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Von vorne XXIII

Von vorne XXIII,

einen planetarischen Bürgerkrieg gibt es noch nicht – eine planetarische Völkerbewegung aber wogt rund um die Erde. Die Völker spüren es, können es immer genauer in Worte fassen, immer lautstarker hinausschreien: wir müssen von vorne beginnen.

In welchem Land gibt es noch keine Demonstration der Massen? Gäbe es keine Bajonetten- und Überwachungsregimes, die das Selbstbestimmungsrecht ihrer Nationen mit Kanonen und Algorithmen am Boden zerstören würden, wäre die globale Menschheit schon längst der einhelligen Meinung:

Wir müssen Natur retten, um uns zu retten,
wir müssen Freiheit und Gleichheit retten, damit wir ein erfülltes Leben führen können.

Ist der Mensch wirklich so verkommen, so unfähig, seine Geschicke selbst zu gestalten, wie überhebliche Männerklassen seit 1000en von Jahren mit immer neuen Religionen und Ideologien die Welt verpesten, um sich die Berechtigung zu erschleichen, die Menschheit an Ketten zu legen – weil sie unfähig sei, sich selbst zu regieren?

Vergesst den sündigen, blindwütigen, vernunfthassenden Brudermörder und Schwesternschänder. Die Völker haben bewiesen, dass sie sich aus ihren Schrecken und Verirrungen befreien und zu Kämpfern der Menschlichkeit entwickeln konnten. Noch vieles ist zu tun. Wir stehen auf der Schwelle, wo Blindheit sich in Wahrnehmung, Taubheit in Wachsamkeit und Stumpfheit in Sensibilität verwandeln.

Synchrone Verbundenheit der Gattung ist keine emotionale Selbstüberdehnung der Menschheit, die sie überfordern würde – wie deutsche Barriere-Seelen behaupten. Die Weltgemeinschaft, die sich zu einer einheitlichen Zivilisation zusammenschloss, hat, trotz allen Haders und Streits, ihr gemeinsames Schicksal entdeckt. Es dämmert den Misstrauischsten und Argwöhnischsten, dass wir nur zusammen

davonkommen – oder untergehen werden.

Nur eine Schicht glaubt, den allgemeinen Gefahren zu entkommen: die Solisten der herrschenden Klassen. Ihre Macht und ihr Einfluss würden ausreichen, ihnen die letzten bewohnbaren Winkel der Erde als Refugien des Überlebens zu sichern. Sollte es ihnen dennoch nicht möglich sein, auf abgeschotteten Inseln des Überlebens davonzukommen, werden sie der Erde den Abschied geben, auf ferne Planeten auswandern und das Leben des ewig flüchtenden Menschen von vorne beginnen. Der Mensch ist ein Abenteurer und Vagant. Wer Risiken aus dem Weg gehen und im Vertrauten glücklich werden will, wird an Langweile und Wiederholung des Immergleichen verenden.

Die Menschheit ist Bergsteigern vergleichbar, die im Wettbewerb den höchsten Berg der Welt erobern müssen. Viele sterben beim Anstieg, wenige schaffen es bis an die Spitze, nur Auserwählte kehren zurück. Die Ideologie der konkurrierenden Auswahl der Besten ist unvereinbar mit allen Prinzipien der Humanität.

Die westliche Urdemokratie hat die Selbstbestimmung des Einzelnen in Kooperation aller Gleichen erfunden. Das Revier des Volkes musste quantitativ übersichtlich sein, damit eine Volksversammlung aller Gleichen und Freien möglich war. Der praktischen Begrenztheit der Polis stand die Unbegrenztheit der Freiheit gegenüber – als die Polis begann, sich wirtschaftlich auf andere Länder auszudehnen oder – unter Alexander – sich zur politischen Kosmo-polis zu erweitern.

Die Reichweite der Politik war begrenzt, die Reichweite der Wirtschaft hingegen wuchs ins Unermessliche. Zwei Prinzipien, die auf Dauer unverträglich waren.

Hätten alle griechischen Städte sich zu einem demokratischen Bund zusammengeschlossen, wären politische und wirtschaftliche Reichweite zusammengefallen. So aber begannen die ersten Reibereien zwischen dem dominanten Athen und den Verbündeten im Delischen Bund, dessen zeitweilig imperiale Brutalität alles andere als human und gleichberechtigt war. Das Naturrecht der Schwachen (oder das demokratische Naturrecht) im Innern der Polis kontrastierte scharf mit dem Naturrecht der Starken in der Außenpolitik.

Das begann sich zu ändern, als Alexander sein vorderasiatisches Riesenreich eroberte und alle besiegten Länder nominell gleichbedeutend wurden. Hier gibt es Parallelen zur Außenpolitik des modernen Amerika, das mit militärischen Mitteln die Errungenschaften der Demokratie unterdrückten Völkern bringen will.

Nicht auszuschließen, dass der Beglückungswille der Amerikaner anfänglich aufrichtig war. Dennoch war es unvermeidlich, dass die edle Befreiungsmotivation sich mit egoistischen Bereicherungswünschen verband. Je zynischer und neoliberaler die Nation wurde, je mehr wurde der Beglückungswunsch durch wirtschaftliche und geopolitische Interessen überfrachtet und verfälscht. Die Eroberung Iraks war das letzte Exempel einer zur Heuchelei gewordenen ausbeuterischen Repression.

Alexanders kosmopolitischer Idealismus war ernst gemeint, weshalb er eine Massenhochzeit zwischen Makedonen und persischen Frauen anordnete. In vielen neu gegründeten Städten wurden Gymnasien eingerichtet und der Urbevölkerung die Möglichkeit geboten, hellenisches Lebensgefühl und griechische Bildung zu erwerben. In vielen Völkern fiel die neue Kultur auf fruchtbaren Boden. Im Vergleich zu den ursprünglichen Despotien musste die neue Weltmacht als Fortschritt empfunden worden sein.

Auch im heiligen Land gab es längere Zeit keine Probleme. Der Hass der Frommen, die den Geist der Gojim verachteten, gegen die eigenen jüdischen Eliten, die – wie immer und überall auf der Welt – sich der Lebensweise der Eroberer anpassten und griechische Bildung verinnerlichten, entbrannte erst, als es unter den Seleukiden zur Plünderung des Tempelschatzes kam. Das war das Signal für die frommen Makkabäer, einen Freiheitskrieg zu beginnen, der von zeitweiligem Erfolg gekrönt war.

Doch dies war die Ausnahme von der Regel, dass der neue hellenische Geist, verkörpert durch die stoische Gleichberechtigung alle Menschen, die eroberten Völker in hohem Maße überzeugte.

Doch die schnell aufblühende Wirtschaft in dem Riesenreich, das bis nach Indien reichte, machte der Philosophie der Gleichheit immer mehr einen Strich durch die Rechnung. Es entstand eine Mixtur aus philosophischer Ethik und ökonomischer Klassengesellschaft, die die Doppelmoral der Moderne vorwegnahm. Aus militärischen Eroberern wurden wirtschaftliche Führungsklassen.

Die Rebellion des gespaltenen jüdischen Volkes richtete sich gegen die Dominanz der Heiden und die der eigenen Führungsklassen. Hier begannen die Vorläufer des Christentums, gegen eine fremde Macht und die ungerechte Wirtschaft des eigenen Volkes aufzubegehren. Als die Römer die hellenische Macht übernahmen, verschärften sich alle Probleme. Nur ein von Gott gesandter Messias schien noch eine Chance zur Befreiung von allen weltlichen Übeln zu haben.

Die Juden erwarteten von einem kommenden Erlöser die politische Befreiung von den Römern. Den Urchristen war eine Erlösung auf Erden zu wenig. Durch Akzeptanz vorübergehender Leiden wollten sie eine für alle Zeiten geltende Lösung aller Probleme – im Reich der Himmel.

Aus dem Versuch, irdische Probleme zu lösen, entstand eine Flucht ins Überirdische. Konkrete Politik wurde zum abstrakten Glauben an ein ominöses Ziel im Himmel. Die sozialpolitisch äußerliche Rebellion verwandelte sich in eine seelisch-innerliche, die eines unbestimmten Tages im Jenseits ihre Erfüllung finden würde.

Die augustinische Spaltung der Welt in einen satanisch-sichtbaren Staat und eine geistlich-unsichtbare Kirche war an Genialität nicht zu überbieten. Christen erhielten das göttliche Recht, die böse Welt zu regieren – ohne je für die Übel der Welt verantwortlich zu sein. Die perfekte Endlösung war dem Herrn vorbehalten, der eines Tages dem sündigen Alten ein apokalyptisches Ende und den Frommen ein neues Universum bescheren würde.

Wenn Peter Hahne in BILD an das biblische Original der Schöpfungsbewahrung erinnert, die es unter ihrer Würde finden sollte, sich mit gottlosen Jugendprotesten gemein zu machen, verfälscht er die biblische Botschaft ins Gegenteil und nutzt sie zur Verachtung des Irdischen mit Hilfe des Glaubens.

„Dass wir Verantwortung für die Schöpfung haben und einmal dem Schöpfer Rechenschaft geben müssen: Das ist kirchliche Kernkompetenz, nicht die billige Ranschmeiße an junge Leute. Das Echte zählt, keine Anbiederung.“ (BILD.de)

Die wirtschaftliche Freiheit in Alexanders erstem Weltreich wurde zum Urbild des modernen globalen Welthandels. Es entstand eine wirtschaftliche Elite, bestehend aus Griechen und Makedonen, die immer reicher wurden und die Armen immer ärmer werden ließen.

Das römische Reich, besonders in seinen letzten Dekadenzphasen, verschärfte den Klassenkampf zwischen Reichen und Armen ins Unerträgliche. Nach Rom, der Hauptstadt des Friedensreiches, strömten die enteigneten Massen, um sich durch täglichen Empfang von Lebensmitteln über Wasser zu halten. Die Wohnungspolitik wurde, wie in heutigen Metropolen, unerträglich, die arbeitslosen Massen konnten nur durch eine naturalistische Frühform des BGE – und durch permanente Brot & Spiele – von der Rebellion abgehalten werden.

„Kein Wunder, dass der Zudrang nach den großen Städten fortdauerte, während die erschöpften kleineren Gemeinden und das platte Land verödeten. Stellen wir die Diagnose dieses sozialen Übels, so kommt zunächst die Wohnungsnot in Betracht, deren Quelle darin beruht, dass durch übergroße Nachfrage ein Missverhältnis zwischen der Zahl der Wohnungssuchenden und der vorhandenen Wohnungen herbeigeführt wird, welches in der allgemeinen Steigerung der Wohnungspreise seinen Ausdruck findet.“ (Robert Pöhlmann, Die Überbevölkerung der Antiken Grosstädte)

Konzentration des Kapitals in den Grossstädten, Enteignung der selbständigen Bauern – die als Soldaten in den Krieg ziehen mussten, um bei der Rückkehr ihr kleines Hab und Gut in Händen der Reichen zu finden –, schuf die Verelendung der Schwachen, die in die Städte ziehen mussten, um mit dem nackten Leben davonzukommen.

Wie heute: die Reichen wurden unermesslich reich, die Armen vegetierten von Tag zu Tag. Das Land wurde entvölkert, die Städte wurden Brennpunkte schreiender Not und Ungerechtigkeit.

Nun die entscheidende Frage: Warum gilt der hellenisch-römische Kapitalismus nicht als Ursprung des modernen Kapitalismus?

Wenige Althistoriker nennen die antike Ausbeuterwirtschaft Kapitalismus. Unter ihnen Theodor Mommsen und Robert von Pöhlmann, wofür sie von ihren meisten Kollegen, vor allem von Ökonomiehistorikern, gescholten werden. Kaum eine Geschichte der Ökonomie, die in der Antike beginnen würde. Kapitalismus muss – für Bewunderer und Kritiker – das stolze Produkt der Moderne sein. Marx war selbst einer der größten Bewunderer des Kapitalismus, der mehr Wunderbares zustande gebracht hätte als alle Wunder der Alten zusammen:

„Marx hatte einen sehr präzisen Begriff des Kapitalismus entwickelt. Entscheidend war für ihn anders als für Mommsen nicht der freie Güterverkehr, sondern Ankauf von Arbeitskraft durch Geldbesitzer. Die Antike hingegen war durch die Sklaverei gekennzeichnet: Der Sklavenhalter besaß nicht nur die Produktionsmittel, sondern auch die Produzenten, eben die Sklaven. An die Stelle der Konstanten, die Mommsen unterstellt, tritt hier ein Modell, das die Wirtschaftsgeschichte in mehrere Stufen unterteilt: Auf die Sklavenhaltergesellschaft folgte die Feudalgesellschaft, die schließlich zum Kapitalismus führte. Derartige Stufenfolgen der Wirtschaftsgeschichte entwarfen auch andere Wirtschaftshistoriker, und sie inspirierten Althistoriker dazu, die Eigenart der antiken Wirtschaft zu beleuchten. Moses Finley bestritt grundsätzlich, dass man in der Antike die Wirtschaft als eine Unterfunktion der Gesellschaft auffasste. Das ganze Wirtschaftsverhalten war ihm zufolge eingebettet in die politische und soziale Ordnung: Massengüter wie Getreide wurden über weite Strecken transportiert, doch aus politischen Gründen, nicht zur Maximierung des Gewinns; denn man musste die Bevölkerung von Städten versorgen, um Unruhen zu vermeiden.“ (FAZ.NET)

Dass eine politische (Un-)Ordnung keine wirtschaftliche sein kann, ist eine neoliberal klingende Ignoranz der Abhängigkeit jeder Wirtschaft vom Staat. Es gibt neoliberal dominierte Staaten, aber keinen neoliberalen Staat an sich. Der Nachtwächterstaat muss für die Kapitalisten die untergeordneten, lästigen Sicherheitsmaßnahmen durchführen. Politik ohne Wirtschaft, Wirtschaft ohne Politik sind undenkbar.

Ob Kapitalismus vorliegt, hängt nicht ab von raffinierten Methoden, sondern allein vom Ergebnis der Methoden: wird gerechte Gleichheit zwischen den Wirtschaftssubjekten in gefühlter wie in nachweisbarer Form verletzt – reden wir von Kapitalismus.

Es geht auch nicht um Sklaven. Wie lange gab es Sklaven im amerikanischen Kapitalismus? Was sind Arbeiter, die von ihrer Maloche nicht sterben und nicht leben können, anderes als Sklaven – mit belanglosen Rechten?

Die Unsicherheit, ob Kapitalismus vorliegt, hängt mit der Nichtbeantwortung der Frage zusammen: Was ist Gerechtigkeit? Gerechtigkeit wird heute moralisch verstanden, weshalb sie bei der Definition des Kapitalismus ausscheiden muss.

Seit dem Siegeszug der Naturwissenschaften in der Aufklärungszeit litten die Geisteswissenschaften unter Minderwertigkeitsproblemen, die sie mit allen Mitteln beheben wollten. Blieb nur eine unfehlbare Methode: Geisteswissenschaften, die es mit dem moralischen Verhalten der Menschheit zu tun hatten, mussten die poröse Vieldeutigkeit ihrer schillernden Moralvorstellungen verlassen – und selbst zu Naturwissenschaften werden.

Seitdem Francis Bacons Formel „Wissen ist Macht“ sich durchgesetzt hatte, musste jede politische Macht zum Wissen werden. Versteht sich, dass die Macht des Mammons zu allererst in eine Wissenschaft transformiert werden musste.

Es war ein gigantischer Trugschluss, dass sich im Kalten Krieg zwei unvereinbare Wirtschaftssysteme gegenüberstanden. Sowohl der westliche Liberalismus als auch der real existierende Sozialismus waren Bewunderer des Kapitalismus.

Es gab nur einen Unterschied: der Liberalismus ließ den Fortgang des Kapitalismus im grenzenlosen Fortschritt (nicht) verenden, der Sozialismus sah den Fortschritt des Kapitalismus als unausweichliche Selbstdestruktion, die eines fernen Tages ins kommunistische Reich der Freiheit münden würde. Unterstellen wir den calvinistischen Charakter des westlichen Kapitalismus, kommen wir nicht umhin, ebenfalls ein eschatologisches Ende der Heilsgeschichte zu konstatieren.

Kapitalismus und Sozialismus sind sich ähnlicher als sie wahr haben wollen – weshalb es zwischen linken und rechten Parteien keine unüberbrückbaren Differenzen geben kann. Was sie gemeinsam haben?

a) Den Glauben an die technische Herrschaft des Menschen über die Natur, identisch mit ihrer Destruktion;

b) die Reduktion des ganzen Lebens zur göttlichen Berufsarbeit: wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen;

c) die Definition der Wirtschaft als moralfreie Naturwissenschaft;

d) die Spaltung der Menschheit in Erwählte und Verworfene. Die kapitalistisch Erwählten sind die Reichen, die Verworfenen die Armen. Im Sozialismus gilt umgekehrt: die Proleten sind die Erwählten (nicht das Lumpenproletariat), die Ausbeuter die Verworfenen.

e) die Definition der Geschichte als Heilsgeschichte für die Erwählten, als Unheilsgeschichte für die Verworfenen;

f) in beiden Systemen sind die Menschen Marionetten der Geschichte. Eine autonome Veränderung der Systeme kann es nicht geben. Naturgesetze kann man durch moralische Entscheidungen nicht verändern.

Da in England der Siegeszug der Naturwissenschaften Triumphe feierte, kann es nicht verwundern, dass dort die Geisteswissenschaften zuerst naturwissenschaftlich infiltriert wurden. Für Locke konnte nur mathematisches Wissen absolute Geltung beanspruchen. Da es unmöglich war, mit Hilfe strenger wissenschaftlicher Methoden generelle Moralvorschriften aufzustellen, musste die Wirtschaft entweder ohne strenge Moral auskommen – oder selbst zur strengen Wissenschaft werden.

Da der menschliche Geist nicht mit letzter Gewissheit entscheiden konnte, was gut und böse ist, musste der Sinn der Wirtschaft in „amoralischen“ Wünschen und Begehrungen liegen. Locke gelang es, eine Gruppe von Handlungen als moralisch neutral zu bewerten.

„Durch Zuordnen des Gewinnstrebens – als Antrieb ökonomischen Handelns – zum Bereich eines moralisch neutralen Verhaltens verlor die traditionelle Verklammerung von Ethik und Wirtschaft ihre grundlegende Bedeutung, die sie in der christlichen Lehre besessen hatte.“ (Karl Pribram. Geschichte des ökonomischen Denkens)

Bei Adam Smith, der als Begründer des modernen Kapitalismus gilt, ist der Übergang von der Moral zur Wissenschaft besonders auffällig. Sein erstes Buch schwappt über von edler Moral, das zweite volkswirtschaftliche bremst die Moral und betont die invarianten Naturgesetze des Kapitalismus. Dies ist der Sinn der berühmten Stelle:

„Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil. Niemand möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Mitmenschen abhängen, außer einem Bettler, und selbst der verlässt sich nicht allein darauf.“ (Der Wohlstand der Nationen)

Interessant, dass Smith aus der Perspektive des Schwachen spricht, der etwas von Anderen erwartet. Dann löst er sich aus der Haltung des Schwachen und stellt sich als gleichberechtigten Starken dar. Zwar will ich etwas von Dir, dafür aber erhältst du ein gerechtes Äquivalent. Ich werde dir nichts schuldig bleiben.

Die mittelalterliche Kirche hatte sich riesige Heere von Bettlern gehalten, die sie aus dem Fundus ihres unermesslichen Reichtums durchfütterte – nicht anders als bei den Brot & Spielen im alten Rom, nur in Form von Brot & Sakramenten –, um sie als militante Horden für ihre klerikale Politik einzusetzen.

Die Ablösung von der Moral war die Befreiung der Aufklärer vom christlichen Dogma, das von den Kirchen benutzt wurde, um Menschen in Abhängigkeit zu halten.

Emanzipationsbewegungen haben es an sich, dass sie einseitige Übel mit einseitigen Gegenübeln beantworten. Die Nächstenliebe der Kirchen entlarvte sich als Bedrohungs- und Unterdrückungsmittel. Die Naturwissenschaftler wollten die klerikale Ethik loswerden, indem sie nicht nur die Doppelmoral der Kirche verdammten, sondern jede Form der Moral, auch die universelle Moral der Vernunft. Vernunft verlor ihre moralische Kompetenz und schrumpfte zur naturwissenschaftlichen Gesetzes-Finderin. Vernunft konnte feststellen, was ist, aber nicht mehr, was sein sollte.

Adam Smith ersetzte die herrschende Moral durch eine Theorie der Sympathiegefühle. „Diesen Gefühlen schrieb er die Fähigkeit zu, Äußerungen von Selbstsucht den Interessen der Gesellschaft anzupassen.“ (Pribram)

Merkwürdig, dass das naturwissenschaftliche Denken der Engländer in Deutschland – nach der berüchtigten hegelianischen Naturspekulation – auch bei der jungen Naturwissenschaft Fuß fassen konnte, während dieselbe Transformation in die deutsche Ökonomie misslang.

Adam Smith traf auf erbitterte deutsche Gegner. Die ganze Romantik hasste Fabriken, die ihre blaue Blume in der Natur zerstören konnten. Die historische Schule der Ökonomie (Roscher, Schmoller ua) wollte keine invarianten wissenschaftlichen Gesetze finden, sondern die historischen Entstehungsbedingungen der nationalen Kapitalismen. Wirtschaft war kein Berechnen eines naturgesetzlichen Egoismus, sondern ein Feld moralischer Überzeugungen: „Sittliche und kulturelle Normen waren zur Erarbeitung geeigneter Maßnahmen einer Wohlfahrtspolitik zu prüfen.“ (Pribram)

Aus deutschen Moralökonomen wurden Sozialpolitiker, die 1872 den Verein für Socialpolitik gründeten. Noch galt die Trennung von Wissenschaft und Politik nicht – bis der Österreicher Carl Menger die deutschen Moralisten mit dem „Werturteilsstreit“ herausforderte, den Max Weber im Sinne Mengers entschied: Wissenschaft hat mit Wissenschaft zu tun, mit sonst nichts. Bewertungen müssen unterlassen werden.

Die england-kritischen, moralischen Sozialromantiker – spöttisch Kathedersozialisten genannt – wurden ausrangiert. An ihre Stelle trat die nach internationaler Geltung ausgehungerte moralfreie Wissenschaft der Ökonomie, die mittlerweilen mit der Vorherrschaft der Angelsachsen die ganze Welt erobert hatte. Streitigkeiten heutiger Ökonomieschulen gehen nicht um Gerechtigkeit und Moral, sondern um Statistik und Wirtschaftsmathematik.

Wirtschaft gibt sich streng naturwissenschaftlich, rational und berechenbar – was man an ihren regelmäßigen Krisen deutlich erkennen kann. In kleinen Dingen minutiös berechenbar, in großen und relevanten ein undurchdringliches Chaos mit schrecklichen Folgen, das ist der Charme der gegenwärtigen Ökonomie.

Die Deutschen schwanken zwischen moralischem Sozialdenken und knallharten Sachgesetzen, die von keiner sentimentalen Moral beherrscht werden dürfen.

Das ist das Dauerklima der GaGroko: konservative Machtpolitiker garnieren ihre knallharte Wirtschaft gern mit christlichen Erbauungssprüchen (die sie selbst nicht ernst nehmen), linke Reformer müssen ihre Sozialromantik mit Kenntnissen realistischer Ökonomieerfahrung erhärten.

Da keine Partei ihre Vergangenheit erforscht, weiß niemand, welchen Neuanfang sie machen kann. Wenn Alarmsirenen ertönen, die fetten Jahre seien vorbei, muss schnell das üppige Sozialnetz abgespeckt werden: wer soll das bezahlen? Wenn es der Wirtschaft gut geht, kann sie sich großzügiger zeigen. Geht’s ihr schlechter, muss als erstes die Moral dran glauben. Interessen – und Moral sind inkompatibel.

Der britische Ökonom Keynes, der in Deutschland als links gilt, schwankte zwischen Naturwissenschaft und Moral. Solange es uns schlecht geht: Naturwissenschaft. Wenn wir es aber zu einem dauerhaften verlässlichen Wohlstand bringen wollen, können wir zu „einigen der am meisten sicheren und gewissen Prinzipien der Religion und traditionellen Tugend zurückkehren“. Trotz allem ist Ökonomie eine Moralwissenschaft:

„Aber gemach! Die Zeit für die Rückkehr ist noch nicht reif. Für wenigstens weitere 100 Jahre müssen wir uns selbst und andere darauf verpflichten, dass Betrügen fair ist und Fairness Betrug, denn Betrug ist nützlich und Fairness ist es nicht. Gier, Wucher und Sicherheitsstreben müssen noch für ein wenig länger unsere Götter sein. Nur sie können uns aus dem Tunnel der ökonomischen Notwenigkeit hinaus ins Tageslicht führen.“ (zit. in Brodbeck, Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie)

Eher wird die Menschheit untergehen als die fruchtbare Sünde der Ökonomie aus der Hand legen. Private Laster, öffentliche Tugenden, die selbst zu Lastern wurden. Denn individuelles Verhalten bestimmt in Demokratien die öffentliche Politik. Der antike Kapitalismus wurde vom Gerechtigkeitsgefühl des Volkes, unterstützt von der Moral philosophischer Schulen, bekämpft. Der moderne Kapitalismus bestreitet, dass der antike überhaupt ein Kapitalismus gewesen sei. Was mit Moral bekämpft werden könne, kann keine strenge Naturwissenschaft sein.

Kapitalismus ist ein historisches Gewirr aus moralischen und unmoralischen Entscheidungen. Er kann nur gebändigt werden durch anamnestische Entwirrung im Licht humaner Moral. Auch amoralische Entscheidungen sind moralische, wenn auch der verderblichen Art.

Wer den Klimawandel beenden will, muss den Kapitalismus beenden und eine Wirtschaft aus dem Geist des Wohlwollens mit Mensch und Natur erfinden.

 

Fortsetzung folgt.