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Von vorne XXVIII

Von vorne XXVIII,

noch besser wären Klaus Töpfer als Bundespräsident, Luisa Neubauer als Kanzlerin – und Greta Thunberg als Junckers Nachfolgerin.

Doch erst die Sommerfeste der Politiker & Medien. Dann ab in die herrlichsten Urlaubsgebiete des Planeten – bevor diese plastikbeladen im Meer versinken. Zum Schluss die finalen Bestseller:

„Die Schönheit der Welt aus der Sicht des letzten Bewunderers. Es war unbeschreiblich. Willkommen, Aliens, meine neuen Leser. Tragt die Botschaft in die Tiefen des Weltraums. Saget, ihr habt die Erde in ihrem Blute liegen sehen – wie die Botschaft aus dem Jenseits es befahl.“

TV-Kanäle schalten endgültig um auf hitzegesteuertes Demenz-Niveau, Talkshows verschwinden im Sommerloch: Polit-Tatsachen, die debattiert werden müssten, gibt es nicht – und wenn doch, umso schlimmer für die Tatsachen: warum auch hält sich Politik nicht an die Urlaubsregeln der Medien?

Es gibt keinen Klimawandel, längst gibt es einen Klimanotstand. Nicht übertreiben, sagt Berlin. Die Bewahrung der Schöpfung ist der Regierung sehr sehr ernst, predigt die Trösterin ihres Volkes:

„Vor allem in Großbritannien, Australien und Kanada treiben die Menschen so ihre Regierungen vor sich her: Inzwischen haben auch die Parlamente und Regierungen in Irland, Großbritannien und Kanada dieses Alarmsignal gesendet.  Aber der

Begriff „Notstand“ ist dem Haus von SPD-Ministerin Svenja Schulze zu drastisch.“

Mikroben brechen durch den Permafrost:

„Achtung, da kommt noch was! Zu den mehr als 400 ppm Kohlendioxid, die wir bereits jetzt in der Erdatmosphäre haben, werden bei einer Erwärmung um zwei Grad möglicherweise nochmal 100 ppm aus biologischen Prozessen dazu kommen – wie schon früher in der Erdgeschichte.“

Himalaja-Gletscher verschwinden, fruchtbarer Erdboden löst sich in Staub auf:

„Unser Leben hängt von einer dünnen Schicht Erde ab. Diese ist extrem gefährdet. «Unsere Spezies ist offenbar kaum in der Lage, Wissen in Handlung umzusetzen. Wir wussten noch nie so viel über unsere Wirkungen auf die Umwelt wie heute – und haben noch nie so viel zerstört.»“

Dazu verstreute Randnotizen:

Drei Milliarden Frauen weltweit dürfen in der Ehe vergewaltigt werden.

Es gehört nicht zu den Pflichten der Menschenrechte, Seenot-Flüchtlinge an Land zu nehmen, entschied das oberste Gericht Europas.

Vor den Augen der Weltöffentlichkeit sollen die Menschenrechte der Palästinenser in Dollar aufgewogen und abgekauft werden. Die Verwandlung der Menschenwerte in Geldwerte erlebt ihren absoluten Triumph. Demokratie und Menschenrechte, niedergelegt in der UN-Charta, sind am Boden zerstört.

Wiederholt bedroht der Milliardär auf dem Weltenthron ein Land mit „Auslöschung“. Grabesstille in Europa. NATO rüstet auf.

Doch ohne Sorge, seid ohne Sorge: KI wird alle Probleme lösen, noch sind Immobilienpreise auf dem Mars erschwinglich – von den Reisekosten abgesehen. Und Alexa kann schon beten.

Alles kein Thema für das deutsche Paradies auf Erden.

Wenn kein Politgeplapper mehr stört, können wir endlich zur Sache kommen.

„Der Vernunftkünstler, oder, wie Sokrates ihn nennt, der Philodox, strebt bloß nach spekulativem Wissen, ohne darauf zu sehen, wie viel das Wissen zum letzten Zwecke der menschlichen Vernunft beitrage; er gibt Regeln für den Gebrauch der Vernunft zu allerlei beliebigen Zwecken.

Der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, ist der eigentliche Philosoph. Denn Philosophie ist die Idee einer vollkommenen Weisheit, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt.

Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen:

1) Was kann ich wissen? —
2) Was soll ich tun?
3) Was darf ich hoffen?
4) Was ist der Mensch?

Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.

Der Philosoph muß also bestimmen können:

1) die Quellen des menschlichen Wissens,
2) den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens, und endlich
3) Die Grenzen der Vernunft. 

Das letztere ist das Nötigste, aber auch das Schwerste, um das sich aber der Philodox nicht bekümmert.“ (Kant)

Ein Philo-dox ist das Gegenteil eines Philo-sophen. Ersterer ist verliebt in seine subjektive Genialität, der Zweite sucht nach objektiver, menschenverbindender Wahrheit, immer bereit, seine Meinung zu korrigieren – wenn es bessere Argumente gibt.

Nur Liebe zur Wahrheit kann uns retten, Vernarrtheit in unsere Beliebigkeit wird uns den Rest geben. Gibt es keine objektive Erkenntnis, versinken wir im Morast unserer Unvergleichlichkeiten.

Sind Kants Urfragen für uns noch verbindlich und hilfreich?

Was kann ich wissen, ist zur dringlichen Frage geworden, seit Klima-„Skeptiker“ die Ergebnisse der Naturwissenschaften verleugnen. Solange Wissenschaftler sich ihrer Sache nicht sicher sind, und solange es konträre Standpunkte gibt, sind Zweifel an ihren Ergebnissen unabweisbar. Gute Wissenschaftler wissen selbst, dass in diesem Fall ihre Ergebnisse nur Zwischenschritte und keine belastbaren Erkenntnisse sein können.

Seitdem die Frage: was ist eine wissenschaftliche Erkenntnis? im Grundsatzstreit der Wissenschaftstheoretiker nicht mehr eindeutig zu beantworten ist, verschärft sich das Problem einer verlässlich-beweisbaren Naturwissenschaft. So wenig, wie man Sterbepillen experimentell auf Verlässlichkeit überprüfen kann, so wenig kann das einmalige historische Geschehen einer suizidalen Naturverwüstung in wiederholbaren Experimenten verifiziert oder falsifiziert werden. Folgt man der Quantenphysik, gibt es ohnehin keine 100%ig verlässlichen Gesetze, sondern nur Wahrscheinlichkeiten.

Dieser „Probabilismus“ hat gleichwohl noch niemanden daran gehindert, sich ins Flugzeug zu setzen, um die Welt zu umrunden. Gleichwohl besitzt jeder das Recht, wissenschaftliche Erkenntnisse auf den Prüfstand zu stellen. Bloßes Misstrauen genügt nicht. Schon gar nicht, wenn das Misstrauen religiösen Glaubenssystemen entspringt, die ihre biblische Unfehlbarkeit – auch in natürlichen Dingen – zurück erobern wollen. Amerikanische Fundamentalisten haben den Creationismus erfunden, um den Schöpfungsberichten eine Aura von Wissenschaftlichkeit zu retten.

Die Deutschen, immer noch stolz auf ihre einstige wissenschaftliche Überlegenheit, sind sich nicht zu schade, die Grundlagen der Wissenschaft zu verleugnen und zum Biblizismus ihrer Befreier überzulaufen. Wenn niemand schaut, ahmen sie gerne nach, weil sie unfähig sind, ihre abweichenden Erkenntnisse mannhaft zu verteidigen. Zumal ihre Drittes-Reich-Abweichung – die gar nicht so abweichend war, wie wir heute wissen – zu verheerenden Folgen führte.

In der Nachkriegszeit gottlob zur Demokratie verurteilt, schwanken sie heute zwischen der Rolle der Vorzeigeschüler und einem untergründigen Rückfall in ihre antidemokratische Vergangenheit, indem sie die Ventile ihres kollektiven Unbewusstens öffnen. Das ist der Rechtsruck, den sie verdammen, damit sie ihn nicht verstehen müssen, um ihn wirksam zu bekämpfen.

Verstehen ist für sie ein windelweiches Hineinschlüpfen in andere, um eigene Spuren zu verwischen. Für die Erfinder der Psychotherapien war Verstehen die wirksamste Methode im Kampf gegen lebensfeindliche Neurosen und Krankheiten. Im Zweiten Weltkrieg konnten die Engländer die damalige Überlegenheit der Hitler-Luftwaffe nur wirksam bekämpfen, weil sie den geheimen Verschlüsselungscode verstehen und dechiffrieren lernten.

Seit der Nachkriegszeit sind die Deutschen zu Nachahmern geworden, die stolz darauf sind, in allen Lebenslagen en vogue zu sein. Kommt die Mode aus dem gelobten Amerika, gibt’s kein Halten mehr: im Jazz, Pop, in der Hippiebewegung, im Baseball, im Schnelligkeits- und Fortschrittswahn, im grenzenlosen Risiko. Zumal die Philosophie dieser gottähnlichen Unbegrenztheit theoretisch den Gehirnen deutscher Genies entstammt. Hier trifft sich das theoretische Original mit der praktischen Umsetzung. All diese Abhängigkeiten müssen unter der Decke bleiben, damit die Deutschen ihr hochfahrendes Wesen nicht einbüßen.

Die deutschen Leugner des Klimawandels waren bereits herabgesunken auf das Niveau des amerikanischen Creationismus. Die Ergebnisse der Naturwissenschaft waren ihnen schnuppe. Sie bekämpften die „Boten“ des Unglücks, die gekommen waren, um die Katastrophe im letzten Moment zu verhindern. Über Wissenschaft zu sprechen, ist unterhalb des amoralischen Niveaus der Abgrundtänzer.

Was aus ihren Kindern und Jugendlichen wird, ist ihnen Jacke wie Hose. Ihnen genügt die Rückschau auf eine der reichsten und friedlichsten Epochen der deutschen Geschichte, die sich nur ereignen konnte, weil sie als Genies anwesend waren. Die Epoche muss sich geschmeichelt fühlen, solch herausragende Gestalten als Zeitgenossen zu haben.

Den Siegeszug der Wissenschaften im 19. Jahrhundert verdanken die Deutschen dem erfolgreichen Zurückdrängen des religiösen Credos – das sich in hermeneutische Metaphern flüchtete, um trotz allem an der Schrift festzuhalten, ohne sie wörtlich verstehen zu müssen. Sie blieben dem Bann ihrer Offenbarungen verpflichtet, die sie nach Belieben verfälschen konnten. Bultmanns Entmythologisierung wäre ohne den Sieg des szientiven Geistes nicht möglich gewesen.

All dies war in der Vorkriegszeit jedem Intellektuellen bekannt. In der Nachkriegszeit fällt Dunkelheit über das Wasser. Niemand kennt mehr die Unverträglichkeit zwischen Glauben und Wissen – zumal die Befreier selbst biblische Christen und dennoch in allen Wissenschaftsdisziplinen führend sein konnten.

Da die Deutschen nichts von Amerika verstanden, wussten sie nicht, dass die Biblizisten jahrzehntelang das Kriegsbeil begraben hatten, um den militärischen und wirtschaftlichen Sieg der Nation nicht zu gefährden.

Kaum erschienen die ersten Wolken am amerikanischen Firmament, musste nach Gründen gefahndet werden. Lag das nicht daran, dass Gods own country die Schrift der Väter sträflich vernachlässigt hatte? Kein Zufall, dass Reagans Wende zum Neoliberalismus einher ging mit dem Erwachen des Bible Belt.

Selbst die Hippiebewegung hatte es nicht gewagt, die Religion ihrer Jugend völlig vom Tisch zu wischen. Sie hatten sich mit Wischiwaschi-Baghwan begnügt, um unauffällig in die eschatologische Richtung – von Silicon Valley einzuschwenken. Transformation der Religion in Weltherrschaft oder Transsubstantiation von Jesu Leib und Blut in irdische Algorithmen. Heute suchen sie Todlosigkeit oder Auferstehung in digitalen Oblaten.

Offiziell kümmerten sich die deutschen Intellektuellen nicht um Religion. Sie hätten sonst den Antisemitismus der Lutheraner und Papisten im Dritten Reich wahrnehmen müssen. Also begnügten sie sich mit stillschweigender Ignoranz. Christlich fauchten sie nur, wenn das Abendland angegriffen wurde.

Da sie sich einbläuen ließen, die NS-Schergen seien Gottlose gewesen, durften sie nicht mehr vom wahren Glauben abweichen, um nicht in die Fallen des Antisemitismus zu tappen. Christentum war Judentum. Wer dem Neuen Testament abschwört, muss ein Judenfeind sein, denn das Alte Testament war Verheißung, die zur Erfüllung im Neuen Testament wurde.

Wegen all dieser Irrungen und Wirrungen verstanden sie nicht mehr den Geist der Wissenschaften, der sich mit keinem göttlichen Fluch auf die Erkenntnis der Welt verträgt. Wissenschaft kann man nur betreiben, wenn man seine religiösen Denkblockierungen im Kopf weggeräumt hat. Sie wissen nicht, was Religion ist, also können sie nicht wissen, was religionsfreie Wissenschaft ist.

Der Creationismus fand nur wenige Vertreter in Deutschland. Er schlich sich als allgemeine Denkapathie und Logikallergie in alle Kreise der Eliten, von den Ökonomen bis zu den Medien. Das positivistische Motto: „Schreiben, was ist“, war die Bestätigung denkerischer Unwilligkeit, Tatsachen nicht nur zu konstatieren, sondern zu verstehen und zu deuten. Rudolf Augstein hatte mit diesem Motto seine eigene wortmächtige Kommentarkraft verfehlt.

Parallel zur Denkfaulheit der Medien entstand die Wucherung des Kompromisse-schließens zur Unfähigkeit unbedingter Wahrheitssuche. Die Sintflut der Kompromisse in uferlosen GROKO-Bildungen kompromittierte die Wahrheit zu faulen Synthesen und Hintergrund-Mauscheleien.

Verschärft wurde die latente Wahrheitsphobie durch Rückzug auf nationale Pseudoscharmützel. Die geistigen Ereignisse und Streitigkeiten in Amerika, ja selbst bei den europäischen Nachbarn, werden hierzulande nur mit spitzen Fingern berührt – und schnell wieder ad acta gelegt. Man bleibt lieber unter sich.

Die deutsche Medienlandschaft ist zu einem stehenden Sumpf geworden. Selbst wenn es um internationale Angelegenheiten geht, sieht man fast nie Ausländer in den TV-Schwatzrunden.

Übrigens auch kein niederes Volk. Es sind immer dieselben Gesichter im Rotationsverfahren, die ihre Interessen vertreten, aber jedem „herrschaftsfreien Diskurs“ mit ekelverzerrtem Gesicht aus dem Wege gehen. Ist das Volk zu Wahlzeiten dran, sitzen die Lästigen in anonymen Massen im Studio. Jeder darf eine  Frage stellen – mit einer Zusatzfrage. Fragen wohlgemerkt, Meinungen sind nicht gefragt.

Was kann ich wissen? war für Kant kein gedankenloses Feststellen dessen, was ist. Es war die Frage, inwieweit der Mensch die Welt erkennen kann – oder ob es Grenzen der reinen Vernunft gibt. Ich weiß etwas, wenn ich unterscheiden kann, was ich wissen und niemals wissen kann. Hegel erkannte die Fallstricke solcher Grenzziehungen. Wer fähig ist, eine Grenze zu ziehen, hat sie bereits überschritten. Wer nicht weiß, was hinter der Grenze existiert, kann nicht wissen, dass er nichts weiß.

Das klingt nach dem sokratischen „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Und ist dennoch nicht sokratisch. Für Sokrates war jedes angebliche Wissen überprüfungsbedürftig. Mit Grenzen innerhalb eines zwiegespaltenem Kosmos hatte das nichts zu tun. Von allen deutschen Altphilologen kann man hören, dass Sokrates sich von der Natur abgewandt habe, was zu einer subjektiven Wendung des Denkens geführt hätte. Unsinn. Sokrates war kein Relativist, sondern ein Objektivist.

Relativismus warf Sokrates seinen sophistischen Gegnern vor, die mit rhetorischen Kunststücken aus jedem X ein U machen konnten. Sokrates blieb Objektivist bis an sein Lebensende. Vor Gericht warb er leidenschaftlich für die Richtigkeit seiner Meinung, für die er in den Tod ging.

Seine berühmte Formel wollte das objektive Denken verstärken – durch ständige Selbstüberprüfung im Streit auf der Agora. Das aufgeblasene Geschwätz vieler Demokraten wollte er durch mäeutische Überprüfung in verlässlich durchdachtes Denken verwandeln. Schlechte Demokraten wollte er durch kesses Infragestellen in gute Demokraten verwandeln. Seid ihr sicher, fragt er seine Zeitgenossen, ob ihr wisst, was ihr sagt und tut?

Es war ein Aufruf zur intellektuellen Bescheidenheit, wie Popper seinen Lieblingsphilosophen beschreibt. Bescheidenheit ist keine Demut und beugt nicht bigott den Kopf. Sondern ist kritische Selbsteinschätzung: Was rede ich denn da? Habe ich selbst verstanden, was ich im Brustton der Überzeugung von mir gab?

Hatte Sokrates sich von der Natur abgewandt? Nein, er hatte nur gesehen, dass Spekulationen der Naturphilosophen keine Erkenntnisse für den alltäglichen Lebenswandel ergaben. Das war keine Verachtung der Natur. Denn er wandte sich nur von der äußeren zur inneren Natur.

Welche Natur hatte er selbst? Kannte er sich überhaupt? War er noch ein bewusstseinsloses Monstrum oder schon ein bewusster Mensch? Erkenne dich selbst, war die Forderung, sein eigenes Denken und Tun gründlich zu untersuchen.

Suche nach gemeinsamer Wahrheit war Suche nach der gemeinsamen Natur der Vernunft. Welchen Sinn hätte sein öffentliches Streiten gehabt, wenn er vom gemeinsamen Naturgrund des Denkens in allen Menschen nichts gehalten hätte?

Was unterscheidet Sokrates von Kant? Von der Einheit der Natur war Kant nicht überzeugt. Die christliche Schöpfung hatte er in in zwei Teile gespalten: in eine sinnlich erfassbare Erscheinung – und in das unbekannte Ding an sich, den unerfassbaren Kern. Der Mensch kann nur die Oberflächenseite der Welt erkennen, deren Strukturen er selbst prägen konnte, die er danach „entdecken“ durfte. Dahinter steckt die These des italienischen Philosophen Vico, der Mensch könne nur erkennen, was er selber herstellt. Da Natur nicht vom Menschen geschaffen wurde, war wissenschaftliche Naturerkenntnis für Vico ausgeschlossen.

Kant, selbst leidenschaftlicher Naturwissenschaftler, konnte sich mit dieser Vico-These nicht zufrieden geben. Also spaltete er die Natur in Erscheinung und Wesen. Das Wesen blieb unerkennbar, nur die sinnliche Erscheinung war dem Denken zugänglich. Was fehlte? Die sinnliche Erscheinung musste der Mensch, dank seiner apriorischen Fähigkeiten, selbst strukturieren, damit er das Werk seiner Gedanken – gedanklich erfassen konnte.

Was ist apriorisch? Die genialen Präge- und Erkenntnisfähigkeiten des Menschen, die von der Natur unabhängig sind. Somit war klar: nicht nur die Welt, auch der Mensch ist ein Zwitterwesen aus Geist und Natur. Der Geist erhebt sich über die Natur, prägt und erkennt ihre Erscheinungs-Schicht, das Innerste der Natur aber, das Ding an sich, bleibt ihm verschlossen.

Kant, der Aufklärer, verblieb im Dunstkreis des christlichen Dualismus. Die griechische Einheit des Kosmos musste er spalten in einen erkennbaren, selbstgeprägten – und einen unerkennbaren und unerfassbaren Kern. Einerseits besaß er die Prägekraft eines Gottgleichen, andererseits blieb ihm der Kern der „wahren“ Natur verschlossen. Augustins Zweistaatenlehre hatte Kant auf die Natur übertragen. Einen Teil der Natur konnte er regieren, der andere blieb Gott vorbehalten.

Die Spaltungslinie zwischen Schein und Sein war zugleich die Grenze des Erkennens der reinen Vernunft. Wissen heißt, sich begnügen mit dem Erkennen jenes Teils der Natur, bei der der Mensch den Schöpfer spielen konnte: das war noch immer der pietistischen Erziehung Kants geschuldet. Wer die Natur erkennt, weil er sie selbst geformt hat, der ist noch immer von der Gottebenbildlichkeit des Menschen geprägt. Gott tut alles durch sein Wort, heißt: Gott tut, indem er denkt und denkt, indem er tut. Denken und Tun sind für ihn identisch.

Damit seine Gottähnlichkeit nicht übermütig werde, bleibt das Wesen der Natur für ihn unerkennbar. Gottes Weisheit spottet der Erkenntnis der Heiden. Die griechischen Heiden aber waren es, die die Erkenntnis des Kosmos propagiert hatten.

Sokrates war von der Einheit der Natur nicht abgewichen. Er hatte nur herausgefunden, dass man mit Spekulationen über Sonne, Mond und Sterne – sie mochten wahr sein oder erst im Stadium genialen Vermutens – das tägliche Leben in der Demokratie nicht bewältigen konnte.

Auf Erden mussten Fragen gestellt werden, die kein Sternengucken beantworten konnte: was ist selbstbestimmtes Denken, autonome Moral, demokratische Solidarität?

Nach Kant erkennt der Mensch nur das Außenwerk der Natur, das Innere bleibt ihm verborgen. Dies aber hatte zur Folge, dass der moderne Mensch keine Verantwortung für die Natur übernehmen konnte, die er nur von außen wahrnahm. Da er seine Erkenntnisse in technische Macht über die Natur verwandelte, konnte er die wahre Natur nicht tangieren, geschweige in ihren Grundfesten zerrütten.

Im Unwesentlichen bleibt er Gott, im Wesentlichen ein Niemand. Solch ein gespaltenes Wesen kann nie auf die Idee kommen, für ein ewig verschlossenes Ding Verantwortung zu übernehmen. Was immer er in seiner gottähnlichen Eitelkeit tut: die Natur im Innersten kann er nicht berühren.

Sexualistisch gesprochen – das Erkennen der Natur durch den Mann war von Anfang an als koitaler Kampf deklariert–, ist der Mann nur begrenzt fähig, das begehrliche Weib Natur zu penetrieren: das Innerste ihres Lustzentrums bleibt ihm verschlossen. Der gottgleiche Mann ist nicht fähig, das Weib zum Orgasmus zu bringen. Weshalb er sich mit Manipulieren und technischem Vergewaltigen begnügen muss.

Die kantische Naturspaltung spielt eine Rolle bei der Verachtung der Klimaleugner. Was können denn Naturwissenschaftler schon erkennen, wenn sie sich mit unwesentlichen Außendingen begnügen müssen, das Wesentliche aber niemals in den Blick bekommen?

Diese Sicht der Dinge ist identisch mit der Aversion der Frommen gegen gottlose Naturwissenschaft, die sich erkühnt, Aussagen über die Schöpfung Gottes zu machen. Über seine Schöpfung aber bestimmt der Schöpfer allein. Was er mit der Schöpfung zu machen gedenkt, steht unverbrüchlich in seiner Schrift.

Was soll ich tun? Für Kant gab es nur eine Antwort: was meine selbstbestimmte Vernunft mir zu sagen hat. Heteronome Gebote eines Gottes waren Ammenmärchen.

Was darf ich hoffen? Hier war Kant uneindeutig. Einerseits kann der Mensch nur hoffen auf das, was er selber zustande bringt. Andererseits gab es bei ihm noch eine Natur, die den Menschen zu einem bestimmten Tun verleiten konnte, ohne dass der Mensch in diese Manipulation eingeweiht wäre. Marx ersetzt Kants Natur durch eine automatische Heilsgeschichte, die den Menschen ihres Weges führt, ob er will oder nicht.

„So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist gräßlich; und man muss das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist.“ (Kant)

Natur ist schön und erhaben. Aber nur, solange der Mensch sie nicht für bedrohlich hält. Bedrohlich-unbezwingbare Natur erscheint grässlich.

Grässliche Natur erträgt man nur, wenn sie durch eigene Ideen bezwingbar erscheint. Als Überwältigte kann sie wieder schön und erhaben werden. Kann sie aber nicht zur Erhabenheit gebändigt werden, muss sie zerstört werden. Keine Sorge: betrifft ja nur die Erscheinung.

Was ist der Mensch? Ein Geschöpf der Natur – solange die Natur es will. Allmählich will sie nicht mehr, weil der Mensch nicht mehr ihr Geschöpf sein will. Lieber will er Geschöpf eines Schöpfers sein, der die Natur vernichten wird.

 

Fortsetzung folgt.