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Von vorne XLVI

Von vorne XLVI,

Mathias Döpfner ist Rigorist – in Anführungszeichen. Es sei ein Fehler seines Verlages gewesen, kurz vor dem Mauerfall die Anführungszeichen des Kürzels DDR zu streichen. Der Verlagsgründer hatte mit den Zeichen daran erinnern wollen,

„… dass die „DDR“ „weder deutsch noch demokratisch noch eine Republik“ sei, und generell, um ein Nichteinverstandensein mit diesem Unrechtsregime zu signalisieren. Dass es immer falsch ist, das Richtige zu leugnen. Und dass Prinzipien umso wichtiger werden, je unübersichtlicher die Zeiten sind. So wie es dieser Tage prinzipiell falsch ist, Subventionen von Erdogan zu kassieren, um in der Türkei deutsche Autos zu bauen, chinesische Großaktionäre Schlüsselindustrien in Deutschland beeinflussen und irgendwann beherrschen zu lassen (denn wir dürfen das da auch nicht) und die Energieabhängigkeit von Russland durch weitere Pipelines noch weiter zu erhöhen.“ (WELT.de)

Heuchelei (hypokrisis) ist die aus selbstsüchtigen Interessen entspringende Verhüllung der wahren und Vorspiegelung einer falschen, in dem Betreffenden nicht vorhandenen lobenswerten Gesinnung. Der Heuchler will besser erscheinen, als er ist, um Mächtigen zu gefallen und davon Gewinn zu haben.“ (Kirchner, Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe)

Deutschland hat den Status heuchelnder Doppelmoral erfolgreich überwunden und die Hochebene der polymorphen Amoral erreicht.

Die Einen dürfen für Putin Propaganda machen, seine Rechtsverletzungen auf der Krim und gegen Demonstranten verschweigen – Trumps Harmlosigkeiten hingegen an den Pranger stellen:

„Im SPD-Blatt „vorwärts“ durfte der Ex-Kanzler losledern: Das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten habe „seit Trump nichts mehr mit Partnerschaft zu tun“, so Schröder. US-Präsident Donald Trump (73) zerstöre „mutwillig das regelbasierte Weltwirtschaftssystem“ und wolle keine Partner, „sondern Gefolgsleute“. Schröders Tätigkeiten bei staatlichen russischen Öl-Firmen blieben unerwähnt. Auch die 

 aktuelle Lage in Russland ließ man im „vorwärts“ unter den Tisch fallen. Dabei ließ Präsident Wladimir Putin (66) nur zwei Tage vor Erscheinen des Interviews in Moskau über 1000 friedliche Demonstranten festnehmen.“ (BILD.de)

Umgekehrt dürfen die Anderen Moskaus und Pekings Unrechtspolitik angreifen, Trumps Rassismen hingegen mit einem Hauch von Vernunft legitimieren und belehrende Kritik an seiner Fremdenfeindschaft als deplatziert abweisen:

„Trump ist unberechenbar: Er kann über die Latte drüberspringen oder einfach kindisch unterdurch laufen. Die auf Twitter angedeutete Verschärfung des Waffenrechts kann als Versuch interpretiert werden, der weiteren Eskalation der Lage mit so etwas wie Vernunft entgegenzutreten. Die USA benötigen unser Mitgefühl, nicht unsere überhebliche Belehrung. Trump ahnt, dass er das Land wieder zusammenbringen muss. Es ist nicht seine Stärke. Dass er darüber anfängt nachzudenken, kann nicht schaden.“ (WELT.de)

Kritik bei Feinden ist Pflicht, bei Freunden arrogante Belehrung. Amerika braucht schweigendes Mitgefühl, keine Anmaßung von Überheblichkeit. Trump ist kindisch, unberechenbar. Aber man muss ihn lieben. In Deutschland werden Andersgläubige und Einzeltäter, besonders der eingewanderten Sorte, von Springers mitfühlenden Nachfolgern dämonisiert, Fremdenfeinschaft von Freunden hingegen wird tabuisiert.

S‘ wird schon mit dem ungezogenen Balg im Weißen Haus, noch ist er ein wenig täppisch, doch seine angeborene Klasse wird sich durchsetzen! Kein falsches Mitleid, sondern aufmunternde Zurufe: Donald, Donald, du schaffst es. Deutschland steht geschlossen hinter Dir!

Doch das alles ist nur Geplänkel. Vollständig einig sind sich die Einen und die Anderen im Tabuisieren deutscher Kritik an Israel – die bulldozerhaft als Antisemitismus verfemt wird. Der notwendige Kampf gegen Judenhass und jedwede Form von Fremdenfeindschaft wird durch solche Einschüchterungen plattgemacht, wenn nicht ins Gegenteil verkehrt. Wittern Menschen Doppelmoral bei den Mächtigen, steigt ihr Hass gegen die ganze Welt.

Wäre Döpfner wahrer Rigorist, müsste er in seinen Zeitungen den Begriff Israel in Anführungszeichen setzen lassen. Nicht nur, dass der junge, mit vielen Hoffnungen gegründete Staat im permanenten Verstoß gegen Völker- und Menschenrechte verharrt. Mittlerweilen muss bezweifelt werden, ob er noch eine Demokratie ist.

Denn das neue Nationalitätsgesetz erklärt Israel zum Staat der Juden. Von Gleichberechtigung aller Menschen jenseits von Rasse und Religion kann keine Rede mehr sein.

Das Nationalitätengesetz ist ein Gesetz des Staates Israel, das den jüdischen Charakter des Staates festschreibt und die nationalen Werte des Staates Israel rechtsverbindlich verankert. Als eines der israelischen Grundgesetze ist das Gesetz Teil der Verfassung des Landes. Darin wird festgeschrieben, dass Israel die „nationale Heimstätte des jüdischen Volkes“ und das vereinte Jerusalem die Hauptstadt ist. Hebräisch wird zur alleinigen Nationalsprache erklärt, während Arabisch, das in Israel bisher ebenfalls offizielle Sprache war, nur einen nicht näher definierten Sonderstatus erhielt. Betont wird auch, dass jüdische Siedlungen in Israel im Interesse des Nationalstaates seien.“ (Wiki)

Innerisraelische Kritik darf in Deutschland nur im Flüsterton verbreitet werden:

„Benny Begin, Sohn des Mitbegründers der jetzigen Regierungspartei Likud, artikulierte seine Besorgnis über die Richtung seiner Partei; seiner Meinung nach bewegt sich die Likudpartei wieder ein Stück weiter weg von den Menschenrechten. Adalah (Zentrum für die Rechte der arabischen Minderheit in Israel) schreibt in seinem Positionspapier, das Gesetz enthalte „Schlüsselelemente der Apartheid, was nicht nur unmoralisch, sondern unter internationalem Recht absolut verboten“ sei. Das Gesetz mache Israel zu einem ausschließlich jüdischen Staat, es habe „Diskriminierung zu einem Verfassungswert erhoben“. Schimon Stein und Moshe Zimmermann kommentieren, das neue Gesetz stelle die Gleichberechtigung der in Israel lebenden Araber in Frage: Arabisch verliere seinen Status als Amtssprache, der muslimische Kalender sei nicht länger offiziell. Und nur die jüdische Besiedlung des Landes und die jüdische Einwanderung gälten als Grundwerte. Der erste Satz „Das Land Israel ist die historische Heimat des jüdischen Volkes, in dem der Staat Israel entstand“ eröffne Möglichkeiten für die Annexion des Westjordanlandes, für den Abschied von der Zwei-Staaten-Lösung und der Demokratie.“ (Wiki)

Netanjahu regrediert, aus Kalkül oder Überzeugung, immer mehr in den demokratiefeindlichen Geist ultraorthodoxer Religion, die das Land in seiner biblischen Größe als Ziel der Politik festgelegt hat. Wer kein Jude ist, gilt als minderwertig, Araber sind – für manche Rabbiner – Tiere.

In diesem Sinn kann Israel keine Demokratie mehr sein. Die zionistische Utopie als Zufluchtsstätte der verfolgten, mit dem Tode bedrohten Juden, verwandelte sich – nach dem 6-Tage-Krieg und der Eroberung heiliger Orte – unaufhaltsam in eine rechtlose Dauerqual der okkupierten Palästinenser. Der Geist areligiös-kosmopolitischer Gründerjahre ist – bis auf Reste bei aufrechten Kritikern – komplett verschwunden. Wer nicht protestiert, kompensiert sein schlechtes Gewissen mit wirtschaftlichem Erfolg und technisch-wissenschaftlicher Brillanz.

Um zu ermessen, was geschehen ist, müssen wir uns der Anfänge erinnern:

„Judentum scheint mir fast ausschließlich als moralische Einstellung im Leben und zum Leben zu betreffen. Das Wesen der jüdischen Lebensauffassung scheint mir zu sein: Bejahung des Lebens aller Geschöpfe. Leben des Individuums hat nur Sinn im Dienst der Verschönerung und Veredelung des Lebens alles Lebendigen. Leben ist heilig, d.h. der höchste Wert, von dem alle Wertungen abhängen. Judentum ist kein Glaube. Der jüdische Gott ist nur eine Verneinung des Aberglaubens, ein Phantasieersatz für dessen Beseitigung. Es ist auch ein Versuch, das Moralgesetz auf Furcht zu gründen, ein bedauernswerter unrühmlicher Versuch. Doch scheint mir, dass die starke moralische Tradition im jüdischen Volke sich weitgehend von dieser Furcht losgelöst hat. So ist das Judentum keine transzendente Religion. Noch viel stärker kommt die Forderung der Solidarität aller Menschen zum Ausdruck, und es ist kein Zufall, dass die sozialistischen Forderungen größtenteils von Juden ausgingen. In der Tradition des jüdischen Volkes steckt ein Streben zur Gerechtigkeit und Vernunft, das der Allgemeinheit der Völker auch in der Gegenwart und Zukunft dienen soll. Das jahrtausendealte jüdische Volk ist eine Gemeinschaft moralischer Tradition, die in den Zeiten der Not stets ihre Stärke und Lebenskraft erwiesen hat. Aus ihr sind zu allen Zeiten Männer hervorgegangen, die das Gewissen der abendländischen Welt verkörpert haben, Verteidiger der Menschenwürde und Gerechtigkeit. (Mein Weltbild)

Schrieb ein unbedeutender Jude namens Albert Einstein. Auf seine wissenschaftliche Genialität ist man stolz, seine bewundernswerte Humanität wird totgeschwiegen. Quantifizierbare Intelligenz wird idolisiert, nicht-quantifizierbare Menschenfreundlichkeit beiseitegeschoben. Wäre Einstein kein überragender Naturwissenschaftler gewesen, wäre seine philosophische Weltsicht nicht mal gedruckt worden.

Der physikalische Traumtänzer sah nicht nur das palästinensische Problem, er sag sogar eine Lösung:

„Wir, Juden und Araber, müssen uns selbst einigen über die den Bedürfnissen beider Völker genügenden Richtlinien für ein ersprießliches Zusammenleben. Eine gerechte und beider Völker würdige Lösung dieser Aufgabe bedeutet für uns ein nicht minder wichtiges und schönes Ziel als die Förderung der Aufbauarbeit selbst. Hierzu gehört es, dass wir das Problem des Zusammenlebens mit dem Brudervolk der Araber in einer noblen, offenen und würdigen Weise lösen. Hier haben wir Gelegenheit, zu zeigen, was wir in den Jahrtausenden unserer schweren Vergangenheit gelernt haben. Wenn wir den rechten Weg gehen, werden wir Erfolg haben und den anderen Völkern ein schönes Beispiel geben. Was wir für Palästina tun, das tun wir für die Würde und Gesundung des ganzen jüdischen Volkes. Die größten Feinde jüdischen Volksbewusstseins und jüdischer Würde sind fette Degeneration, d.h. aus Reichtum und Wohlleben hervorgegangene Gesinnungslosigkeit.“

BILD und WELT, Döpfners Gazetten, überbieten sich in Verfemung humaner Moral als potentiellem Gesinnungsterror. Würde Einstein heute seine Prinzipien verkündigen, wären Poschardt & Co die ersten, die seinen Moralismus als Gefahr fürs Abendland versenken würden. Sie geben sich als Philosemiten, indem sie das Gegenteil provozieren.

Einstein war nicht der Einzige, der in jenen Jahrzehnten das Lied von der Menschlichkeit sang. Poschardt würde sich überschlagen, den Entdecker der Relativitätstheorie heute als moralischen Besserwisser zur Strecke zu bringen. Der Relativitätstheorie stellt er seinen Absolutismus des Verbots aller gesetzlichen Verbote gegenüber – mit Ausnahme all jener Dressurmethoden, die den Wohlstand des Landes garantieren sollen.

Einstein löste sich nicht nur vom Erlösungspartikularismus der jüdischen Religion. Er betonte auch, ganz in der Tradition der jüdischen Aufklärung, den universellen Geltungsbereich der Moral. Die Transzendenz der Religion wischt er vom Tisch. Entweder ist Religion Moral oder sie ist nicht.

Einsteins Moral ist utopisch. Unbeirrt glaubt er an die „Veredelung und Verbesserung“ des menschlichen Lebens. Dafür würde man ihn heute als Zwangsbeglücker steinigen. Moralisches Vorbild zu sein, ist für ihn keine Überheblichkeit, sondern eine logische Schlussfolgerung der Moral.

Nehmen wir Einsteins Kriterien als Maßstab politischer Bewertung, bewegt sich Israel auf dem abschüssigen Pfad eines ethischen Identitätsverlusts. Nicht anders als Amerika und Europa, die dabei sind, den Gründungsgeist ihrer Anfänge ins Gegenteil zu verkehren. Nicht nur das. Damit setzen sie auch das bloße Überleben der Gattung aufs Spiel.

Einstein spricht von der „trunkenen Freude und Verwunderung über die Schönheit und Erhabenheit dieser Welt, von welcher der Mensch eben noch eine schwache Ahnung erlangen kann. Es ist das Gefühl, aus welchem auch die wahre Forschung ihre geistige Kraft schöpft, das sich aber auch im Gesang der Vögel zu äußern scheint.“

Wäre es nach Einstein gegangen, hätten wir heute keine ökologische Krise. Eine jüdische Kritik an der Religion ist heute weit und breit nicht zu hören. Selbst Ungläubige legen Wert auf religiöse Verbundenheit mit ihrem Volk. Unter dem Aspekt des Holocaust ist die Solidarität ohne Wenn und Aber zu verstehen, unter dem Vorzeichen zu lösender Gegenwartsprobleme wäre Tachelesreden längst überfällig. Eine Nation, die sich zunehmend dem unheilvollen Einfluss einer Religion überlässt, darf sich nicht wundern, dass selbst Freunde irre werden.

Freunde? Die Auserwählten unter den Juden sind überzeugt, dass sie keine Freunde unter den heidnischen Völkern haben können. Heiden sind von Gott zum Untergang bestimmt. Da Juden keine Freunde haben können, versuchen sie erst gar nicht, die Freundschaft anderer zu erwerben. Selbst befreundete Nationen, glauben sie, werden eines Tages ihre Maske fallen lassen und sich als Feinde zu erkennen geben.

Da machen sie sich gar nichts vor. Weshalb ihre Politiker zu triumphieren beginnen, wenn sich wieder einmal erwiesen hat, dass die Völkergemeinde – besonders in der UNO – sich israelfeindlich verhalten hat.

Nicht anders als deutsche Christen geben sich viele Juden als Glaubensskeptiker zu erkennen, doch jede Kritik an ihrer alttestamentlichen Religion weisen sie empört zurück. Nicht selten mit dem Verdikt, Religionskritik sei nichts anderes als Antisemitismus. Strategisch stellen sie sich auch vor die christliche Religion, obgleich die Juden im Neuen Testament als Mörder Gottes dargestellt werden. Wer das Neue Testament ablehne, würde auch das Alte Testament verwerfen. Beide seien jüdischer Herkunft.

Von all diesen hasserfüllten Streitigkeiten hat sich Einstein gelöst. An die Stelle eines strafenden Rachegottes setzt er die Vernunft. Ja, er war überzeugt:

„dass sich die starke moralische Tradition im jüdischen Volk weitgehend von dieser Furcht losgelöst hat.“

Der Einwand liegt nahe, dass Einsteins moralische Träumereien nicht fähig gewesen wären, den Staat Israel – von allen Nachbarn bedroht – auch nur über die ersten Anfänge zu bringen. Nach 2000 Jahren politischer Abstinenz seien die Juden ein übermoralisches Volk geworden, das wieder das Einmaleins politischer Interessen lernen musste. Mit humanen Sprüchen gründe man keinen Staat, schon gar nicht wider die nächsten Feinde. Es kann kein Mensch im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Nicht ganz abzuweisen, solche Einwände. Und dennoch zu kurz gesprungen. Notwehr mit Gewalt kann nur ultima ratio sein. Grundtenor aller Politik aber muss aufbauende Verständigungspolitik sein. Wer ein fremdes Land als feindselig definiert, will es mit Gewalt zur Raison bringen.

Welcher Staat entstand ohne Gewalt, ohne Verbreitung von Furcht und Schrecken? Besonders christliche Nationen griffen nach der ganzen Welt, weil ihr Glaube ihnen die Herrschaft über die Erde verhieß:

und machet euch die Erde untertan. Denn sie werden das Erdreich besitzen. Hat nicht Gott die, welche vor der Welt arm sind, dazu erwählt, dass sie im Glauben reich und Erben des Reichs sind?

In diesem Glauben machten sie sich die Natur untertan und wurden zu Oberherrn der Völker.

Christen und Juden teilen denselben Glauben an die finale Herrschaft über Mensch und Natur. Noch bilden Juden eine Koalition mit den Christen, um ihre Ultra-Phantasien (Verheißungen) in Realität zu verwandeln. Eines Tages aber wird sich die Koalition in Feindschaft verkehren, wenn die Juden sich weigern, sich christlich taufen zu lassen. Nur wenn sie sich den Christen unterwerfen, werden Christen und getaufte Juden einträchtig ins Goldene Jerusalem einziehen.

Den Streit um wahre Auserwähltheit inszenierten bereits die Nationalsozialisten, die alle Kinder Israels eliminieren wollten, um ihre Stelle einzunehmen.

Alle drei Erlöserreligionen sind sich einig im Glauben, die wahren Gläubigen werden am Ende der Geschichte den Endsieg erringen. Sie sind sich nur nicht einig, welche der drei Religionen über die anderen triumphieren wird. Da wird es tödliche Gemetzel geben.

All diese Heils- und Unheilsspekulationen sind den meisten deutschen Christen unbekannt. Ihre heiligen Schriften kennen sie nicht. Was sie unter Glauben verstehen, erfinden sie selbst. Nur Leser der heiligen Schriften wissen Bescheid und stellen sich auf die künftigen Endschlachten ein.

Dass die jungen Zionisten eine Armee aufbauten, um sich gegen Angriffe zu schützen, kann ihnen kein Realist vorwerfen. Dass aber nach erfolgreichen Kriegen der Geist der Unversöhnlichkeit und Landnahme über den Geist der Versöhnlichkeit siegen würde, dass rachsüchtige Fundamentalisten die Gesellschaft zu unterminieren begönnen – das war die Umdrehung aller früheren Ideale ins Gegenteil.

Falsch, dass Realität und Ideal sich ausschliessen. Soviel Realismus wie nötig, so viel Idealismus wie möglich. Die Welt besteht nicht aus Gut und Böse, sondern aus einer fließenden Skala zwischen dem Ungeheuren und dem Geheuren. Es liegt an der Ernsthaftigkeit des moralpolitischen Kampfes, den Zeiger der Skala vom verderblichen zum friedenstiftenden Pol zu bewegen.

Sollten die Völker in bedrohlichen Klimazeiten sich den Luxus von Kriegen erlauben, können sie sich den Kampf gegen weltweite Hitze und Dürre sparen. Aus Angst vor dem Tod werden sie sich prophylaktisch massakrieren.

Kritik unter Freunden ist nicht erlaubt: sie ist geboten. Dass Nachkommen der Opfer wenig geneigt sind, auf kritische Stimmen aus dem Land der Täter zu hören, kann niemanden verwundern. Doch gemach, es gibt viele brillante und humane Stimmen aus Israel selbst, die ihre Landsleute zur Umkehr auffordern. Wer aber hört auf sie?

Unter ihnen Carlo Strenger, der in seinem Buch: „Israel, Einführung in ein schwieriges Land“, schreibt:

„So lebe ich wie viele meiner Freunde zwischen der Hoffnung, dass Israel endlich der Stimme der Vernunft folgen wird, und der verzweifelten Feststellung, dass die nationalen Mythen schwer aus den Köpfen der Menschen zu bekommen sind. Der wohl bedeutendste Mythos ist der vom auserwählten Volk. Schon die Idee, dass ein Volk erwählt sei, müsste als vollkommen irrational betrachtet werden. Es ist einer der schwerwiegendsten Fehler der israelischen Politik, das eigene Handeln allzuoft ausschließlich unter Verweis auf die Shoa zu rechtfertigen. Der einzig sinnvolle Umgang scheint mir, dem Trauma nachträglich einen Sinn zuzusprechen, indem es zu moralischen Schlussfolgerungen führt. Ich denke aber, dass Israel die falschen Schlüsse gezogen hat. Die Möglichkeit, die Palästinenser zu unterjochen, anstatt ihnen volle politische Rechte zuzugestehen, ist für mich als Mensch und Jude eine moralische Unmöglichkeit. Meine Hoffnung ist, dass meine Landsleute eines Tages die kosmopolitischen Aspekte der jüdischen Geschichte nicht mehr als Grund zur Scham, sondern als Versprechen auf die Zukunft betrachten können. Nur eine Politik jenseits des Erlösungsbedürfnisses, die mit der Unvollständigkeit der menschlichen Existenz Frieden geschlossen hat, wird auch Israel und dem Nahen Osten Frieden bringen können.“

Auf Deutschlands Straßen wächst der Judenhass. Die Regierung kennt keine anderen Mittel, als Gesetze zu verschärfen und die Zahl der Polizisten zu vermehren. Nach Gründen des wachsenden Antisemitismus und anderer Formen des Fremdenhasses wird nicht gefragt.

Genuinen Antisemitismus im Ungeist des Christentums gibt es vermutlich immer weniger. Antisemitismus aus anderen Quellen aber, die in die traditionellen Wundstellen einfließen, vermehrt sich täglich. Dieser nicht traditionelle Antisemitismus entspringt dem zunehmenden Hass auf die Verlogenheit oder polymorphe Amoral der politischen und medialen Eliten. Es ist verhängnisvoll, dass beide Formen des Antisemitismus nicht streng auseinandergehalten werden.

So kann es keinen wirksamen Kampf gegen die Ursachen des Verhängnisses geben. Fast scheint es, als sei eine wirksame Eindämmung des Antisemitismus gar nicht erwünscht. Je mehr antisemitische Aktionen es auf der Straße und in den Medien gibt, umso besser kann jede Kritik an Netanjahus heilloser Politik als Antisemitismus von der Tenne gefegt werden. Der weitere Anstieg des Antisemitismus ist vorhersehbar.

Der polymorphe Amoralismus der Springerpresse gibt sich moralisch-aggressiv gegen Feinde und amoralisch-konkordant gegen Netanjahu. Ihre Übereinstimmung mit dem Sohn eines Historikers ist mehr als Zufall. Wer Netanjahus Schriften durchblättert, erfährt, was echte Juden aus Schrot und Korn sind.

Da ist zunächst die Verherrlichung des unbeugsamen Judentums des Altertums:

„In der Antike wurden die Juden vielleicht nicht geliebt, aber sie genossen Respekt für die Entschlossenheit und ihre Fähigkeit, Angriffen zu widerstehen.“

Dann der „Abstieg in den Moralismus“:

„In den Jahrhunderten des Exils begann sich der Charakter der Juden langsam, aber sicher zu wandeln. Dass sie nicht zu den Waffen greifen würden, sich nicht so weit erniedrigen würden, selbst Gewalt anzuwenden, betrachteten die Juden nun als Beleg für ihre moralische Überlegenheit über andere Völker.“

Da Juden weiterhin mit Vernichtung bedroht werden, „gefährdet man ihre Existenz, wenn man den Zionismus ethischen Imperativen unterordnet.“ (Alles in Peter Beinart, Die amerikanischen Juden und Israel)

Hier zeigt sich die moralfeindliche Konkordanz zwischen Döpfners Regression in die Deutsche Bewegung und Netanjahus neoorthoxoder Militanz. Wenn kritische Stimmen menschenrechtswidrige Vorgänge in Israel mit nationalsozialistischen Vorbildern vergleichen, werden sie heftig gescholten. 

Abstieg in den Moralismus: so erlebten die Deutschen nach der napoleonischen Besetzung ihre politische Bedeutungslosigkeit. Also mussten sie amoralisch-machiavellistisch werden, um Bismarcks Reich zu gebären. Es gibt zwei Pole der deutsch-jüdischen Symbiose: auf der einen Seite die jüdische Aufklärung (Kant und Moses-Mendelssohn) als Verbindung mit der Menschheit, auf der anderen Seite Macht und Gewalt als Staatsraison. In Netanjahus Abscheu vor dem „Abstieg in den Moralismus“ sind Deutschlands Rechte identisch mit der israelischen Regierung.

Wenn Palästinenser Nazis sind, ist jeder Kompromiss nutzlos; einem solchen Feind kann man nur mit Gewalt begegnen. Indem Netanjahu die Palästinenser wiederholt mit Nationalsozialisten gleichsetzt, nimmt er ihnen Menschlichkeit und verwandelt sie in irrationale Judenhasser, die sein Volk ausrotten wollen. „Araber verstehen nur Gewalt“. (Netanjahu)

In seinem Werk Der Kusari (1140) erzählt der jüdische Philosoph Jehuda Halevi ein Gespräch zwischen einem Rabbiner und einem heidnischen König. Der Rabbiner erklärt dem König, die Juden würden sich an höheren ethischen Maßstäben messen als die Christen. Der König erwiderte, die Moralität der Juden sei nur das Produkt ihrer Schwäche: „Hättet ihr die Macht, würdet ihr eure Feinde erschlagen.“

Peter Beinarts dringliches Fazit kann man in feigen deutschen Medien nicht nachlesen.

„In Israel wird sich zeigen, ob die Vermutung des Königs zutrifft. Wir können endlich herausfinden, ob die hohen ethischen Maßstäbe, mit denen die Juden der Diaspora so oft zum Gewissen ihrer Länder wurden, ihre Gültigkeit auch dann behalten, wenn die Juden ihr eigenes Land haben. Wenn die israelische Demokratie scheitert, scheitern alle Juden. Wo auch immer sie leben, sie werden ihr Leben damit verbringen, in den politischen, ethischen und theologischen Trümmern nach ihrer jüdischen Identität zu suchen.“

Philosemitismus ist, Juden als Menschen zu betrachten und Israel mit kritischem Wohlwollen zu begleiten, dass eine Verständigungs-Politik ihres Staates sich durchsetzen möge.

Der Philosemitismus der deutschen Regierung plus angeschlossener Springerpresse tut das Gegenteil. Unter dem Etikett bedingungsloser Loyalität lassen sie ihre Verbündeten ins Verderben rennen. Das ist alter deutscher Antisemitismus im trügerischen Gewand eines neuen Philosemitismus.

 

Fortsetzung folgt.