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Von vorne XXI

Von vorne XXI,

woran erkennt man politische Genies? Sie häuten sich täglich und schaffen es, ihre Fehler und Versäumnisse darzustellen, als seien sie von andern. Sie allein seien fähig, die Scherbenhaufen ihrer Vorgänger und Rivalen wegzuräumen.

Von ihren Altlasten distanzieren sie sich, weil sie die Kunst der Selbst-Exkulpierung beherrschen. Den Satz des Evangelisten, alle Lasten werfet auf Ihn, variieren sie zur Politmaxime: alle Schuld werfet auf eure Konkurrenten, schaut nicht zurück – und gehet frisch ans Werk, als wärt ihr neugeboren.

Neu geboren heißt: der alte Adam ist ersäuft. Das christliche Abendland kennt keine Schuld. Nicht, dass es Schreckliches nicht getan hätte – die Kunst der Selbstvergebung durch tägliche Neugeburt aber verwandelt die Schuld in Belanglosigkeiten einer abgetanen Vergangenheit.

Kreuzzüge, Hexenprozesse, Inquisition? Wissen wir doch alles: Schnee von gestern. Listigerweise sorgten sie vor, dass Geschichte sich nicht wiederhole, weshalb sie glaubten, rücksichtslos ins Offene stürmen zu dürfen. Bestehe doch keine Gefahr, dass die Sünden sich wiederholen könnten.

Erinnern, wiederholen, durcharbeiten: damit das Dunkle und Unbewältigte sich nicht wiederhole? Haben sie nicht nötig. Alles haben sie bewältigt durch den täglichen Akt der Wiedergeburt. Aus demselben Grund existieren für sie keine Widersprüche.

Vor Monaten sprachen Sie ganz anders als heute, Frau Merkel, wie erklären Sie Ihren Widerspruch?

Solche Widersprüche sind doch an den Haaren herbeigezogen. Ich erfinde mich täglich neu und schaue nicht zurück. Wissen Sie nicht, wie es Lots Frau erging? Bin ich denn mit Lot verheiratet?

Gelächter auf der Bundespressekonferenz. Alle Kommentatoren schrieben: Wie

gewohnt, reagierte die Kanzlerin nüchtern und gelassen.

BDI-Präsident Kempf hatte ihr vorgeworfen:

„Es ist kein klarer wirtschaftspolitischer Kurs in der Politik der Bundesregierung zu erkennen“, warf der BDI-Präsident der Kanzlerin vor. Die Regierung verwalte lediglich den Ist-Zustand, der Blick in den Rückspiegel habe aber noch niemandem geholfen.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Interessant, dass auch ihre Kritiker bevorzugen, nicht in den Rückspiegel zu schauen. Lieber gefährden sie Radler im toten Winkel. Wie geht die Kanzlerin mit der Kritik des BDI-Präsidenten um? Lässt sie sich auf die Vorwürfe ein? Bringt sie überzeugende Gegenargumente?

In uralten Zeiten nannte man Streit den Austausch von Argumenten. Habermas spricht noch heute von „herrschaftsfreiem Diskurs“. Womit er den Streit in der Demokratie meint, denn jeder andere Staat befiehlt, was die Untertanen zu denken haben.

„Diese Position wird auch als „Konsenstheorie der Wahrheit“ bezeichnet.“

Konsens ist kein Kompromiss, sondern das Fazit eines Gesprächs, das die Kontrahenten in Übereinstimmung beenden. Der „Unterlegene“ im Streit verlor nicht sein Gesicht, sondern bewies seine lernfähige Vernunft – indem er sich durch rationale Argumente überzeugen ließ. Der Sieger weiß, dass nicht er triumphierte, sondern, pardonnez moi, die Wahrheit.

Sokrates plädierte für Bescheidenheit des Denkens. Was ihn nicht davon abhielt, im Namen der Wahrheit der ganzen Polis zu widerstehen. Bescheidenheit ist das Gegenteil von Demut, die ihre Autonomie einem Gott opfern muss.

Die Moderne ist die Arena unendlicher Konkurrenz in allen Dingen. Überall werden die Besten ausgesiebt und gepriesen. Nur im Kampf um humane Einsichten darf es keine „Besten“ geben. Die Angst vor Gesichtsverlust im Dialog ist bedrohlicher, als mit Hartz-4 gedemütigt zu werden.

„Roland Barthes wendet sich im Rahmen seiner Kritik am Logozentrismus auch gegen die sokratische Mäeutik; er sieht in der Vorgehensweise des Sokrates das Bestreben, „den anderen zur äußersten Schande zu treiben: sich zu widersprechen.

Im Logozentrismus werden „die Ideen von Wahrheit und Wesenheit als autoritär, eindimensional, hierarchisch, totalitär sowie pluralitätsfeindlich abgelehnt“.

Ich glaube an die Ideen der Demokratie und der Menschenrechte!

Bist du meschugge? Wenn du an solche Ideen glaubst, entpuppst du dich als pluralitätsfeindlich, hierarchisch, autoritär und totalitär.

Vor kurzem noch schwappten die Medien über von pluralitätsfreundlichen, antiautoritären und nichttotalitären Lobreden auf das chinesische Modell: wird die Demokratie im Westen nicht überschätzt?

Wenn heute autoritäre Horden durchs Land ziehen mit intoleranten Verhetzungen, stammen sie nicht aus der Gesellschaft, sondern scheinen aus der Hölle gekrochen. Die Quellen der Finsternis in den Gehirnen genialer Geister werden vertuscht.

Intellektuelle und Edelschreiber spielen dieselbe Rolle wie einst Kleriker in christlichen Monarchien. Als Vertreter des Gottesreiches können sie das selbstherrliche Getue der Weltherrscher selten für gut halten. Dennoch halten sie daran fest, dass das sündige Regime unangetastet bleiben muss, bis der Herr kommt. Jede Kritik an der Obrigkeit verfluchen sie als vermessen und gottlos.

„Wir haben gezeigt, dass der Konsens nur ein Zustand der Diskussionen und nicht ihr Ziel ist. Dieses ist vielmehr die Paralogie (Vernunftwidrigkeit). Konsens ist ein veralteter und suspekter Wert geworden, nicht aber die Gerechtigkeit.“ (Lyotard, „Das postmoderne Wissen“)

Wenn Gerechtigkeit kein postmoderner Begriff sein darf, müsste er, nach Adam Riese, ein totalitärer Begriff sein – den Lyotard mit paralogischem Eifer verteidigt. Er wird doch kein Marxist sein, der Gerechtigkeit mit totalitärer Heilsgeschichte realisieren will?

Der Sieg des Neoliberalismus zementierte den Postmodernismus. Einen Streit der Ideen konnte es nicht mehr geben. Die Angst vor der Übermacht des chinesischen Überwachungsstaates ließ die Edelschreiber mit allen postdemokratischen Varianten liebäugeln.

Hayek verachtete den überheblichen Glauben an die Vernunft, die sich einbilde, die menschlichen Probleme lösen zu können. Für ihn gab es nur eine absolut unfehlbare Idee: den Markt.

Das beliebig-subjektive Feuerwerk der Gedanken, die, wegen Diskursunfähigkeit, keine Probleme lösen können, vertrat auch Lyotard. In seiner Schrift „Das postmoderne Wissen“ gibt es keine Möglichkeit, „zwischen Wahrheit, Autorität und rhetorischer Verführung“ zu unterscheiden. „Denn die Macht hat, wer die gewandteste Zunge oder die knackigste Story hat“. (zit. bei David Harvey, Kleine Geschichte des Neoliberalismus)

Postmoderne und Neoliberalismus sind komplementäre Zwillinge. Der erste Zwilling zerlegt alle kritischen Gedanken zu Maische, der zweite herrscht durch den unfehlbaren, allwissenden Markt – der keine intellektuelle Kritik fürchten muss.

Wie viele Hayek-Klubs gibt es in der BRD? Wie steht es um Hayeks Demokratieverträglichkeit?

„Hayeks Hegemoniestrategie ist grundsätzlich undemokratisch. Den Sinn einer demokratischen Verfassung erkannte Hayek in keiner Weise an. Er machte seine Verachtung der klassischen Prämisse demokratischer Verfassungsstaaten, dass alle Macht vom Volk ausgeht, überdeutlich. Demokratie und neoliberale Strategie sind nicht kompatibel. Gemessen an Intention und Strategie handelte es sich bei der MPS (Mont Pelerin Society, dem Gründungsklub der Neoliberalen) um eine undemokratische Organisation.“ (J. Nordmann, Der lange Marsch zum Neoliberalismus)

Tatsächlich kam es zu einer aufschlussreichen Auseinandersetzung in der Hayek- Gesellschaft. Karen Horn, Vorsitzende der Gesellschaft, „hatte in verschiedenen Artikeln zur Abgrenzung gegenüber rechtem und rechtsnationalem Gedankengut aufgerufen. Sie sorge sich darum, dass Vorurteile und üble Nachrede nicht nur wie gewohnt gegen Keynesianer und Sozialisten, sondern auch gegen „Demokratie, Feminismus, Pluralität, Homosexualität und Atheismus“ als Feindbilder überhand nähmen.“ (Wiki) Nachdem Horns Initiative, die Grundlagen der Gesellschaft zu verändern, scheiterte, verließ sie den Klub der Demokratieverächter.

Es gibt viele Gründe, die zur Gedankenleere der gegenwärtigen Krise führten. Einer der schwerwiegendsten ist die Infiltrierung der Gesellschaft mit dem Geist des Neoliberalismus. Für Hayek hatte der Markt nicht dem Staate zu dienen, sondern der Staat hatte dem Markt zu dienen. Tat er es nicht, musste er mit allen Mitteln bekämpft werden.

Der Rechtsruck der europäischen Staaten wird genüsslich dem dummen Pöbel in die Schuhe geschoben. Die Stuben der Gelehrten und Gazettenschreiber bleiben verschont. Die Mitte der Gesellschaft ist immer unschuldig. Wie lange schon rechte Krankheitskeime der Gesellschaft ignoriert werden, zeigt ein SPIEGEL-Artikel über Nazi-Inhalte berühmter Pop-Songs:

Denn etwa die Sex Pistols führten nicht nur Hakenkreuze auf T-Shirts spazieren, sondern spielten eben auch das von Sid Vicious geschriebene Lied „Belsen was a Gas“, in dem sie davon schwärmen, dass das KZ Bergen-Belsen ein großer Spaß gewesen sei.“ (SPIEGEL.de)

In ihrer Antwort auf den BDI-Präsidenten Kempf erklärte die Kanzlerin, sie könnte nun aufzählen, wie viel Zeit sie mit den Regelverletzungen der Autoindustrie habe verbringen müssen – doch das wolle sie nicht.

Neoliberale Medien interessieren sich nicht für das gesprochene Wort. Worte sind für sie Schall und Rauch. Weshalb Analysen des gesprochenen Worts zumeist unterbleiben.

a) Merkel geht mitnichten auf den Inhalt der Kritik ein. b) Stattdessen tut sie, als könnte sie im gleichen Geist – Auge um Auge – retournieren. Wolle sie aber nicht. Als fromme Frau lässt sie ab von der Versuchung und folgt dem Geist der Bergpredigt, Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten. Wer dich auf den rechten Backen schlägt, dem biete auch den andern dar.

Somit ist klar, wer den Schlagabtausch mit gezierter Demut gewann. Und dennoch verpasst Merkel – ganz im Geiste der Sanftmut – ihrem Kritiker einen gewaltigen Tritt, indem sie die gesamte Industrie mit den betrügerischen Autofirmen gleichsetzt. Nur kein Getümmel, vor Gott seid ihr alle Sünder und ermangelt des Ruhms.

Das ist noch nicht alles. Die Verbrechen der Autoindustrie bagatellisiert sie zu harmlosen Regelverletzungen. Nie hat Merkel die Schandtaten der Autobauer mit scharfen Worten angegriffen. Wäre sie nicht selbst attackiert worden, hätte sie auch jetzt kein Wörtchen riskiert. Was ist nun geklärt? Anstatt einen vorbildlichen Grundsatzstreit zu führen, veranstalten die Matadore ein rhetorisches Geplänkel.

Meinungsverschiedenheiten in Demokratien müssten in leidenschaftlichen Debatten ausgefochten werden. Doch in Deutschland werden Dialogpredigten mit Showeinlagen inszeniert. Nicht anders als in TV-Talkshows, die, zu strengen Dialogen unfähig, rhetorische Zirkusnummern bieten.

In einer Fraktionssitzung hatte Merkel zugegeben:

„Danach dürfe es von der Regierung „kein Pillepalle mehr“ geben, sondern Beschlüsse, die zu „disruptiven“ Veränderungen führten. Schließlich sei seit 2012 beim Klimaschutz nichts mehr passiert.“ (BILD.de)

Ein entlarvendes Zugeständnis – nicht vor der Öffentlichkeit, sondern hinter verschlossenen Türen. Wirft die Jugend der Regierung vor, sie tue nicht genug für den Klimawandel, wird sie gegrillt. Intern gibt Merkel der Jugend recht. Nach außen bleibt sie stumm.

In normalen Zeiten würde ein solches Geständnis zum Rücktritt führen. Doch Merkels halluzinogene Wirkung auf ihr Volk macht sie unersetzbar. Die Gnade ihres Herrn ist unergründlich.

Anstatt die rednerischen Schaumschlägereien der Kanzlerin aus den Angeln zu heben, bringt der SPIEGEL ein Interview mit Blairs Redenschreiber: Was ist eine begeisternde Rede, Mr. Collins?

„Wirklich große Reden sind mehr als nur schöne Worte. Sie verändern die Welt. … Greta Thunbergs Rede war technisch eine ziemlich gute Rede. Die Tatsache, dass Sie sich an diese Zeile erinnern; dass ich mich an diese Zeile erinnere, beweist das. Eine Weltsicht, zusammengefasst in einem Satz. Man kann den ganzen Rest ihrer Argumente von diesem einen Satz herleiten. Das leisten nicht viele Reden. … Man beginnt mit dem, was die Menschen glauben, dann sagt man, dass ihre Sicht falsch oder unvollständig ist. In einer Demokratie ist das Argument die Währung der Politik. … Aber Michelle Obamas Rede auf dem Parteitag war fantastisch. Ein Satz, der sich sofort einprägt: „When they go low, we go high.… Rhetorik ist meiner Meinung nach näher an Musik als an Poesie. Ich zum Beispiel höre Musik, während ich schreibe. Aber nicht, um poetisch zu schreiben. Mir geht es um den Rhythmus. Ich suche die Musik in der Poesie. … Denn wenn nur eine Sache nicht gestimmt hätte, hätte die ganze Rede nicht gestimmt. Und der Fehler wäre das Einzige, woran sich die Leute erinnert hätten. … Trotzdem denke ich, dass Wahrheit wichtig ist. Ich weiß, dass Trump ein unfassbar lockeres Verhältnis zur Wahrheit hat. Am Ende aber wird ihn die Wahrheit einholen.“ (SPIEGEL.de)

Einspruch: die besten Reden sind die, die nie gehalten werden. Reden sind Erben der Erweckungspredigten, gestützt auf die Technik griechischer Rhetorik. Alles wird untersucht: warum nicht die Wirkung der ach so brillanten Reden?

Hallo Sie da: welche Erkenntnisse haben Sie aus Merkels Rede gewonnen? Was ist übrig geblieben von den Rednerkünsten eines Obama, nachdem man seine Politik erlebte, die vieles nicht hielt, was er versprach?

Gewiss, ohne idealische Zuspitzungen geht es nicht. Wer aber keine Rechenschaft ablegt über sein Versagen und seine Fehlschläge, ist ein Schwindler und Betrüger. Welche von Merkels elitären Seifenblasen halten einer Überprüfung stand? Galt Gabriel nicht als eloquenter Redner – welche nachhaltigen Erkenntnisse hat er seiner Partei vermittelt?

Noch nie hat eine Rede die Welt verändert. Erkenntnisse bilden sich nicht im Bann schnell vorüber ziehender Wortkaskaden. Sie bilden sich beim allmählichen Rekapitulieren konzentrierter Gedanken. Das benötigt Zeit, Nachdenklichkeit und viele Gespräche mit Pro und Kontra. Rednerische Monologe hingegen sind Ersatz für Offenbarungen. Wer nicht die Muße hat, den Gedankengang von vorne nach hinten und von hinten nach vorne zu drehen – diese Muße hat er nur beim einsamen Lesen –, der kann betört und übertölpelt, aber nicht überzeugt werden.

Die modernen Gesellschaften werden mit Reden überschüttet. Eltern schwatzen auf Kinder ein, Lehrer hören sich gern reden, Unidozenten langweilen mit Vorlesungen, Industriebosse erlassen Direktiven. Das agonale Zwiegespräch ist abgeschafft. Zweifel stören den Paukbetrieb, gefährden die Zensuren. Dem Überschütten der Offenbarungsempfänger mit einseitigen Botschaften entspricht die Reizüberflutung der Konsumenten mit endlosen Kommunikations- und Werbeaktionen.

Wahrheit ist nicht nur Richtigkeit der Fakten, sondern philosophisches Beurteilen der Zusammenhänge. Die Medien werden das nie verstehen.

Eine gute Rede soll daran erkennbar sein, dass man eine gelungene Formulierung im Gedächtnis behält? Dann wäre jede Werbung gut, deren Slogan man nicht vergessen kann: Im Asbach-Uralt ist der Geist des Weines. Wenn Rhetorik sich mehr an Poesie und Musik orientiert als an der Schlüssigkeit der Argumente, wird sie zum Relotius-Effekt für schönschreibende Geschichtenerzähler.

Was wir brauchen, um von vorne zu beginnen, sind Urfragen – und die Antworten im Verlauf der Epochen, die wir zu überprüfen haben. Danach erst kann unsere Bewertung erfolgen, die wir im „unendlichen Gespräch“ herausfinden müssen.

Grundlegend ist der Kampf zwischen Rhetorik und Wahrheitssuche in Athen. In uferlosen Predigten des Abendlands hat sich die Rhetorik durchgesetzt; die Wahrheitssuche ist zur Lachnummer verkommen.

Dem beliebigen Redenkönnen entspricht das Schreibenkönnen der Gazetten. Wer schreiben kann, hat seine Journalistenkarriere im Tornister. Noch ein bisschen recherchieren, ob Trump einmal oder zweimal pro Tag lügt – und ab die sprachfreudige Post. Wenn‘s hoch kommt, werden grobe Fakten überprüft. Die ursprüngliche Bedeutung der Gedanken und Begriffe in der Urdemokratie bleibt im Dunkeln.

Ein SPIEGEL-Interview über Rhetorik – und keine einzige Frage nach dem Ursprung derselben. Rhetorik in Athen wurde zur politischen Allzweckwaffe, heftig bekämpft von allen philosophischen Schulen. Isokrates war der Einzige, der beide Elemente verbinden wollte. Was erreichte er? Dass er Philosophie zur „Allgemeinbildung“ der Eliten verfälschte, einer Bildung, die noch heute das Suchen nach Wahrheit verstellt und vernichtet.

Was ist Bildung heute? Das Geschäft der Eitelkeit, die gelegentlich zeigen muss, dass sie noch anderes kennt als die Hatz nach Macht und Mammon. Gäbe es nicht gutbetuchte Gebildete: wer würde noch in die Oper gehen?

Anaximenes ist der bekannteste Rhetor der griechischen Klassik: „Seine Lehre ist radikal relativistisch, nicht aus denkerischer Tiefe wie bei Gorgias, sondern aus purem Opportunismus. Seine aalglatte Routine kennt nichts als die Vielfalt von Situationen, die ein Redner zu meistern hat, sie sucht gute oder schlechte Argumente, wie es sich gerade trifft. Eine Bewertung nach Kriterien der Wahrheit findet nicht statt. Hauptsache, sie versprechen einen Effekt. Die Lehre des Anaximenes lässt sich auf die Formel bringen: jeder tue, was er tun kann.“ (Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik)

Rhetorik war Verführungskunst der Sophisten, jener Glücksritter, die den neuen Geist demokratischer Wahrheitssuche in Machtinteressen verfälschten. Die schwache Seite versuchten sie zur starken zu machen, die starke zur schwachen. Wahrheit und Lüge waren austauschbar. Trump hätte seine Freude an diesen Gesellen gehabt.

Philosophie hingegen wollte die Demokratie verbessern, indem sie jeden Einzelnen verbessern wollte. Der Athener war ein leidenschaftliches zoon politicon. Wenn das politische Wesen noch human werden würde, könnte die Demokratie zur kosmopolitischen Urzelle werden.

Politik und Moral, Wahrheitssuche und Debattieren, werden heute auseinander gerissen. Überreden mit rhetorischen Tricks gilt als Überzeugen, ein Dialog hingegen als aggressiver Akt gegen Andersdenkende.

Rhetorik gehört nicht zur Philosophie, sondern zur schillernden Kunst. Kunst ist das Werk von Originalgenies, die es ablehnen, bei anderen zu lernen. Nachahmen ist für sie Sünde wider den Geist. Wer glaubt, ins Denken zu kommen, indem er bei Denkern anklopft, muss ein Plagiator sein, kein schöpferisches Genie.

„Entfernet euch stolz von euren Vorgängern. … Dadurch erhebt ihr euch zum Original.“ So klangen die ersten abendländischen Genieverehrer. Das Verhängnis der Neuzeit verschärfte sich, als im „Streit der Alten und Modernen“ die Modernen begannen, sich den Alten in allen Dingen überlegen zu fühlen. Hatten Newton, Kepler und Galilei nicht bewiesen, dass sie den Alten weltenweit überlegen waren? Hatte die Erfindung von Maschinen und Kanonen nicht bewiesen, dass die Alten zur Herrschaft über Natur und Völker nicht geeignet waren?

Was waren Homer und Horaz, verglichen mit Shakespeare? Als der hinterwäldlerische Winkelmann noch die Kunst der Griechen – in römischen Plagiaten – zu bewundern begann, dementierten der Franzose Scaliger und der Italiener Aretino bereits die Vorbildlichkeit der klassischen Kunst.

Was rückte an die Stelle der Nachahmung? Die Begriffe novitas und ingenium, Neuheit und Genie. Auch das wissenschaftliche Lernen als „Nachahmen“ alter Meister wurde degradiert, an seine Stelle rückte die geniale Regellosigkeit.

Bei Fichte wird das Genie zur „idealen Individualität“, die Idee nimmt Gestalt an in scheinbarer Unabhängigkeit von der Welt. Das schöpferische Individuum gestaltet seine Welt ohne Vorbilder. „Originalität hieß, etwas sehen, was noch niemand sah und weder Namen und Begriff hatte.“

Wir sind in der postmodernen Gegenwart angekommen. Strenge Begriffe, Vorbilder gibt es nicht mehr. Niemand kann von anderen lernen. Jeder erfindet Schönheit, Moral und Wahrheit aus seinem unendlichen privaten Busen. Das Einzige, was wir von anderen erfahren können, sind begrifflose Erregungswellen, die uns einen Moment in Ekstase versetzen, um uns erneut in die Einsamkeit unserer monadischen Isolierung zurückzuschleudern.

Das westliche Gebäude unendlich vieler Vereinzelter bricht zusammen.

Wir müssen zurückkehren an unsere Ursprünge – als Originale. Nicht als Originale äffischer Beliebigkeit, sondern als Einmalige, die sich in allen Menschen wiedererkennen.

 

Fortsetzung folgt.