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Von vorne XXXV

Von vorne XXXV,

der Kanzlerin – die ihre nächste Stufe der Heiligsprechung bestanden hat – wird von ihrem Volk, das treu an ihrer Seite steht (besonders in Tagen der Trübsal), keine Psyche zugetraut.

Sie besteht aus einem stählernen Leib, der geringfügige, nicht weiter ernst zu nehmende, eigentlich zu vernachlässigende, neurowissenschaftlich unerklärliche, bei jedem Menschen vorkommende, bei Hymnen überzufällig auftretende, mit ihnen aber auf keinen Fall kausal zusammenhängende, Belastungssymptome aussenden kann.

HeldInnen müssen nicht ans Kreuz genagelt werden, um, nach bestandenem Leiden, glanzvoll ihrer Auferstehung zu harren. Gleichwohl wäre es angebracht, ihren Untertanen gelegentlich Assoziationen gottverfügten Leidens hinabzusenden, die bei ihnen das Gefühl des Erwähltseins der Kanzlerin zur Gewissheit werden ließen.

Ist die Heldin stark, ist sie herzerfrischend stark, geht festen Schritts und Tritts den Männern voran, tut unverdrossen ihre Pflicht, zeigt aller Welt, wozu eine deutsche Frau fähig ist.

Ist sie schwach, kann sie nur scheinbar schwach sein oder aber ihre Stärke erst in Zittern und Zagen voll zur Geltung bringen.

Was klügeln sie, die Weisen der Erde, die Toren vor Gott? Euch Zweiflern und Glaubenslosen, die ihr mit eitlem Verstand alles begreifen wollt – selbst das Unbegreifliche und Unfassbare, das nur reinen Herzen zugänglich ist – sei frohgemut verkündet:

„Maria, sei gegrüßt, du Gefäß der Weisheit Gottes,
Sei gegrüßt, Philosophen hast du an die Grenzen geführt;
Sei gegrüßt, Wissensforschern hast du das Unerforschliche gezeigt.
Sei gegrüßt, spitzfindige Denkgeflechte hast du zerrissen;
Sei gegrüßt, aus unbekanntem Abgrund hast du uns herausgeführt;
Sei gegrüßt, bereichert hast du viele an Erkenntnis.“ (Altkirchliches Marienlob)

Die größte unter den einfühlsamen Gazetten der BRD hat schon reagiert, wie 

 man es von ihr erwarten durfte:

„So schwach, so tapfer“. (BILD.de)

Nun heißt es stark sein in Deutschland, wenn die Völker zuschauen, wie die mächtigste Frau der Welt ihrer Berufung in sitzender Demut nachkommt. Besonders der Gewaltige jenseits des Ozeans wird sich krachend auf die Schenkel schlagen, sein dröhnendes Lachen wird bis ins Kanzleramt dringen.

Vergebens, die Deutschen scharen sich unverzagt um ihre Magd Gottes. Geschehe, was will, ihre Umfragewerte bleiben unangetastet. Und läge sie im Koma, würden die Deutschen noch ihren physiologischen Regungen folgen. Wenn Herzen beieinander liegen, können sie auf Worte verzichten.

Die Welt verrottet, mit dem Segen der Kanzlerin. Doch an mütterlicher Hand überstehen die Deutschen Tod und Teufel.

Wenn normale Menschen zittern, könnten sie Angst haben. Die Kanzlerin darf keine gewöhnlichen Schwächen haben, sonst kommt ganz Deutschland ins Zittern. Selbst der Herr war nicht davor gefeit, ins Zagen zu kommen: „… und er fängt an, zu erschrecken und heftig zu zittern.“

Einst sollten Gläubige gleichförmig werden mit den Gefühlen ihres Herrn. Das aber würde einfühlsame Seelen voraussetzen. Seele? Unbewusstes? Unquantifizierbares? Gibt es nicht in Zeiten der Berechenbarkeit aller Dinge. Seele wurde abgeschafft.

Einst gab es Psychosomatik, die Verbindung von Leib und Seele. Heute gibt es nur noch Reize und Reaktionen aus der Skinnerbox. TV-Medien senden einen Film über schreiende Kinder und deren Mütter, die entweder keine Gefühle haben oder nicht darüber reden können. Objektiv, wie sie sind, identifizieren sich die kühlen Tagesbeobachter mit den gezeigten Methoden: hier sprächen die Dinge für sich selbst.

Jede Kritik wird als Shitstorm diffamiert. Debatten bis heute? Keine. In den vielen TV-Arztserien werden alle somatischen Komplikationen schulmäßig durchdekliniert – psychosomatische Erklärungen hingegen erwartet man vergeblich.

„Merkel zitterte auch bei der finnischen Hymne. Ein unterbewusster Finnland-Hass wurde ihr bislang zumindest noch nicht unterstellt.“ (SPIEGEL.de)

Das grenzt an Diffamierung, der Kanzlerin ein Unbewusstes zu unterstellen. Seit dem Sieg der berechenbaren black box ist die Seele abgeschafft. Der Geist muss ohne Seele auskommen.

Wir reden nicht von der unsterblichen Seele der Religion, sondern vom Inneren des Menschen, das Bedürfnisse, Gefühle und Verstand umfasst. Weiß man, wie roboterhafte Menschen auf Reize reagieren, kann man auf das Unbewusste verzichten.

Sie wissen nicht, was sie tun: das ist Vergangenheit. Ohnehin ist belanglos, was sie wissen. Wichtig ist allein, was jene über Menschen wissen, die sie zu einem bestimmten Verhalten verleiten und verführen wollen. Zu Manipulationszwecken ist es besser, dass der Verführte nicht weiß, wie er am Nasenring durch die politische und konsumierende Szenerie geführt wird. Verführer wissen alles über den Menschen, Menschen wissen nichts über sich.

Der Triumph der Tiefenpsychologie nach Kriegsende war zugleich ihr Höhepunkt, der ins Gegenteil kippte. Wird technischer Fortschritt durch Rechnen und Regulieren immer erfolgreicher, kann man nicht erwarten, dass die Erforschung des Menschen sich auf Vermuten und Deuten beschränken wird.

Introspektion und Selbstwahrnehmung wurden zu vorsintflutlichem Kaffeesatzlesen degradiert. Stadtneurotiker wie Woody Allen, die lebenslang auf der Couch lagen, wurden als lächerliche Gestalten ausrangiert. Wenn berechnende Wissenschaften unaufhörliche Siege feiern, kann bloßes Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten nicht länger als seriös eingeschätzt werden.

Noch bei Descartes besaß der Mensch Leib und Seele. Der aufkommende rationale Geist vertrieb die Seele – die religiöse, die mit der irdischen in einen Topf geworfen wurde. Homo sapiens wurde zur Marionette von Naturgesetzen.

Wobei Natur alles und sein Gegenteil bedeuten konnte: gute Natur, die den Menschen mit Vernunft und Menschlichkeit ausstattet – und böse Natur, die ihn zum machtgierigen Triebtäter macht.

Die erste Spur führte über Rousseau und Aufklärung zu den demokratischen Menschenrechten, die zweite über Hobbes zu Darwin, der den Menschen als Geistwesen entthronte und zu einem rücksichtslosen Egoisten im Reigen der Tiere machte.

Darwinismus führte zu Rassismus und Nietzsches bedingungslosem Willen zur Macht. Eine kommende Weltelite bestünde aus rabiaten Herrenmenschen, die keine anderen Rechte anerkennen als das Recht der Stärke.

Die Naturwissenschaften hatten bewiesen, dass sie die Herrschaft über die Erde antreten konnten, wenn sie zuvor die Gesetze der Natur erforscht hatten. Wer Natur beherrschen will, muss ihr gehorchen.

Die bedeutungslos gewordenen Geisteswissenschaften konnten ihre alte Geltung nur wiederfinden, wenn sie dem Vorbild der Naturwissenschaften folgten und das Spekulieren und Moralisieren einstellten.

Wie Natur zur Maschine reduziert wurde, so musste der Mensch auf seine unerfassbare Unvergleichlichkeit verzichten und sich den Gesetzen des Zählens und Rechnens unterwerfen.

Die Sprache, Instrument der Verständigung, wurde als Abgrund der Unzuverlässigkeit verworfen. Die einzige Sprache, die gelten sollte, war die Sprache der Tatsachen. Historiker zitierten aus Dokumenten und Archiven, verzichteten aber auf jedes Werten und Beurteilen. Das nannten sie Einfühlen in fremde Epochen, die unverständlich wären, wenn man seine eigenen Positionen nicht ausschalten würde. Lehren aus der Geschichte? Undenkbar. Alles war so unvergleichlich, dass Lernen aus Erfahrung auf Sand gebaut schien.

Sämtliche Geisteswissenschaften verrieten den Geist und begnügten sich mit Daten aus Labor und historischen Akten. Mit der Reduktion auf das „Materielle“ – das Sein bestimmt das Bewusstsein – glaubten sie der Natur gerecht zu werden, die sie offensichtlich für geistlos hielten.

Das war eine Absage an die Krone der Schöpfung, die unter Geist nur den Geist Gottes verstand. Die Vermischung christlicher und griechischer Elemente erbrachte – die bizarre Konfusion der Gegenwart.

Ist der Mensch für sein Schicksal verantwortlich? Dann muss er Geist haben. Hat er Geist – woher soll er ihn haben, wenn nicht von Mutter Natur? Oder ist Mutter Natur etwa ein geistloses Heimchen am Herd, zu einfältig, um die hohen Dinge der Männerwelt zu begreifen?

Besitzt der Mensch aber keinen Geist, kann er für nichts zur Rechenschaft gezogen werden. Alles Reden, Streiten, Politisieren könnten wir dann einstellen: es würde nix bringen. Bei Marx wurde Geist zum Überbau, der in allen Dingen vom Unterbau abhängig war. Auf diesen Luftikus könnten wir verzichten.

Geisteswissenschaften wollten sich nicht länger zu Geschwätz erniedrigen lassen und begannen, die Naturwissenschaften zu imitieren. Kam es zu Differenzen, mussten Zahlen her, die den Streit der Worte mit empirischen Grundlagen zu schlichten versuchten.

Auch die schreibenden Tagesbeobachter wollten nicht länger zurückstehen und sich einem unangreifbaren Fundament anvertrauen: Schreiben, was ist. Meinen, Kommentieren, Beurteilen sind philosophische Quacksalbereien. Was aber nicht bedeutet, dass Medien keine ethischen Ansprüche an sich hätten. Sie reden nur nicht gern drüber.

Als Medien müssten sie Haltung beweisen, meinte Mathias Döpfner in einer Phönixrunde. Haltung ist ein abstrakter Oberbegriff ohne Inhalt. Welche Haltung, per favore? Solche bombastischen Fragen sind in Journalistenkreisen verpönt.

Als eine Kollegin der New York Times berichtete, ihre Zeitung sei zum Bollwerk der Trumpgegner geworden, meldete Haltungsbefürworter Döpfner plötzlich Bedenken an. Würde die New York Times sich tatsächlich als Opposition verstehen, bekäme er Probleme.

Mit Verlaub: was wäre eine Haltung ohne Haltung? Wenn die New York Times die Politik ihres Präsidenten als demokratiefeindlich attackiert: wie anders könnte sie dies rechtfertigen außer durch eine klare Opposition? Nicht um eines blinden Dagegenseins willen, sondern um Amerika zu jener Demokratie zurückzuführen, die es schaffte, den deutschen Menschheitsverbrechern das blutige Handwerk zu legen. Haltungslose Haltung: das ist der Wahn deutscher Medien und Wissenschaften.

„Die Regierung Nordrhein-Westfalens hat die sogenannte Zivilklausel abgeschafft. Zudem sollen Hochschulen die Anwesenheitspflicht wieder einführen dürfen.“ (ZEIT.de)

Bislang forschten sie heimlich, still und leise über Waffensysteme, die den Waffen ihrer Feinde überlegen waren. Nun dürfen sie mit dem Segen der Regierung in den Wettkampf um die effizientesten Abschlachtmethoden eingreifen.

Die Verwandlung der Geisteswissenschaften in plagiierende Naturwissenschaften brachte den Sieg der quantitativen Methoden über Einfühlen, Verstehen, Bewerten und Denken. Statistik siegte, Erkenntnis und Moral verloren.

Wenn Sarrazin sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse beruft, um seine fremdenfeindlichen Einstellungen zu beweisen, so müsste die Partei sich mit wissenschaftstheoretischen Methoden beschäftigen, um ihren Rauswurf zu begründen. Statistik zählt nur, was vor Augen ist, ein denkender und verantwortlicher Mensch aber weiß um die historische Bedingtheit der Zahlen.

Hätte Sarrazin vor einem halben Jahrhundert die weibliche Intelligenz mit der männlichen verglichen – etwa anhand der Abiturzeugnisse oder am karrieristischen Erfolg -, wäre er unvermeidlich zum Ergebnis gekommen: Frauen spielen nicht nur schlechter Fußball, sie können auch nicht schreiben wie Relotius, rechnen und Geld verdienen wie die Deutsche Bank.

Es ist wie beim Intelligenztest. Wer vor allem Fragen aus der Männerwelt stellt, darf sich nicht wundern, dass Männer intelligenter sind. Mit anderen Worten: Grundsatzfragen können durch Rekurs auf wechselnde Daten nicht beantwortet werden.

Zu den Grundsatzfragen gehören die ethischen. Ob Menschenrechte wahr sind, kann theoretisch niemand beweisen. Wer sich in Tyranneien zur Humanität bekennt, kann morgen im Gefängnis landen. Wer sich als Widerständler einem Unrechtsregime widersetzt, dessen „Erfolgschancen“ gehen gegen Null. War die Verteidigung seiner Moral eine Dummheit, die Sokrates mit dem Leben büßen musste?

Es war ein Grundübel der Moderne, um bloßer Macht willen alles autonome Denken und Fühlen einzustellen und die Methoden der Naturwissenschaften blind nachzuäffen. Eben dies ist der Grund, warum Philosophie zur postmodernen Beliebigkeit, Ökonomie zur moralfreien Marktdiktatur, Psychologie zur statistischen Anbeterin zufälliger Verhältnisse wurde.

Wissenschaft begann bei den Griechen als Erkenntnis zeitloser Naturwahrheiten. Eine Heilsgeschichte, die im Takt der Augenblicke ständig neue Wahrheiten verordnet: solch einen Wahn kannten sie nicht.

Woran erkannte man eine Wahrheit? Dass sie mangels Widerlegung mit hoher Wahrscheinlichkeit zeitlos war. Veränderliche Wahrheiten waren sinnliche Impressionen ohne Nachhaltigkeit. Es gab Teile der Wirklichkeit, die sich ständig veränderten. Diese aber waren nicht wahrheitsfähig. Nur kosmische Wahrheiten galten immer, nur moralische erhoben den Anspruch, für alle Menschen zu gelten.

Gewiss, es gab sophistische Relativierer, die als Vorläufer der Postmoderne gelten können. Die Lebensaufgabe des Sokrates bestand darin, den Einfluss der Relativierer mit Argumenten und einem vorbildlichen Lebenswandel zu bekämpfen.

Für moderne Medien wäre Sokrates ein Einfaltspinsel gewesen. Warum? Er hatte keinen Erfolg.

Erfolg als Kriterium der Wahrheit – oder Utilitarismus – war bereits die Beschädigung der philosophischen Wahrheit durch Plagiieren der Naturwissenschaft. Bacon hatte das Motto ausgegeben, das die Moderne prägen sollte: Wissen ist Macht. Was keine Macht und Herrschaft versprach, verlor jeden Einfluss.

Auch Naturwissenschaften sind nur zum Teil objektive Wissenschaften. Die Naturgesetze, die sie entdecken, müssen von allen Wissenschaftlern nachprüfbar und wiederholbar sein. Welche technischen Folgerungen sie aber aus diesen Erkenntnissen ziehen, sind moralisch-politische Entscheidungen, die jeder subjektiv verantworten muss.

Der unheilvolle Werturteilsstreit wurde von Max Weber im antidemokratischen Sinn entschieden: Demokratie da, wo sie hingehört, Wissenschaft aber muss im geistesaristokratischen Elfenbeinturm bleiben. Was geschah? Fast alle deutschen Wissenschaftler wurden Gegner der Weimarer Demokratie, die Mehrheit zu Anhängern Hitlers. Eine beeindruckende Objektivität.

„Der größte Aberglaube unserer Zeit ist der Glaube an die Wertfreiheit der Wissenschaft. Schon das Schlagwort Wertfreiheit ist ein Programm und Credo. Kein Schriftsteller, Lehrer oder Künstler kann der Verantwortung entrinnen, andere zu beeinflussen, ob absichtlich oder nicht. Dieser Einfluss ist umso stärker und heimtückischer, als er größtenteils implizit ausgeübt wird – ein verborgener Verführer, dessen Lehren unbewusst aufgenommen werden.“ (Arthur Koestler, Die Armut der Psychologie)

Der Atombombe gegen Hitler stimmten die meisten amerikanischen Physiker zu, der Atombombe gegen Hiroshima weit weniger. Heisenberg und Weizsäcker arbeiteten an einer deutschen Atombombe, ihre früheren jüdischen Kollegen, die emigrieren mussten, arbeiteten an der gegnerischen. In der Theorie waren sie eins, in der Praxis verfeindet.

In Geisteswissenschaften gibt es überhaupt keine objektiven Erkenntnisse. Wer alle Muslime für Terroristen hält, muss sich Zahlen verschaffen, die diese Behauptung zu belegen scheinen. Selbst, wenn die Zahlen empirisch richtig wären, wäre die generelle Schlussfolgerung falsch. Aus zufälligen, zeitlich veränderlichen Zahlen lassen sich keine substantiellen Folgerungen schließen.

Philosophie, Urmodell der Geisteswissenschaften, kann keine berechenbare Wissenschaft sein. Zwar erhebt die Philosophie der Humanität den Anspruch genereller Gültigkeit. Aber nur mit Argumenten, denen jeder subjektiv zustimmen muss. Wer die fragile Basis des Denkens scheut, hat Angst vor der Wahrheit und versteckt sich hinter der geliehenen Objektivität der Natur. 

Begegne ich einem Verbrecher, kann ich ihn ablehnen mit der Begründung, er sei ein geborener Killer. Die Begründung aber ist keine objektive Erkenntnis, sondern Teil meiner Urüberzeugung, dass Menschen von Natur aus minderwertig oder böse sind.

Andere Vorurteile lauten: Frauen können von Natur aus nicht genial sein. Juden sind von Natur aus geldgierig, Kinder von Natur aus aggressiv. In den ersten sieben Jahren können sie keine Persönlichkeit sein – wie Psychiater Winterhoff behauptet. Begeht ein 12-Jähriger ein Verbrechen, wird reflexartig die Forderung erhoben, auch 12-Jährige in den Knast zu stecken.

In den ersten Lebensjahren eltern-quälende Schreihälse, bis sieben Jahre Wesen ohne Persönlichkeit, mit 12 Jahren Vergewaltiger und Killer: das scheint das gegenwärtige Kinder- oder Menschenbild zu sein. Die „normalen“ Kinder müssen in schulischer Anwesenheitspflicht und ständigem Notendruck zu künftigen Marionetten des Kapitalismus gedrillt, konditioniert oder abgerichtet werden.

Nun kann es nicht mehr verwunderlich sein, wenn die jugendlichen Klimademonstranten von erwachsenen „Experten“ misstrauisch beäugt werden. Nicht mehr lange und die so harmlos scheinenden Schulschwänzer könnten sich zu gefährlichen Revoluzzern entwickeln. Schon jetzt trumpfen sie dogmatisch und dämonisierend auf:

„Aktivisten wie Luisa Neubauer und Greta Thunberg glauben, von vornherein im Recht zu sein – weil sie für das Gemeinwohl kämpfen. Andersdenkende dämonisieren sie, Kompromisse lehnen sie ab. Jede Diskussion wird so unmöglich. An die Stelle der Argumentation tritt die Dämonisierung. Das darin anklingende „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ ist vielleicht nur intellektuell erbärmlich, vielleicht aber auch verstörend und Angst einflößend, denn anderswo im politischen Spektrum würde diese Argumentation als diskriminierend gelten, und ihr Vertreter müsste sich nicht zu Unrecht des Rassismus zeihen lassen.“ (WELT.de)

Auch hier liegt eine verhängnisvolle Verwechslung von griechischen und christlichen Denkmustern vor. Mit dem Satz: wer nicht für mich ist, ist gegen mich, fordert der Herr eine Entscheidung für sich als Heiland und Erlöser. Das ist eine Glaubensfrage, keine Erkenntnisfrage wie die mathematische: eins und eins sind zwei. Oder die naturwissenschaftliche: wenn der Mensch weiterhin die Natur zerstört, wird er von der Natur zerstört werden.

Die Argumente der Naturwissenschaftler liegen seit Jahrzehnten auf dem Tisch. Wenn ein Politwissenschaftler Glaubensfragen nicht von Erkenntnisfragen unterscheiden kann, sollte er auf die Kanzel steigen und das wissenschaftliche Seminar verlassen.

Die jugendlichen Demonstranten haben die Klimadaten nicht erfunden, sondern vorgefunden. Wer die Daten für falsch hält, ist in der Pflicht, sie mit wissenschaftlichen Methoden zu widerlegen. Wer noch immer von Dämonisierung spricht, sollte in den Spiegel schauen. Kein vernünftiges Wesen fühlt sich diskriminiert, wenn man ihm mit Argumenten nachweist, dass es sich irrte. Im Gegenteil, wenn er selbstbewusst ist, wird er ein Aha-Erlebnis haben und sich einer neuen Erkenntnis freuen.

Kompromisse schließt man nur im Bereich politischer Entscheidungen. Denken und Fordern in der öffentlichen Debatte müssen kompromisslos sein. Wer den Jugendlichen Kompromisslosigkeit vorwirft, erträgt nicht die Klarheit ihres unerschrockenen Denkens. 

Im religiösen Bereich ganz anders. Beweist ein christlicher Biblizist mit Hilfe der Schrift, Gott habe alle Juden verflucht, wird es für alle Juden brandgefährlich. Eine rationale Basis gegenseitigen Überzeugens gibt es unter Erlösern nicht. Wer einem anderen vorwirft, in Heilfragen verstockt zu sein, dem sagt er zugleich: du bist für immer verloren. Dein Platz ist in der Hölle.

Demokratie ist eine Arena rationalen Streits. Debattieren ist fairer Wettstreit um die Wahrheit. Nun festhalten: moralische Wahrheit ist – wider alle Sophistereien ihrer Verächter – sehr wohl beweisbar. Womit? Durch die Einheit von Tun und Denken, Reden und Handeln.

Das wäre die Revolution, die die Menschheit vor dem Untergang retten könnte.

 

Fortsetzung folgt.