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Von vorne XXXI

Von vorne XXXI,

plötzlich entdecken deutsche Medien, dass Talk-shows reglementierte Choreographien sind. Wunschteilnehmer werden in Vorgesprächen auf ihren zirzensischen Unterhaltungswert taxiert. Das gesellschaftliche Meinungsspektrum muss von der Gesprächsrunde in spannender Weise dargestellt werden. Wer zur Disputation dramaturgisch nichts beizusteuern verspricht, wird aussortiert.

Meinungszensur? Niemals! Man will nur sichergehen, dass man bestimmten Positionen kein „Forum bietet“. Doch halt: ist Forum kein Ort für Gespräche? Wie kann man jemanden ins TV-Studio einladen, ohne ihm eine öffentliche Bühne zu bieten?

„Forum (Kultur), ein realer oder virtueller Ort, wo Meinungen untereinander ausgetauscht werden können, Fragen gestellt und beantwortet werden können.“ (Wiki)

Staatsfromme TV-Sender scheinen zu befürchten, unliebsame Meinungen könnten so wortmächtig vertreten werden, dass sie das Publikum übermäßig in den Bann ziehen. Die Veranstalter trauen den anderen Disputanten anscheinend nicht zu, die Ausreißer mit seriösen Argumenten zu überzeugen oder zu „besiegen“. Das Publikum wird so verführbar eingeschätzt, dass es „populistischen“ Phrasen blindlings folgt.

Was bedeutet das? Die Gesellschaft muss in derart bedenklicher Verfassung sein, dass sie ihre demokratischen Prinzipien in Streitgesprächen nicht verteidigen kann.

Nach Markus Lanz, dem man inzwischen jede Moderatorenfähigkeit absprach, war Frank Plasberg fällig. Ein evangelischer Kirchentagspräsident hat ihn

in der SZ kraft seines geistlichen Amtes angezählt:

„Wenn es um die AfD geht, werden viele Journalisten unruhig, die einen verfallen in eine Art Überkorrektheit, sie scheinen ständig beweisen zu müssen, dass sie diese Partei so fair wie alle andere Parteien behandeln. Die anderen agieren so aggressiv, als befänden sie sich auf einem permanenten Feldzug. Andererseits ist Nicht-Einladen in diesem Fall auch keine Lösung. Denn eine Talkshow ist kein Kirchentag.“ (Sueddeutsche.de)

Leyendecker bezieht sich auf Plasbergs Schlussbemerkung, um seinen Eindruck zu unterstreichen, dass der Moderator, wohl aus Gründen der „Überkorrektheit“, dem AfD-Mann allzu viel Gelegenheit gegeben habe, seine Verharmlosung rechter Gewalt unters Volk zu bringen.

„Dass Plasberg sich am Ende an Junge wandte und erklärte: „Sie hatten das letzte Wort. Ich hoffe, Sie hatten nicht den Eindruck, an einem Tribunal teilgenommen zu haben“, verdeutlicht das Problem.“

Offensichtlich wollte Plasberg – entgegen seiner sonstigen Oberrichterfunktion – dieses Mal den Eindruck vermeiden, parteiisch dem Mainstream verpflichtet zu sein. Warum aber spricht Leyendecker von Überkorrektheit, wenn jede demokratische Meinung (sofern sie vom Gesetz nicht verboten ist) sich in gleichwertiger Weise darstellen darf?

Zwinkert der Kirchentagspräsident nicht mit den Augen, wenn er zu raunen scheint, das mit der demokratischen Korrektheit könne man auch übertreiben? Wer es mit der Höflichkeit nicht ernst nehme, dem könne man ruhig mal eins vor den Latz knallen?

„Die ausgeprägte Verachtung der AfD für Umgangsformen aller Art müsste eigentlich für Junge als ehemaligen Berufsoffizier selbst ziemlich unerträglich sein.“

Gehorsam und Befehl, Kommandieren und Strammstehen gehören zu den zivilen Umgangsformen, die wir brauchen? Als Trump die diplomatischen Regeln der Politik zu verhöhnen begann, wurde er in Deutschland heftig gescholten. Heute haben sich viele europäische Politiker seine Flegeleien zu eigen gemacht.

Verhalte dich so, dass du maximale Erfolgschancen hast: das ist die ökonomische Effizienzregel, die sich längst der Politik bemächtigt hat. Wenn Demut und gesittete Töne nützlich sind – was spricht gegen sie? Arbeitet der himmlische Vater nicht auch mit Engeln und Teufeln, um seine Macht zu demonstrieren?

Mit wem muss man in einer Demokratie sprechen? Wen kann man ignorieren oder links liegen lassen? Sollte Demokratie vom wahrheitssuchenden Streit seiner Mitglieder leben, müsste man mit jedem sprechen – der mit sich sprechen ließe. Schon aus Selbsterhaltungsgründen. Wer nicht spricht, greift zum Messer.

Dieses Sprechen aber setzte eine gemeinsame Vorstellung über das Gespräch voraus. Wer die Regeln eines sinnvollen Gesprächs verletzt, dem kann man sagen: Bruder, wenn du mich nicht aussprechen lässt, mir nicht zuhörst, auf meine Argumente mit keinem Wörtchen eingehst, dann wundere dich nicht, wenn ich dir die rote Karte zeige.

Solange wir jedoch versuchen, den eigenen Standpunkt zu begründen und den der anderen zu widerlegen, solange gibt es keinen Grund, uns gegenseitig durch Gesprächsverweigerung zu diffamieren.

Die Kennzeichen eines sinnvollen Gesprächs sind im Lande Luthers unbekannt. Den eigenen Gesichtspunkt sollte man nicht nur begründen können, den gegnerischen sollte man verstanden haben, um ihn – zu widerlegen. Verstehen heißt nicht alles absegnen.

Verstehen heißt, nachvollziehen können, wie der andere zu seiner Meinung kam. Ohne befragen geht das nicht. Fragen ist heute verpönt, weil es nach Seelenklempnerei riecht.

Nach postmodernem Zeitgeist ist Verstehen eine Illusion. Wenn jeder in seinem subjektiven Universum befangen ist, kann er die Subjektivität des ganz anderen nicht nachempfinden. Den anderen verstehen setzt voraus, dass es gemeinsame Grundlagen der Gesprächspartner gibt.

Den anderen verstehen setzt zudem voraus, dass ich mich selbst verstanden habe. Solange ich nicht weiß, wie meine Meinungen zustande kamen, bleibe ich unfähig, den Entwicklungsprozess anderer Meinungen zu rekonstruieren.

Intensive Gespräche setzen Zeit und Muße voraus. Unter Zeitdruck kann es keine Gespräche geben. Müsste man auf psychologische Anamnesen verzichten, wäre es gleichwohl unerlässlich, die wichtigsten logischen Argumente vorzutragen. Wann gilt ein Argument als widerlegt? Wenn es sich in Widersprüche verwickelt. Das aber setzt die Anerkennung der Logik voraus.

Spätestens hier wären die meisten deutschen Gespräche beendet. Logische Notwendigkeiten sind für die Einheimischen seit der Romantik verpönt. Hegel und Marx, romantische Verächter der Logik, waren Befürworter der Dialektik, die alle logischen Unverträglichkeiten für überwindbar hielten.

Wer sich einen sportlichen Wettkampf liefert, muss dieselben Regeln der Fairness akzeptieren. Wer nicht die Abseitsregeln kennt, kann kein Fußballer sein.

Demokraten hingegen können die Streit- und Verständigungsregeln der Agora mit Füßen treten. Vor jeder Debatte müssten die Regeln des Streits geklärt werden. Nun wird klar, warum es in Talkshows nur diktatorische Moderatoren gibt. Diese Talkshows sind absolutistischen Staaten vergleichbar, in denen Konflikte nur mit Interventionen von Oben entschieden werden können.

Wer in Deutschland Gespräche einführen wollte, müsste alle Talkshows verbieten. Denn Urgespräche sind noch immer Zwiegespräche: Stich um Stich, Meinung gegen Meinung. Dann erst kämen Gruppengespräche, in denen sich Zwiegespräche verschiedener Paarungen ablösen könnten. Gruppengespräche in lebendigem Hin und Her sind nur in vertrauten Runden möglich.

Was sind Argumente? Begründungen einer Meinung in konzentrierter Kurzform. Wenige Sätze müssen genügen – um von wenigen Sätzen bestätigt oder widerlegt zu werden.

Talkshows sind keine Dialoge, sondern Dialogpredigten, in denen jeder jeden mit rhetorischen Überrumpelungskünsten niederzumachen versucht. In jedem dieser Monologe stecken Dutzende „Argumente“, die alle einzeln seziert und präzis unter die Lupe genommen werden müssten.

Viel- und Schnellschwätzer hingegen agieren nach dem Motto: wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Nicht die Nachdenklichen gelten etwas in der Öffentlichkeit, sondern die Plappermäuler, die Gags produzieren, um als Sieger bewertet zu werden. In Redaktionen sind Menschen am meisten angesehen, die aus dem Stand wie gedruckt formulieren können. Es herrscht Angst vor der nachdenklichen Stille. Wer zwei Sekunden lang stumm bliebe, hätte seine TV-Karriere hinter sich.

Zweiergespräche gibt es im deutschen TV so gut wie nicht. Das schweizerische Fernsehen ist dem deutschen in diesem Punkt um Längen voraus. Günter Gaus war der letzte, der solche TV-Gespräche führen konnte. An seine Fähigkeiten zu erinnern, hat mit Nostalgie nichts zu tun, wie der Kirchenpräsident wissen sollte, dessen Glauben bereits vor zwei Jahrtausenden niedergelegt wurde.

Zwischen Zweierdialog und Gruppengeschwätz kann der Präsident nicht unterscheiden. Gaus kam dem Dialog am nächsten. Nur eins versperrte ihm den Weg zum wahren Dialog: die Nötigung, ständig Fragen zu stellen, anstatt Meinung mit Meinung zu begegnen. An der Qualität seiner Fragen konnte man erkennen, wie fundiert seine Standpunkte waren.

Die Fragen der Gegenwart wollen vor allem Sensationen und Überraschungen herauskitzeln. Wer der Kanzlerin entlocken würde, dass ihr Zittern sie zum baldigen Rücktritt führen würde, wäre König der Überlister.

Interviews sind keine Dialoge, sondern Erfindungen falsch verstandener Objektivität. In echten Gesprächen kann es keine Neutralität geben. Jeder muss sich zu erkennen geben und mit seiner Sache herausrücken. Interviews schmeicheln der Eitelkeit der Interviewten, weil sie sich als „Experten“ wichtig fühlen dürfen. Sie schmeicheln aber auch der Eitelkeit der Interviewer, die glauben, ihre Überlegenheit mit jeder Frage bewiesen zu haben.

Um die Qualität der Fragen zu überprüfen, müssten die Befragten selbst das Recht haben, die Frager in Frage zu stellen. Das aber widerspräche dem Dogma der Tagesbeobachter, sich hinter Neutralität und Objektivität zu verstecken. Sie wollen nur schreiben, was ist – um ihre Experten zur Erklärung des „ist“ zu verleiten. Das „ist“ kann aber nur erfasst werden, wenn sein Gewordensein verstanden und beurteilt wird. Nur der begnügt sich mit dem „ist“, der die Macht des „Seins“ für sich beansprucht.

„Also was ist, nicht was sein soll, will er darstellen“ – wurde wem zugeschrieben? Einem gewissen Machiavelli, dem Begründer des modernen Machtdenkens. (bei Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation)

Doch die Beschränkung auf das, was ist, ist nur eine Selbstüberlistung linearer Geschichtsdenker. Solange Zeit voranschreitet und alles verändert, kann es ein statisches Ist gar nicht geben. Was heute ist, ist morgen vom Erdboden verschwunden:

Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein;
Wo ietzundt städte stehn, wird eine Wiese seyn,
Auf der ein schäfers kind wird spielen mit den herden;

Was itzundt prächtig blüth, sol bald zutreten werden;
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen asch und bein;
Nichts ist, das ewig sey, kein ertz, kein marmorstein.
Jetzt lacht das glück uns an, bald donnern die beschwerden. (Andreas Gryphius)

Wer sich auf das Ist beschränkt, ohne sein Gewordensein und potentielles Werden zu verstehen, versteht nichts, wenn er sich auf das Konstatieren eines Augenblicks beschränkt.

Wer von den Dingen nichts verstehen will, kann auch die Qualität der Experten nicht beurteilen, deren Kompetenz er voraussetzen muss. Der Nichtwissende erkühnt sich, die Qualität der Wissenden einzuschätzen. Der Fragende maßt sich die Rolle des unwissenden Kindes an, das die Welt vom Punkte Null an erkundet.

Das ist Selbstbetrug, denn jedes Erkennen wollen muss das Maß der eigenen Irrungen und Verwirrungen durchschaut haben, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Aus der angemaßten Naivität des Kindes wird so die Haltung: Ich stell mich mal ganz dumm. Wer sich ständig dumm stellt, wird es auch.

Eine Talkshow ist kein Kirchentag, stellt der Kirchentagspräsident in überlegener Demut fest. Hier waltet der Heilige Geist, dort die Niederungen der weltlichen Demokratie. Die Frommen haben die AfD ausgeladen. Offiziell wollen sie nicht mit ihnen sprechen. Unters Fußvolk dürfen sie sich mischen. Der charismatische Schal gebührt nur den Erwählten. Die Christen beginnen wieder zu ächten und auszusortieren: die Bösen gehören nicht zu ihnen.

„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder“ – sang Franz Josef Degenhardt.

Jetzt haben wir sie wieder, die ex cathedra ausgeschlossenen Schmuddelkinder. Wie bedrohlich muss die Angst der Selektierer sein, Reden mit Sündern könnte nach klammheimlicher Kumpanei aussehen. Wer mit Andersdenkenden redet, sie gar versteht, macht sich mit ihnen gemein.

Sie aber wollen sich mit niemandem gemein machen, ob sie gut oder böse sind. Nicht nur Medien wollen geistig jungfräulich bleiben, nun auch die Gesalbten des Herrn. Sie schütteln den Staub von ihren Füßen, wenn sie spüren, dass ihre Überlegenheit von anderen nicht akzeptiert wird. Leyendecker übersieht zudem, dass viele Rechte biblische Christen sind.

Wie verträgt sich diese Ächtung mit jener Nächstenliebe, mit der die Christen ihre weltüberragende Ethik begründen:

„Denn wenn ihr nur mit denen redet, die euch lieben und eure Meinung teilen, was habt ihr für einen Lohn? Tun nicht auch die Heiden dasselbe? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes? Tun nicht die Heiden dasselbe? Ihr nun sollt vollkommen sein.“

Die Heiden waren vor allem die Hellenen, die mit allen Menschen sprachen. Es war die Entdeckung der Gleichheit aller Menschen, die das unerhörte Gebilde der Demokratie zur politischen Wirklichkeit werden ließ. Also der Gedanke: jeder ist dem andern ähnlich und gleich viel wert. Die Trennung der Menschen in Stände, in Vornehme und Verachtete ist nicht gerechtfertigt. Alle müssen auf der Agora zusammenströmen, damit jeder mit jedem ins Gespräch kommen kann.

Von Natur aus gibt es keine Weisen und Toren, keine Reichen und Armen. Wir alle sind Geschwister der Natur, im Gegensatz zu den geistlichen Geschwistern, die es nur vor dem Herrn sind. Wer nicht des Herrn ist, kann kein Geschwister sein, sondern ein Feind, den man noch eine kurze Weile ertragen muss. Im Jenseits werden sich alle Probleme in Nichts auflösen.

Diese vorbildlichen hellenischen Heiden sollten übertroffen werden – durch unbedingte Feindesliebe. Jetzt kommen wir an die bigotte Auslegungskunst der Christen. Würden sie die vollkommene Nächstenliebe ernst nehmen, dürften sie die „Sünder und Zöllner“ nicht ausschließen. Wie kann ich jenen meine Sanftmut und Lindigkeit zukommen lassen, wenn ich sie nicht mal eines Gesprächs für würdig halte?

Wer Andersdenkende ausschließt, verletzt ihre Würde, die allen Menschen zusteht – auch jenen, die selbst die Würde anderer verletzt haben. Auch Verbrechern darf die Würde nicht aberkannt werden. Wurden sie bestraft im Namen des Gesetzes, ist ihre Würde geachtet worden. Der Missetäter wurde nicht, wie in früheren Zeiten, als Teufel geköpft und gevierteilt. Seine Strafe soll die Gesellschaft vor ihm schützen. Gleichwohl soll er die Gelegenheit erhalten, über sein verpfuschtes Leben nachzudenken. Er soll eine zweite Chance erhalten.

Gibt eine Gesellschaft ihre Missratenen auf, hat sie sich selbst aufgegeben. Wer hat denn jene geprägt und gebrandmarkt? Wer schaute kalt und unbeteiligt zu, wie sie im Verlauf ihres Lebens immer mehr entgleisten und gefährlicher wurden?

Antwort: die Gesellschaft – oder wir alle. Wer glaubt, sich hier aus der Verantwortung stehlen zu können, weil er stets einen anständigen Lebenswandel geführt habe, hat Demokratie nicht verstanden.

Und dies ist der gewaltige Unterschied zwischen dem Euangellion und der heidnischen humanitas. Im christlichen Glauben gibt es einen unüberbrückbaren Graben zwischen Erwählten und Verworfenen. In der Polis kommen alle Menschen zusammen, um gleichberechtigt über ihr gemeinsames Schicksal zu beraten und zu entscheiden.

Christen brillieren vor der Welt mit dem Ethos der Agape. Doch wenn es um die Dinge der sündigen Welt geht, darf haltlos gesündigt werden. Sündiget tapfer, Gott liebt die fröhlichen Sünder. Nächstenliebe gilt nur im Bereich der Gemeinde. In der Welt aber gilt das Gesetz der Welt. Du sollst nicht töten? Gewiss, im Himmel! Wenn aber die Russen angreifen, gilt: wenn dir jemand auf den Backen schlägt, schlag ihm den Schädel ein.

Die athenische Polis begann mit innenpolitischer Gleichberechtigung und außenpolitischer Feindeslogik. Gegner des Stadstaates wurden nicht selten nach alter Väter Sitte abgeschlachtet oder versklavt. Aristoteleles war einer der letzten großen Philosophen, der daran festhielt, dass es Sklaven von Natur aus gebe.

Die sokratischen Schulen räumten diese Zweiteilung der Menschheit beiseite. In Alexanders Weltreich dominierte die kosmopolitische Gleichheit aller Menschen. Nicht Gleichheit als charakterliche Uniformität, sondern als Gleichwertigkeit unendlich vieler Individualitäten.

Was unterscheidet den hellenischen Geist grundlegend vom christlichen? Kosmopoliten müssen keine Feinde lieben, denn sie haben keine. Sie haben politische Gegner, sie können von fremden Völkern angegriffen werden. Dann haben sie das Recht, sich zur Wehr zu setzen. Doch jene „Feinde“ sind keine von Gott verworfenen Teufel. Alexander verheiratete viele seiner makedonischen Soldaten mit Töchtern ehemaliger Feinde.

Leyendecker verabscheut das Ja, Aber. Nicht lange her, da war der strikte Unterschied zwischen Gut und Böse, Weiß und Schwarz verpönt. Alles war nur ein Grau in Grau, ein Ja, Aber. Über Nacht ändert sich der Zeitgeist und alles steht auf dem Kopf – ohne dass irgendjemand es bemerken will. Die geschmeidige Anpassung an den veränderlichen Fluss der Dinge soll auch niemand wahrnehmen. Weshalb das biblische Gebot gilt:

„Gedenkt nicht an das Alte und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues machen.“

Der Futurismus der Gegenwart ist identisch mit dem biblischen Gebot, die Vergangenheit zu verdrängen und vorauszuschauen auf das Kommen eines überirdischen Retters.

Leyendecker zitiert zustimmend seinen Kollegen Mascolo, der bei Plasberg die markige Devise ausgab:

„Sobald es „um irgendeine Form der Gewalt geht, dann dürfen Sätze nie mit ,Ja aber‘ beginnen, sondern immer mit ,Hier endet es‘.

Mascolo irrt, was auch immer der eingeladene AfD-Mann mit seinem Ja, Aber gemeint haben könnte. Sätze, in denen es um Gewalt und alle Formen der Menschenfeindschaft geht, dürfen nie beendet werden mit den Worten: Hier endet es. Das wäre eine Verurteilung des Amoralischen zum irreversiblen Bösen, das böse ist, weil es böse sein will. Das wäre die Verdammung des Inhumanen zur selbstverschuldeten Bosheit von Menschen, die keine Menschen mehr sind.

Jene Sätze müssten beginnen: Was haben wir falsch gemacht? Wie konnten wir Kinder und Jugendliche ungerührt zu hasserfüllten Erwachsenen heranwachsen lassen? Wie müssen wir unser Erziehungssystem, unsere Schulen verändern? Wann endlich verabschieden wir uns von einem Wirtschaftssystem, das viele Menschen ins Elend treibt und am Ende die Natur zerstört, von der wir alle leben?

Momentan erleben wir heftige Angriffe gegen das „Attachement parenting“, die Pädagogik liebender Beziehung zu den Kindern. Die innige Verbindung soll der Grund sein, warum die Heranwachsenden Mühe haben, sich von ihren Bezugspersonen zu lösen, um selbständig und erwachsen zu werden.

Diese Thesen müssen auf den Kopf gestellt werden, um den Nöten der Gegenwart beizukommen. Nur wenn die Gesellschaft sich in Verantwortung emotional miteinander verbindet, ihre atomisierte Zerlegung beendet und niemanden mehr seinem Elend überlässt, kann die Trostlosigkeit der gegenwärtigen Krise überwunden werden.

 

Fortsetzung folgt.