde, sich ihre verborgenen Gefühle bewusst zu machen und sie verdrängungsfrei in ihr Ich zu integrieren. Wir wissen um die Brisanz unseres Vorschlags, der immer von der Angst begleitet wird, das Nennen eines negativen Gefühls könne der Beginn schlimmer Taten sein. Lieber flüchtet man in die Selbstdisziplinierung: Wehret den Anfängen.

Gleichzeitig behaupten wir, dass noch kein Volk die Hypotheken seiner Vergangenheit ohne diese kathartische Arbeit loswerden konnte, um ein neues kollektives Bewusstsein zu entwickeln.

Nur durch Bewusstmachen und Akzeptieren meines Bösen, kann ich das Böse als Teil meiner selbst integrieren und es dadurch unschädlich machen. Das war die Funktion der Literatur bei Goethe, die Funktion der Psychoanalyse bei Freud, die Funktion des Denkens bei Philosophen. Natürlich die Funktion des sokratischen Wortes: ein unüberprüftes Leben ist nicht lebenswert.