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Von vorne XXXVII

 Von vorne XXXVII,

s’ist ein Mädchen. Ein deutsches aus lächelndem Stahl. Jetzt wird sich alles ändern.

Gesamtsiegerin wie immer ist die mit allen Wassern gewaschene Kanzlerin:

„Bundeskanzlerin Merkel hat sich mit der überraschenden Entscheidung für Annegret Kramp-Karrenbauer einmal mehr durchgesetzt. Die SPD ist düpiert und kann nur weiter verlieren. Die Bundeskanzlerin hat am Ende wieder einmal die Fäden in der Hand gehabt. Man weiß nur nicht recht, wie das gekommen ist, es ging alles einfach zu schnell. In der Politik, wenn es darauf ankommt, ist Merkel die Großmeisterin der Improvisation.“ (WELT.de)

Mit Niederlagen rechnen und, wenn alle Welt glaubt, sie läge danieder, unvermutet aufstehen und zum entscheidenden Schlag ausholen: das kann nur sie, die Nimmermüde und Unbesiegbare. Plötzlich ist die Siegerin in Straßburg ihre Geheimkandidatin gewesen. Dass zwei Männer aus Frankreich und Ungarn jene „geborene Europäerin“ erwählen werden, ahnte sie voraus und kalkulierte es in ihren Plänen ein. Kennt sie doch die Männer, diese leicht durchschaubaren Phallokraten.

Die Medien, wie immer unerschütterlich treu an Mutterns Seite – die als Wagner-Fan beim jährlichen Besuch in Bayreuth studieren konnte, wie auftrumpfende Männlein wirklich ticken. Wie etwa der Meister des Hügels, der „lebenslang gegen alles Männliche entwertend und vernichtend zu Felde zog. Daheim aber schmiegte sich der Geniale schutzsuchend in den Schoß von Ehefrau Cosima.“ (SPIEGEL.de)

Was ist der Unterschied zwischen Blitz-entscheidungen und Blitz-kriegen? Manchmal dehnt sich alles unerträglich, manchmal geht es rasend schnell. Kammerdiener des

Weltgeistes müssen blitz-schnell aus dem Weg geräumt werden, wenn Gewitterwolken des germanischen Schicksals sich drohend am Himmel zusammenziehen:

Blitzentscheidungen fallen, alles kommt anders als gedacht, alles wird auf eine Karte gesetzt, während die nächste schon im Ärmel steckt. Am Ende steht die SPD düpiert da, und die CDU ist so verwirrt wie wohlig überrascht zugleich.“

Da sollen die Deutschen Mitleid haben mit der zitternden Mutter der Nation – wie BILD fordert –, doch eine desolate Proletenpartei wird gnadenlos in Brei verwandelt, weil sie als Verliererin ihre Meinung nicht aufgeben wollte. Wer sich dem Schicksal in den Weg stellt, über den kommen die germanischen Nornen.

Es genügt nicht, dass die – ganz in unschuldigem Weiß erschienene – Kandidatin das europäische Parlament in den Bann ziehen konnte. Von BILD wurde sie zu einem jesuanischen Weib ernannt, das vom Judaskuss einer heuchelnden Proletin befleckt wurde:

„Der Kuss, den SPD-Spitzenpolitikerin Katarina Barley (50) am Dienstag in Brüssel der um ihren Job bangenden Ursula von der Leyen (60) gab, wirkte heuchlerisch. Und kalt. Ihre Wangen berührten sich nicht. Die beiden mieden Augenkontakt.
Der berühmteste Kuss der Weltgeschichte, der Judaskuss, besiegelte einen Verrat. Judas küsste Jesus, damit die römischen Soldaten wissen, wen sie verhaften sollen. Die Tragik: Er wollte das Gute, den Frieden zwischen Juden und Römern. Als er begriff, was er getan hatte, konnte er mit der Schuld nicht leben …“ (BILD.de)

Fälschen ist derart zur zweiten Natur der Abendländer geworden, dass sie sich unschuldig vorkommen, wenn sie das Heilige durch Betrug retten wollen.

War Judas ein hinterhältiger Verräter seines Herrn? Er war eine Marionette des himmlischen Vaters, um das Heilswerk des Sohnes zu vollenden:

„Denn der Sohn des Menschen zwar geht dahin, wie es bestimmt ist; doch wehe dem Menschen, durch den er verraten wird.“ „HERR, wer ist’s? Jesus antwortete: Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er tauchte den Bissen ein und gab ihn Judas, Simons Sohn, dem Ischariot. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn.“

Eine freundliche Tat – „einen Bissen geben“ – nutzt der Herr, um Judas dem Satan auszuliefern. Gibt es Diabolischeres und Verwerflicheres? Der Heilige bedient sich des Bösen, um die Menschheit zu erretten. Das ist das tiefste Geheimnis einer Erlösungsreligion.

Eine harmlose Kreatur wird von Vater und Sohn bestimmt, die Passion des Sohnes voran zu bringen. Zum Dank muss er in der Hölle schmoren.

„War es Verrat oder Gehorsam? Der große Literaturhistoriker, Schriftsteller und Gelehrte Walter Jens hat dem vermeintlichen Verräter Judas Ischariot in seinem letzten Roman Der Fall Judas ein überraschendes, wortgewaltiges Plädoyer gewidmet: Judas tritt auf, spricht höchstpersönlich zum Publikum und erklärt, dass er im Einvernehmen mit Jesus bereit war die Rolle des Schwerverbrechers anzunehmen. Ist es nicht gerade seinem Verbrechen zu verdanken, dass Jesus sein Heilswerk am Kreuz überhaupt erfüllen konnte? Basiert nicht die christliche Hoffnung letztlich auf seinem Verrat? Ist nicht gerade durch den Verbrecher der göttliche Plan umgesetzt worden: die Erlösung der Menschheit durch das Opfer des Sohnes?“ (Herder-Verlag.de)

Das Buch von Walter Jens soll ein „Gedankenexperiment“ sein? Es ist die Rehabilitation eines schuldlosen Jüngers, die furchtbare Anklage gegen eine Religion der Liebe und des Erbarmens. Wie können Menschen schuldig werden, wenn sie von einem Allmächtigen gnadenlos missbraucht werden?

Im gleichen Sinn: wer ist schuld am Holocaust? Nicht die Deutschen – sagen ultraorthodoxe Rabbiner:

„Viele Anhänger des ultraorthodoxen Judentums sehen die Schuld für den Holocaust darin, dass zahlreiche europäische Juden die jüdischen Traditionen aufgegeben und stattdessen Ideologien wie den Sozialismus, den Zionismus oder andere nicht-orthodoxe jüdische Strömungen angenommen hatten. Andere meinen, Gott habe die Nationalsozialisten geschickt, um die Juden zu ermorden, weil die orthodoxen europäischen Juden nicht genug getan haben, um diese Trends zu bekämpfen, oder weil sie nicht den Zionismus unterstützten. Nach dieser ultraorthodoxen Theodizee waren die Juden Europas Sünder, die es verdient hatten zu sterben, und Gott, der dies erlaubte, handelte richtig und gerecht.“ (Wikipedia.org)

Deutsche Schergen sind bloße Instrumente in der Hand Gottes, erklären tiefgläubige Rabbiner, die die Deutschen von aller Schuld an antisemitischen Völkerverbrechen freisprechen. Es waren Juden, die durch Abfall vom Glauben den Zorn Gottes zur Weißglut entfachten. Müsste man nicht folgern: die eigentlichen Antisemiten sind ungläubige Juden?

Wird diese orthodoxe Position nicht in aller Form dementiert, darf man sich über den Wirrwarr des gegenwärtigen Antisemitismus-Streits nicht wundern. Zurzeit erleben wir eine Verschärfung des Konflikts, indem der Zentralrat der Juden dem SPIEGEL die Verbreitung antisemitischer Klischees vorwirft. Wolffsohn verschärft die Kritik zum Gesamtverriss des Magazins. (Nachträglich teilt die WELT mit: In einer früheren Version des Artikels wurde Rudolf Augsteins Adoptivsohn Jakob als praktizierender Antisemit bezeichnet. Wir haben diesen Passus entfernt.“)

„Schon „Spiegel“-Erfinder Rudolf Augstein sah sich dem Antisemitismusvorwurf mehrfach ausgesetzt. Der Vorwurf war berechtigt. Die Gedankenverbindung Juden – Geld gehört zu den billigsten antisemitischen Klischees. Ergänzt um den Faktor Macht ist man schnell beim Märchen der „jüdischen Weltmacht“. (WELT.de)

Diese politischen Vorwürfe sind nur Ableger des religiösen Antisemitismus: Die Juden sind schuld am Tode des Erlösers. Seit Ablehnung der Botschaft Jesu seien sie nicht mehr das auserwählte Volk. Die Geschichte des Abendlands wurde zum Dauerkrieg im Streit um das wahre auserwählte Volk Europas, das die Juden abgelöst hat.

Rassistische Abwertungen waren nur Folgeerscheinungen der religiösen Verdammung durch die Deutschen. Und nun sollen die Deutschen unschuldig sein, weil die wahren Bösen gottlose Juden gewesen sein sollen? Nicht die Deutschen, die Juden müssten ergo an den Pranger? Die gesamte Geschichte des Holocaust müsste umgeschrieben werden.

Wer in diesem babylonischen Stimmengewirr bestimmt eigentlich, was Antisemitismus ist? Ist das eine religionswissenschaftliche Erkenntnis, die jedem Verständigen vermittelbar ist – oder die willkürliche ex cathedra-Entscheidung unfehlbarer Instanzen?

Wer antisemitische Umtriebe bekämpfen will, muss wissen, welche Phänomene er suchen soll. Ist bereits die Definition ein unlösbares Problem, an welchen Kriterien soll sich der Kampf gegen Judenfeinde orientieren? Antisemitismus ist ein gefährliches Problem und darf durch willkürliche Begriffsverwirrungen nicht endgültig zur Farce gemacht werden.

Eine der führenden Zeitungen der BRD wird von jüdischer Seite des Antisemitismus beschuldigt – und was geschieht? Nichts. Keine Zeitung äußert sich, keine TV-Anstalt nimmt sich des Themas an, keine Talkshow debattiert. Kein Journalisten- oder Verlegerverband hält es für angebracht, Stellung zu beziehen.

Mathias Döpfner, oberster Chef der WELT (in der Wolffsohn-Artikel abgedruckt wurde), zugleich Präsident des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, hält es nicht für nötig, im Namen des Verbandes eine offizielle Debatte anzusetzen und die Vorwürfe penibel zu überprüfen.

Wären die Vorwürfe berechtigt, müsste der SPIEGEL in Sack und Asche gehen – oder vom Verband ausgeschlossen werden. Wären sie unhaltbar, müssten sie zurückgezogen, das Magazin in aller Form rehabilitiert werden. Wolffsohns Warnungen vor einem Abgrund an deutschem Antisemitismus sind nicht mehr zu überbieten. Wären sie belegbar, müssten alle Alarmglocken in Deutschland klingeln:

„Der Exodus der französischen Juden ist im Gange. Bald auch aus Deutschland?“

Inzwischen bezog der SPIEGEL Stellung, bestätigte und wiederholte seine ursprünglichen Aussagen. (SPIEGEL.de)

Was geschah? Nichts. Ein schändlicher Skandal für die gesamte deutsche Medienlandschaft, der auch die Beziehungen zum Staate Israel beschädigen könnte.

Judaskuss, Rabbiner-Verfluchungen: brisante Funde in der Krypta des christlich-jüdischen Abendlandes. Sorgsam verschwiegen vor der Öffentlichkeit – und dennoch allen zugänglich, die es wissen wollten. Wollen aber nicht. Ihr Glaube muss für sie selbst ein Geheimnis bleiben. Die Befunde stehen nicht nur unter Wiederholungs-, sondern auch unter Verschärfungszwang.

In Deutschland wird kein Thema seriös debattiert. Man ätzt ziellos ins Blaue, zu feige, um Ross und Reiter zu benennen. Gefährliche Themen wie Antisemitismus werden unter den Teppich gekehrt oder dienen der Anheizung des kollektiven Unbewussten – aus dem das Gespenst der Juden- und Fremdenfeinde kriecht. Reden wir nicht länger von „Rechts“ oder „extrem Rechts“. Nennen wir die Dinge bei Namen.

Auch bei Calvin gibt es keine Menschen, die in Freiheit das Heil ablehnen und eine ewige Strafe vermeiden könnten. Bei ihm ist jede Kreatur prädestiniert:

„Gottes freie Gnadenwahl sei sein Geheimnis. Es läge also nicht an des Gläubigen Wollen oder Mühen, sondern an Gott allein, der sein Erbarmen zeige. Sie sei ein reines, unverdientes Geschenk, einzig begründet in der freien Entscheidung Gottes.“

Und von wem stammen die folgenden Zeilen?

„Wenn wir glauben, es sei wahr, dass Gott alles vorherweiß und vorherordnet, dann kann er in seinem Vorherwissen und in seiner Vorherbestimmung weder getäuscht noch gehindert werden, dann kann auch nichts geschehen, wenn er es nicht selbst will. Das ist die Vernunft selbst gezwungen zuzugeben, die zugleich selbst bezeugt, dass es einen freien Willen weder im Menschen noch im Engel, noch in sonst einer Kreatur geben kann.“ (Luther)

Dass Calvins Gott alles vorherbestimmt, hat sich herumgesprochen. Dass der Reformator der Kanzlerin dasselbe predigt, will niemand wissen. Dass Menschen nur willenlose Instrumente des Himmels sind, könnte ja etwas über das Innenleben der Pastorentochter und ihre devote Art der Politik verraten.

Was nämlich ist ihre Pflicht? Zu tun, was ihr von Oben aufgetragen wird. Kein deutscher Intellektueller wird Merkel mit einer einzigen religiösen Vokabel porträtieren. Was sollen religiöse Überzeugungen mit Verhalten zu tun haben?

Was sind die Gründe der Debattierunfähigkeit? Die Angst, argumentativ entlarvt zu werden. Wie stünde man denn da, wenn man nichts mehr zu sagen hätte?

Die Angst wird nicht ausgesprochen, sondern verleugnet und ins Gegenteil verkehrt. Dem Streitgegner, der schlagkräftigere Argumente haben könnte, wird Beschämungs- und Beleidigungswillen unterstellt.

Die Moderne will immer die Nase vorne haben, alle Rivalen in den Schatten stellen, nur im Gefecht der Geister wird man wehleidig, bemitleidet sich selbst und vermeidet jede Konfrontation.

„Linkes Denken ist grundsätzlich anfällig für moralische Selbstgewissheiten“, sagt Andreas Rödder, Historiker und Mitglied der CDU. (TAZ.de)

Rödder bemüht sich um Klärung des Begriffes „Konservatismus“:

Ich verstehe unter Konservatismus … eine Denkhaltung, die sich durch eine grundlegende Skepsis gegenüber ideologischen Gewissheiten, durch ein Denken in Kategorien von Alltagsvernunft, Maß und Mitte und durch das Subsidiaritätsprinzip auszeichnet …“

Erneut zeigt sich, dass christliches oder konservatives Denken nichts von Moral hält. Was ist moralische Selbstgewissheit? Alle Begriffe, die mit selbst beginnen, werden von Konservativen geschmäht. Als da sind: Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, Selbstgewissheit, Selbstzufriedenheit.

Die Gründe liegen auf der Hand: Konservative sind zumeist Christen. Christen aber verdanken nichts ihrem Selbst, sondern alles ihrem Gott. Sie sind nicht autonom, sondern heteronom, nicht selbstgewiss, sondern ihres Heils gewiss, nicht selbsterlösend, sondern von Gott erlöst. Zudem hat das christliche Credo mit Moral nichts zu tun, sondern mit Glauben – der über allem Gut und Böse steht. Glaube – und sündige nach Lage und Bedürfnis. Begehst du Verbrechen im Namen Gottes, ist dir alles verziehen, denn du hast es für deinen Schöpfer getan.

Linkes Denken ist so moral-unverträglich wie rechtes – sofern es sich im postmarxistischen Dunstkreis bewegt. Konservative Historiker können das nicht wissen; Marx gehört nicht mehr zu ihrem Erkenntnisinteresse.

Alles, was man heute für falsch hält, nennt man Ideologie. Also müssen alle ideologischen Gewissheiten verworfen, pardon: mit „grundlegender Skepsis“ betrachtet werden. Blasierte Skepsis vergreift sich nicht an dubiosen Meinungen. Es genügt, von weitem die Nase zu rümpfen. Das ist Widerlegung genug.

Alltagsvernunft ist in Dingen des Alltags nicht das Schlechteste, in prinzipiellen Angelegenheiten aber überfordert.

Das katholische Subsidiaritätsprinzip bedeutet: wer sich selbst helfen kann, sollte dem Staat nicht zur Last fallen.

Moment, wer möchte sich von Hartz-4-Zensoren demütigen lassen, wenn er es nicht bitter nötig hätte?

Die Hauptfrage bleibt jedoch: wer bestimmt, ob jemand sich selbst über Wasser halten kann oder Hilfe in Anspruch nehmen darf? Wer diese Selbst-Einschätzung der Faulheit verdächtigt, tritt die Würde des Menschen mit Füßen. Zur Würde gehören das obligate Selbst und das autonome Ich. Das Subsidiaritätsprinzip diente zumeist dem Zweck, die sozialen Ansprüche der Schwachen dank arroganter Fremdbestimmung in der Luft zu zerreißen.

„Mit ewigen Werten hingegen bin ich zurückhaltend. Es gibt überzeitliche Werte, aber die sind nicht konservativ. Und es gibt konservative Inhalte, aber die sind nicht ewig.“

Zweimal schlucken, bevor man widerspricht.

Ein Christ hält nichts von ewigen Werten? Heißt konservare nicht bewahren? Ach so, nur eine Weile, dann wird wieder ausgemistet?

Wie steht‘s denn mit dem Glauben an die Schöpfung oder an die Erlösung durch den Gekreuzigten? Gelten diese Dogmen heute nicht mehr? Gewiss, Gott behält sich vor, gewisse Wahrheiten von gestern als fake news zu betrachten. Euch wurde gesagt, Ich aber sage euch. Zeitlose Vernunftwahrheiten wie bei den Griechen werden abgelehnt, weil selbstgewisse Vernunft auf immer neue Offenbarungen verzichten kann.

Jüngstes Beispiel einer wendigen Neubewertung lieferte AKK: „Habe die Situation sehr deutlich neu bewertet.“ Die immer häufiger auftretenden Neubewertungen der Politiker machen ihr gegebenes Wort wertlos. Das Prinzip verlässlicher Zusagen und Versprechungen haben sie zerstört.

Doch bleiben wir auf dem Boden. Sind für Rödder Demokratie und Menschenrechte Werte mit Verfallsdatum? Dann ahnen wir, wie die Abendländer elegant zu totalitären Werten wechseln werden, wenn China die Welt unter seine Fittiche nehmen wird.

„Konservatives Denken ist immer darauf angewiesen zu begründen. Deshalb sind die Konservativen heute die eigentlichen Anwälte der Aufklärung.“

Womit wollen Konservative aufklären, wenn Denken eine Sache der selbstgewissen Vernunft ist? Was nicht bedeutet, dass sie irrtumslos ist. Christliches Denken hält von Vernunft nichts – wie bei Luther ersichtlich – oder ist nur zuständig für niedere Dinge der Welt – wie bei Thomas von Aquin.

„Ich würde zugleich davor warnen, aus einer heutigen Perspektive die Vergangenheit zu verdammen, indem wir sie an Maßstäben dessen messen, was wir heute für richtig halten.“

Gewöhnlich spricht man von Historismus, wenn man der Gegenwart abspricht, die Vergangenheit zu beurteilen. Das Vergangene sei unvergleichlich, mit dem Verstand der Gegenwart nicht zu erfassen. Eine prima Methode, die historischen Verbrechen der Kirchen und Despoten mit Heiligenschein in den Schrank zu stellen zur ewigen Anbetung.

Alles Menschliche kann von Menschen verstanden werden. Das ist der Sinn des Satzes: Menschen sind gleichwertig. Unterschiede sind belanglos im Vergleich mit elementaren Gleichheiten: jeder Mensch will frei sein, ein selbstbestimmtes Leben im Kreise solidarischer Menschen führen. Wäre Geschichte unverständlich, könnten Historiker ihren Job an den Nagel hängen.

„Zugleich beobachte ich aber sowohl bei Habeck als auch bei Baerbock wie auch bei vielen anderen Grünen und Sozialdemokraten die Vorstellung, die Wahrheit zu kennen und ein höheres Bewusstsein zu haben.“

Postmoderner Schwachsinn. Wie hoch fühlt man sich jenen überlegen, denen man überlegenes Bewusstsein vorwirft? Hält der Historiker seinen eigenen Satz für unwahr, wenn er den Grünen vorwirft, Wahres erkannt zu haben? Ist es wahr oder nicht, dass es eine Klimagefahr gibt? Sind Demokratie und Menschenrechte wahr oder nicht?

„Aus dem ursächlich linken Denken, das im Grunde ein platonisch inspiriertes Denken ist. Es geht von der Idee aus und ordnet die Realität der Idee nach. Ein solches Denken ist immer anfällig für moralische Selbstgewissheit. Konservatives Denken ist aristotelisch, weil es davon ausgeht, dass es die Idee nie ohne die Realität gibt.“

Dienen Gottes Ideen nicht dem Zweck, die Welt zu richten? Die meisten Grünen sind Christen, keine Platoniker. Mit Ausnahme weniger Sophisten waren alle griechischen Philosophen der Meinung, ewige Wahrheiten zu vertreten. Wie sie diese Meinung begründeten, konnte verschieden sein.

Eine christliche Spaltung in Gott und die Welt vertrat niemand, nicht mal Platon. Es ist der christliche Gott, der die Erde vernichten wird, weil ihre Realität nicht seinen Ideen entspricht. Platons Ideen waren Teil des ungeteilten Kosmos. Seinen idealen Staat, in dem Ideen und sinnliche Realität verschmelzen würden, hielt er ursprünglich für möglich.

Das Denken des Menschen entsprang der Natur, denn er war selbst Natur. Natur und Menschenwelt verändern und verbessern war keine Vergewaltigung der Realität durch transzendente Ideen, sondern Zusammenführen dessen, was zusammengehört.

Aristoteles, auf den sich Rödder bezieht, glaubte, seinen Lehrer zu korrigieren, wenn er Idee und Realität näher zusammenrücken ließ. Doch der Unterschied war eine bloße Nuance. Platon war nicht realitätsvergessen, Aristoteles nicht ideenlos. Bei ihm befand sich die Idee in den Dingen selbst, die sich aus eigener Kraft vollenden konnte (Entelechie).

Aristoteles war kein Hegel, bei dem Vernunft und Wirklichkeit zusammenfielen. Die Dinge verändern und verbessern, aber mit „Maß und Mitte“: das war die Absage an den totalitären Veränderungswillen Platons, der seinen idealen Staat auf Gewalt gründete. Solcher Gewalttätigkeit war Aristoteles gänzlich abgeneigt. Heute könnte man ihn mit Poppers vorsichtig lernender Stückwerktechnologie vergleichen.

Fassen wir zusammen: Ohne Ziele irrt man umher und weiß nicht, in welche Richtung man sich durchkämpfen muss. Noch gibt es viele kleine Schritte zu tun, um sich ans Ufer zu retten. Wer glaubt, mit einem genialen Riesensprung das Ziel zu erreichen, wird auf dem Bauch landen.

Formeln wie links und rechts, Konservatismus, Missachten des Vergangenen, Anbeten des Fortschritts, starr in die Zukunft blicken, sind null und nichtig und sollten ersatzlos gestrichen werden.

Utopie heißt Ortlosigkeit oder Nirgendwo. Was brauchen wir? Eine immer schärfer konturierte, lebensfähige «Utopie», um nicht in einem verbrannten und verwüsteten Überall zu verenden.

 

Fortsetzung folgt.