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Von vorne XXXII

Von vorne XXXII,

mit der Präsentation des Films „Elternschule“ hat die ARD ihren Bankrott erklärt. Den TV-Sport- und Zerstreuungsanstalten sollte man die Lizenz zum steuerfinanzierten Volks-Beflimmern entziehen. Kein Wort der Erklärung, kein Versuch des Einfühlens und Verstehens, kein Bericht über Reaktionen des Publikums auf den Film, keine Debatte der streitenden Parteien.

Das war das Ende der Aufklärung und der Beginn der offiziellen Volks-Verdummung. Die inoffizielle währet schon seit Jahrzehnten. Wie sie es nicht nötig haben, brandheiße Ereignisse – wie die Empörung der Jugend, die Verhaftung einer zur Verbrecherin erklärten Menschenretterin – zu debattieren, so haben sie es nicht nötig, diesen Höhepunkt der neutralen Weltgeist-Beobachtung direkt nach der Tagesschau auszustrahlen. Der Film wurde, nach dem obligaten Fußball-Vergnügen, erst nach 23.00 Uhr gezeigt. Die Zuschauerquote muss erfreulich niedrig gewesen sein. Das Volk sollte durch verstörende Schreikinder nicht aus dem Schlaf geschreckt werden.

Die Filmemacher blieben inkognito, gebärdeten sich als Inbegriff des kaltblütigen Hegel‘schen Weltgeistes. Ein wohlwollender FAZ-Beobachter der Beobachter sprach von „teilnehmender Beobachtung.“

„Wer offene Augen und Ohren hat, kann sich die Zusammenhänge an fünf Fingern abzählen und ein Urteil bilden, das die Regisseure Jörg Adolph und Ralf Bücheler eben nicht, wie es heute im Journalismus üblich ist, durch einen eigenen Kommentar vorgeben. Sie lassen die Dinge und die Beteiligten für sich sprechen. Man nennt das teilnehmende Beobachtung, klassische Dokumentarfilmschule.“ (FAZ.NET)

Was kann eine teil-nehmende Beobachtung sein, wenn eine emotionale Teilnahme verboten ist? Die Dinge sprechen für sich? In wie vielen verschiedenen

Sprachen? Sprächen sie in einer Sprache – woher die unterschiedlichen Gefühle?

„Die „Teilnahme“ kann dabei je nach dem Verständnis der Methode beziehungsweise dem gepflegten Vorgehen von bloßer physischer Präsenz bis zur vollständigen Interaktion mit eigener Rolle in der Gruppe reichen. Für den Wissenschaftler bedeutet teilnehmende Beobachtung ein ständiges Lavieren zwischen Nähe (Teilnahme) und Distanz (Beobachtung). Die Distanz ist nötig, um die Erfahrungen wissenschaftlich zu reflektieren, und soll vor dem „going native“ beziehungsweise der schleichenden Übernahme des Selbstverständnisses der Gruppe bewahren.“ (Wiki)

Offenbar kann Teilnahme alles bedeuten, sie schließt nichts aus. Das muss Wissenschaft sein.

Nur Gott kann sich unsichtbar machen und die Dinge der Welt betrachten, wie sie sind. Pardon: Gott, Journalisten, Wissenschaftler und Dokumentarfilmer, die die Realität erschaffen, beschreiben, erforschen und filmen just, wie sie ist. Da sollte sich die abendländische Erkenntnistheorie schämen, dass sie aus Wahrnehmen und Erkennen ein undurchschaubares Gespinst gemacht hat.

Kantianer jedenfalls können sie nicht sein, die Gott, Edelschreiber, Szientisten und Filmer. Das Ding an sich ist für Kant unerkennbar, es kann nicht für sich sprechen. Der Mensch muss es erst zum Sprechen bringen. Wie aber kann er feststellen, dass er die Dinge objektiv zum Sprechen brachte, wenn er nie dabei war, wie die Dinge unbeobachtet untereinander sprechen? Kann er nicht. Er muss sich bescheiden mit jenen Erkenntnissen, die durch seine Anwesenheit mitgeprägt sind.

Und jetzt enthüllen wir das Geheimnis der abendländischen Erkenntnistheorie. Wenn wir die Dinge an sich nicht erkennen, so bedeutet das

a) Demut des Christenmenschen, der sich mit Gott nicht vergleichen kann. Nur ER sieht die Schöpfung, wie sie ist. ER las den italienischen Philosophen Vico, der Ihm erklärte, ER könne nur erkennen, was ER selbst erschaffen habe. Das leuchtete IHM ein und also erschuf er die Welt aus Nichts.  

b) Gleichzeitig bedeutet es das Gegenteil von Demut – göttliche Tugenden sind immer die Einheit der Gegensätze –, denn der Mensch ist in der Lage, die unbekannten Dinge zwar nicht herzustellen, aber zu prägen, damit er sie erkennen kann. Zu erkennen, wie er sie prägte, nicht, wie sie sind. Das setzt eine gewisse Gottähnlichkeit voraus, die bei Kants Nachfolgern zur kompletten Gottähnlichkeit wurde – die alles erkennen kann. Fichte, Hegel, Marx bestanden auf Erfüllung der Verheißung: ihr werdet sein wie Gott und siehe, der Mensch ist worden wie Unsereiner.

Als Adam sein Weib Eva erkannte, schwängerte er sie und konnte durch Zeugen vieler Kinder daran gehen, sich die Erde untertan zu machen. Hiob war weit entfernt von jener Gottähnlichkeit, die ihn hätte befähigen können, die Dinge in jungfräulicher Reinheit zu erkennen.

„Gürte deine Lenden wie ein Mann; ich will dich fragen, lehre mich! Wo warst du, da ich die Erde gründete? Sage an, bist du so klug! Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie eine Richtschnur gezogen hat? Worauf stehen ihre Füße versenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt, da mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Kinder Gottes?“

Und Hiob erkannte, dass er ein aufgeblasener Ignorant war:

„Darum bekenne ich, daß ich habe unweise geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe.“

Erst in der frühen Moderne gelang es Francis Bacon, die abendländische Menschheit zu überzeugen, dass man durch wissenschaftliches Erkennen die Natur besser unter Kontrolle kriegen kann, als durch endloses Kinderkriegen. Naturwissenschaft wurde zum jus primae noctis. Doch die Wissenschaftler haben bis heute nicht verstanden, dass bloßes Penetrieren Vergewaltigen ist. Sie glauben die Natur immer besser zu erkennen, je mehr sie ihr Gewalt antun.

„Denn der Mensch ist durch den Sündenfall um seine Unschuld und seine Herrschaft über die Natur gekommen. Beides aber kann im Leben gewissermaßen wiedergewonnen werden; das erste durch religiösen Glauben, das letzte durch Kunst und Wissenschaft. Nicht ganz und gar ist die Schöpfung uns durch den Fluch widerspenstig worden, sondern in jenem Machtspruche: „im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!“, liegt zugleich die Zusicherung, dass wir durch steten Fleiß (nicht aber durch Disputationen oder leere magische Formeln) unser Brot zu erwerben, d. i. ein fruchtbringendes Leben zu führen, im Stande sein werden.“ (Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaften)

Beides gehört zusammen: Wissenschaft und Malochen, um die Erde gefügig zu machen. Wissenschaft erkennt, wie Natur ist, Arbeit nutzt die Erkenntnisse, um mit ihrer Hilfe die Erde in Besitz zu nehmen.

Vom wahrheitssuchenden dialogischen Agon hielt Bacon nichts. Die gesamte Kosmologie der alten Griechen bis zu Campanella verwarf er als „nutzlose Mythen“. Ziel der Wissenschaft war für ihn nicht Erkenntnis der Wahrheit an sich oder die Fülle des Geistes, sondern die Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse. Die Alten hätten kein einziges Experiment überliefert, das „zur Erleichterung und zur Hebung der Lage der Menschen diente“. Alles, was nicht dem technischen Fortschritt diente, verwarf er mit verächtlichen Worten. Fortschritte waren für ihn „Nachahmungen der göttlichen Werke“ mit Schöpfungsqualitäten. Die Erfindung von „Schießpulver, Kompaß und Buchdruck“ waren für ihn die Einleitung eines Weltprozesses von unabsehbarer Wirkung: „denn diese drei verwandelten das Gesicht der Welt und hatten unendliche Veränderungen zur Folge, sodass kein Reich, keine Sekte mehr Macht über das Leben ausübte als diese Erfindungen.“

„Die technische Überlegenheit der Europäer über die Wilden Neu-Indiens begründete ihm als solche das spätere Hobbes-Wort vom homo homini Deus: die Gottähnlichkeit des homo faber.“ (Friedrich Wagner)

Die Deutschen benötigten noch 3 Jahrhunderte, bis sie die anglikanische Gottähnlichkeit erreicht hatten – im Philosophischen. Dann dauerte es erneut 100 Jahre, bis die deutsche Naturwissenschaft die Spitze in der Welt übernahm. Seitdem heißt das Motto der Deutschen: zurückbleiben, um alle zu überholen.

Das betrifft auch ihre kapitalistischen Fähigkeiten, die noch lange von antikapitalistischen Ressentiments durchzogen waren. Erst als Befreite und Besiegte durften sie sich mit ihren Befreiern identifizieren – um sie zu überholen und ganz Amerika mit Volkswagen zu überschwemmen. Momentan lassen sie sich wieder zurückhängen. Doch wartet nur ein Weilchen: bald werden sie wiederkommen und es sogar mit China aufnehmen.

Bacon wollte nicht Wahrheit an sich erkennen. Das wäre heidnische Vermessenheit. Er wollte mehr und weniger. Mehr, indem er Macht durch Erkenntnis wollte. Und weniger, indem er sich mit dem Erkennen der Oberfläche begnügte. Damit nahm er Kant vorweg. Erkennen der Phänomene war Demut, Beherrschen der Erde Gottähnlichkeit. Die Letzten werden die Ersten sein.

Wo also können wir die Dokufilmer unterbringen: bei Bacon und Kant? Niemals. Beide wollten nicht wissen, wie die Dinge an sich sind, sie wollten die sichtbaren Oberflächen-Phänomene herausfinden, um sich Macht anzueignen. Macht über schreiende Kinder? Da werden die Filmer empört den Kopf schütteln.

Wie aber könnten sie begründen, dass sie die Dinge selbst zum Sprechen bringen wollten? Der Einfältigste weiß, dass bloße Präsenz die beobachteten Dinge verändert. Heisenberg muss seine kindliche Einfalt bewahrt haben, dass er dem atomaren Geschehen ins Herz schlüpfen konnte. Dort fand er keine unabhängigen Wahrheiten, sondern vom Beobachter abhängige Wahrscheinlichkeiten. Das war vor 100 Jahren. Haben sich die Erkenntnisse der Quantenphysik bei Filmern, Edelschreibern und Historikern nicht herumgesprochen?

Es gibt kein unbeeinflussendes Beobachten, Erforschen und Beschreiben der Dinge, wie sie sind. Der Mensch steht nicht außerhalb der Natur, er ist kein Gott. Wer mit der Natur verflochten ist, hat Einfluss auf sie. Doch welchen?

Man kann seine Erkenntnisse benutzen, um die Natur zu korrumpieren – oder zu bewahren. Wer Natur erkennt, übernimmt Verantwortung für sie. Er kann sie zerlegen, um sich zum Leviathan zu erheben oder er kann sie bewahren, um seine Heimstatt nicht zu verlieren.

100 Jahre nach Kant kam es zum wissenschaftlichen Positivismus. Das war die Selbstabschaffung aller philosophischen Erkenntnisse im Namen der Wissenschaft. Was nicht mit Rechnen und Experimentieren, wiederholbaren quantitativen Ergebnissen aufwarten konnte, war „Metaphysik“, Geschwall.

Zum Geschwall gehörte die praktische Vernunft, das Nachdenken über moralische Imperative. Aus dem „ist“ kann kein „sollen“ herausgefiltert werden: das war ein ehernes Dogma des Positivismus. Moralische Sätze seien nicht beweisbar, ergo müssten sie aus dem Reich der strengen Wissenschaft ausgeschieden werden. Worüber man nicht reden kann, darüber soll man die Klappe halten.

Woher aber soll man seine ethischen Prinzipien beziehen? Das muss sich jeder aus seinen mystischen Fingern saugen. Moral ist subjektiv, eine rationale Verständigung kann es nicht geben.

Das wäre der Selbstmord jeder Demokratie und rationalen Disputation. Das wäre Postmoderne, in der jeder Mensch in seinem Kokon gefangen bleibt. Dies ist das geistige Klima der heutigen Intellektuellen, die beim Begriff Moral die Flucht ergreifen. Sie begnügen sich mit dem Ist. Was aber, wenn das Ist in den Abgrund führen würde? Müsste man nicht ein Soll konstatieren, um dem Abgrund zu entgehen?

Bis zum gestrigen Tag konnten die Vertreter des alleinseligmachenden Ist sich beruhigt zurücklehnen und abwarten, bis der „Hype der Klimaapokalyptiker“ vorüberginge.

Doch jetzt brennt die Sonne auch den Gerechten ein Loch in den Schädel, sodass Mathias Döpfner, der mediale Boss aller Antiapokalyptiker zur Tat schritt und Luisa Neubauer zur illustren Audienz lud. Wo sich was zu tun scheint, sind deutsche Tagesbeobachter nicht fern. Und wenn sie noch so sehr gegen die „Mode“ gewütet hätten. Das Ist der Ereignisse entscheidet über das Sollen, im siegenden Zeitgeist mitzuschwimmen.

Vor längerem war Mathias Döpfner ein scharfer Kritiker von Google. Als er sah, dass Google weiter siegte, sprang der Springer-Chef auf den siegenden Zug und wurde zum Bewunderer der Zuckerbergs & Co. WELT und BILD schlugen ununterbrochen auf die Klimafanatiker ein. Nun wird’s Zeit, die Seite zu wechseln und auf den Zug der siegenden Geschichte zu springen.

Wer sich auf das Ist verlässt, muss es für menschenfreundlich und verlässlich halten. Sonst dürfte er ihm nicht vertrauen. Hätte das Ist die Tendenz, unberechenbar und gefährlich zu werden, müssten seine Anhänger (sofern sie nicht suizidal sind) umschwenken und dem unzuverlässigen Ist ein rettendes Soll entgegenstellen. Das wäre Moral. Warum entziehen sich alle wissenschaftlichen, medialen und dokumentarischen Positivisten der Pflicht, ihrem Glauben an das Ist zu entsagen?

Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski hat in seinem Buch „Die Philosophie des Positivismus“ die Frage beantwortet:

„Der Positivismus ist ein Akt der Flucht vor engagierenden Fragen. Diese Flucht soll durch einen Wissenschaftsbegriff getarnt werden, der diese Fragen pauschal als Scheinfragen, als Fragen aus geistiger Trägheit für null und nichtig erklärt. Er versucht eine Sprache zu oktroyieren, die von der Pflicht entbindet, in den wichtigsten Konflikten des menschlichen Lebens Stellung zu beziehen.“

Probe aufs Exempel ist stets das Dritte Reich. Hätten die Geschwister Scholl Positivisten zum Widerstand aufgerufen und diese hätten mit dem Argument abgewunken: könnt ihr den moralischen Sinn des Widerstands beweisen? Wenn nicht, lasst uns in Ruhe mit eurer Wichtigtuerei! Wen würden wir als aufrechte Vorbilder ehren?

Der Film Elternschule tat, als könne er in positivistischer Kälte ablichten, wie Schreikinder von ihrer seelischen Krankheit geheilt werden können. Die Art der Therapie war eine verhaltenstherapeutische à la Skinner, die eine strenge Ist-Wissenschaft sein will.

Mit altmodischer Moral gab Skinner sich nicht ab. Der Mensch ist ein wissenschaftlich erfassbares Wesen, das mit wissenschaftlichen Methoden zu kurieren ist. Einem Computer vergleichbar muss das Kind richtig programmiert werden, damit es sich den Erfordernissen der Gesellschaft erfolgreich anpassen kann. Misslingt die Anpassung, muss die Programmierung falsch gewesen sein. Eine neue muss die alte löschen, um dem Kind eine zweite Chance zu geben.

Programmieren besteht aus quantitativen Reizen, auf die das Kind mit berechenbaren Reaktionen reagiert. Führen die Reaktionen zu unerwünschtem Verhalten: da capo al fine. Was richtig und falsch ist, entscheidet nicht der Einzelne, sondern die allmächtige Gesellschaft. Löscht das Alte, damit ein nagelneues Wesen entstehen kann.

Das entspricht der biblischen Heilspädagogik: der Mensch wird in sehr guter Qualität erschaffen, entpuppt sich als ruinöses Wesen, das in der Taufe gelöscht wird, um als neues Wesen aufzuerstehen. Das Alte ist vergangen, siehe, ich habe alles neu gemacht. Mitwirken des Menschen gleich Null. Der Teufel verführt ihn und macht ihn zum Sündenkrüppel, Gott begnadet ihn, löscht seine Defekte und schafft ein neues Wesen aus ihm.

Dass es um Verhaltenstherapie geht, wird im Film nicht erwähnt. Dass es konkurrierende Therapiearten gibt, die ganz andere Methoden verfolgen, wird verschwiegen. Laien wird eine therapeutische Alternativlosigkeit vorgegaukelt. Offensichtlich will der Film streng wissenschaftlich sein, mit „Glaubensstreitigkeiten“ der verschiedenen Schulen aber nichts zu tun haben. Der FAZ-Kritiker folgt blindlings der cineastischen Spur. Die aufbrandende Kritik wird unisono als Shitstorm niedergebügelt:

„Dann setzte ein, was die ARD in ihrem Begleittext als „Shitstorm“ bezeichnet, „der erst die sozialen Medien überschwemmte und schließlich kontroverse Diskussionen in der Presse auslöste“.

Nicht nur das, selbst die Dokufilmer – die doch so objektiv sein wollten – reagierten in Selbstmitleid:

„Der Vorwurf macht die beiden Filmemacher, wie sie in der „Süddeutschen Zeitung“ bekunden, fassungslos. „Wir zeigen keine Gewalt gegen Kinder!“, ruft Ralf Bücheler dort aus. Sie hätten „in jedem Moment nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“, sagt Jörg Adolph in der SZ, aber vielleicht seien „die Zeiten für so einen Film einfach vorbei“, in einer „Gesellschaft des Zorns“, wo „in den Hinterhöfen des Internets“ die Leute erst zufrieden seien, „wenn sie die Knochen brechen hören“.

Knochenbrecher mag es unter den Kritikern gegeben haben. Wenn man aber alle Kritik als gefährlichen Zorn desavouiert, muss man unfähig sein, mit Kritik umzugehen. Immerhin meldeten sich ernst zu nehmende Institutionen wie der Kinderschutzbund zu Wort.

Für den FAZ-Beobachter der Beobachter gab es nicht den kleinsten Grund zur Kritik an der Doku. Allerdings empfahl er eine Diskussion, um es den Knochenbrechern zu zeigen. Dass die Protagonisten des Films den öffentlichen Diskurs verlieren könnten, hält der Edelschreiber für ausgeschlossen. Wo aber ist die Psychotherapie à la Freud geblieben?

„Es rührt an unser Menschenbild, an die Frage, wer und was der Mensch ist, wenn er auf die Welt kommt – ein Idealwesen, wie es sich Rousseau vorgestellt hat, das man in seiner freien Entwicklung nicht behindern darf, oder ein junger Wilder, dem man Grenzen setzen muss, weil er diese selbst nicht kennt – die Kinderklinik in Gelsenkirchen handelt eher nach dieser Annahme.“

Wie sollten Kinder krank werden, wenn sie von Natur aus ideal wären? Wie könnten ideale Eltern nicht ideale Kinder erziehen? Freud kennt keinen idealen Säugling. Bliebe der junge Wilde, seit Millionen Jahren zum rücksichtslosen Energiebündel vorprogrammiert.

Seine Eltern erlebt er als Feinde, die ihm unbefugt seine aggressive Dominanz austreiben wollen. Nicht mit ihm. Scharfsinnig testet er die Eltern, entdeckt ihre Schwächen und schlägt zu, bis jene die Waffen strecken. Der wilde Säugling triumphiert. Das Kinderzimmer wird zum Urwald eines Entweder-Oder. Entweder gewinnt der darwinistische Balg Oder der egoistische Erwachsene, der ein lautlos funktionierendes Kind haben will. Tertium non datur. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

Womit schlagen die Wilden zu? Mit unerträglichem Heulen, Weinen und Schreien. Worin besteht die Therapie? Im Löschen der falschen Reize, die in allzu großer Milde bestanden, das unerwünschte Verhalten des Kindes zu akzeptieren. Radikale Härte ist gefragt – die selbstverständlich keine sein darf. Sie ist nur der Schmerz, um die heilbringende Therapie zu exekutieren.

Anamnesen und Erkundungen der Elterngefühle gibt es nicht. Denn die Innerlichkeit der Gefühle – das Phantasieland der Freudianer – ist für Skinner eine black box. Man muss nur wissen, auf welche Taste man drücken muss, dann beobachte man die äußerliche Reaktion der black box. Der Mensch ist ein außengeleitetes Wesen, sonst nichts. Von außen wird er verdorben, von außen geheilt. Es, Ich oder Über-Ich gibt es nicht.

„Man könnte erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogen wären.“ Der Goethe-Satz wäre den Programmierern ein Gräuel. Zwar machen die Eltern Fehler – aber nur, weil sie falsche Reize setzen. Nicht, weil ihr Charakter die Kinder prägen könnte. Der Verhaltenstherapeut doziert und doziert wie ein Insektenkundler. Die Mütter schweigen hilflos und ängstlich. Sie liefern sich einer Methode aus, mit der sie sich nie auseinandergesetzt haben.

Laien sind überfordert, weil die Probleme der Therapien in keiner Gazette, keiner TV-Sendung erklärt und besprochen werden. Es ist ähnlich wie bei Impfgegnern oder Freunden der Homöopathie: was ist der Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Scharlatanerie? Wohin gehört die Psychotherapie, die inzwischen zum Schamanentum degradiert wurde? Können Geisteswissenschaften nur degenerierte Naturwissenschaften sein, die deren Methoden vergeblich nachzuahmen versuchen?

Skinner wollte Psychologie und Therapie zu Naturwissenschaften erheben, indem er die Physiologie zum Vorbild nahm. In seinem Zukunftsroman Futurum Zwei beschrieb er eine perfekt funktionierende Utopie, die ein platonisch-stalinistischer Totalitarismus ist. An die Stelle der alleinherrschenden Weisen oder der Partei sind Skinner‘sche Programmierer gerückt, die die Gesellschaft aus dem Dunkel beherrschen.

Wie alle Positivisten kann Skinner auf Moral verzichten. Lernen aus der Vergangenheit hält er für abwegig. Über freies Denken und Tun kann er nur lachen. Eines seiner Bücher trägt tatsächlich den Titel: Jenseits von Freiheit und Würde. Das ist wortwörtlich zu nehmen.

Gelegentlich zitiert der Verhaltenstherapeut im Film einen Satz der Mütter: wenn es den Kindern gut geht, geht es auch uns gut. Falsch, falsch. Der Satz müsse auf den Kopf gestellt werden: wenn es der Mutter geht, geht es auch den Kindern gut.

Eine reziproke Abhängigkeit des Gutgehens scheint es nicht zu geben. Was haben zwei atomisierte Maschinen miteinander gemein? Gefühlswelten gibt es nicht, schon gar keine aufklärungsbedürftigen. Das Kind ist nicht der Spiegel seiner Eltern, sondern ein uraltes Produkt der Evolution.

Ergo: Mütter, lasst es euch gut gehen, auch wenn eure Kinder leiden. Sie leiden gar nicht, sie führen Krieg gegen euch. Wappnet euch und schlagt ihnen die Erpressungsmethoden aus der Hand.

Worin besteht die Therapie? In Immunisierung der Eltern gegen das Leid der Kinder, das zur rücksichtslosen Waffe dämonisiert wird. Durch Nicht-Reaktion müssen die Kinder solange heulen und wehklagen, bis sie nicht mehr können. Dann gelten sie als geheilt.

Foltermethoden in Guantanamo müssen ähnlich funktionieren. Irgendwann kann das malträtierte Wesen nicht mehr. Dann gilt es als erfolgreich angepasst. Mit welchen Langzeitschäden? Ach was, das sind Phantastereien der Innerlichkeitsideologen.

Skinner wollte die christliche Belohnungs- und Strafmoral überwinden, indem er positive und negative Reize setzte. Offiziell bestraft wird niemand, doch jedes Ausbleiben des positiven Reizes empfindet der Mensch als Bestrafung.

Positive und negative Reize werden zu Belohnung und Strafe. Gespräche? Überflüssig. Stattdessen predigt der Verhaltenstherapeut, indem er „wissenschaftliche“ Monologe hält.

Auch bei älteren Patienten reduzieren sich Gespräche zu Gebrauchsanweisungen. Erhellende Aufarbeitung der eigenen Biografie – überflüssig. Der Mensch, solange er funktioniert, ist eine stumme Sozialmaschine, die tut, was ihre Umgebung ihr aufträgt.

Völlig objektiv zitiert der FAZ-Beobachter einen Experten, der rein zufällig derselben Therapieschule angehört:

„Das Missverständnis indes, welches das Echo auf den Film „Elternschule“ kennzeichnet, legte der Ärztliche Direktor der Ulmer Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jörg Fegert, im Gespräch mit der „Märkischen Allgemeinen“ dar. Mit „schwarzer Pädagogik“ habe das Gezeigte nichts zu tun, sagte er. Die Therapieinhalte seien „lege artis – entsprechen also den Regeln der „ärztlichen beziehungsweise psychotherapeutischen Kunst“.“

Alles nach Vorschrift. Von wem erlassen? Mit welcher Begründung? Fehlanzeige. Hauptsache, es gibt den Ukas eines Zaren, der alle Fragen beantwortet. Alles korrekt im Film – doch nur, wenn es um Therapie geht.

„Die Methoden sind das letzte Mittel, bevor sich die Kinder massiv selbst schädigen und in Lebensgefahr geraten oder Eltern drohen, die Selbstkontrolle zu verlieren und es zu Misshandlungen kommen könnte“. Haben die Kritiker nicht doch recht? „Nicht“, sagt der Jugendpsychiater Jörg Fegert, „wenn man das Ganze als Krankenbehandlung sieht – schon, wenn man das als allgemeine Elternschule oder Erziehungsempfehlung ansieht.“

Die gewöhnliche Erziehung scheint diametral verschieden zu sein von einer Therapie. Was hier unerlässlich ist, muss dort eine Katastrophe sein. Im Mittelalter sprachen sie von doppelter Wahrheit.

Hört ihr die Kinder weinen? Das schien überwunden, jetzt ist es wieder da. Müttern müssen die Kinder entzogen werden, dass sie keinen Vorwand mehr haben, sich dem heilsamen Kapitalismus zu entziehen.

Lösen, lösen ist die Parole, damit enge Beziehungen nicht die zunehmende „Flexibilität und Mobilität“ der Wirtschaft bremsen. Lösen so früh wie möglich, damit atomisierte Monaden reibungslos verschoben und dort eingesetzt werden können, wo sie gebraucht werden.

Bereits in den Kitas müssen sich die Kinder nach bürokratischen Regeln von den Eltern lösen, damit der Betrieb nicht gestört werde. Wer nicht funktioniert, fliegt. Danach die Schulpflicht. Wer es wagt, sich von der Schule zu lösen, wird von der Polizei vorgeführt. Was ihr lösen werdet, das soll gelöst, was ihr binden werdet, soll gebunden sein.

Hört ihr die Flüchtenden und Ertrinkenden weinen, die Hungernden und Elenden wimmern? Lasst sie winseln. Sie wollen euch bloß weichkochen, rechnen kaltblütig mit eurem sentimentalen Mitleid.
Klebt nicht an eurem jämmerlichen Leben. Löst euch! Die Klimakatastrophe steht vor der Tür – und wird euch er-lösen.

 

Fortsetzung folgt.