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Von vorne XLV

Von vorne XLV,

nun sollen sie nicht nur das Klimaproblem lösen, sondern zugleich das drohende Wettrüsten verhindern.

Mit anderen Worten: die Jugend soll nicht nur Weltprobleme lösen, sondern die Menschheit von der Welt erlösen. Fordert ein kerniger Journalist – und verharrt regungslos in seiner Redaktionsstube.

Warum geht er nicht mit gutem Beispiel voran? Warum trommelt er nicht unter seinen KollegInnen, stürmt die Straße, macht sich gemein mit einer guten, ja notwendigen Sache?

„Es fehlt eine machtvolle junge Generation, die sich für Abrüstung einsetzt, angeführt von einer charismatischen Persönlichkeit wie der jungen Schwedin Greta Thunberg.“ (Sueddeutsche.de)

Sie beklagen die untätige Politik – und tun dasselbe. Sie heben und senken den Daumen über alles, was sich regt und bewegt, nur nicht über sich selbst. Nicht mal mit ihren eigenen Überlebensinteressen machen sie sich gemein.

In gefährlichen Zeiten entlarven sie, was sie schon immer waren: die Absegnungspriester des Bestehenden. Sie schreiben und kommentieren, was Ist, nur sorgen sie nicht für das Ist. Wenn Ist verschwunden sein wird, werden sie seine Geschichte aus jenseitiger Perspektive schreiben: „Das Ist, wie es war. So wird es nie wieder sein, die Menschheit hat versagt.“

Die Welt brennt. Kriegsgefahr am Hormus, in Kaschmir, Nordkorea, Flüchtlingselend weltweit, Bürgerkrieg und Terroranschläge in Amerika, Aufruhr der Bevölkerung in Hongkong, Moskau und fast überall – was kommentiert einer der wichtigsten SZ-Kolumnisten? Die „amerikanische Eröffnung“, wer wen zum Traualtar führt. (Sueddeutsche.de)

Stets nach dem demütigen Motto: wer im Kleinsten treu ist, ist es auch im Großen. An dieses Motto hält sich auch die Kanzlerin. Im Kleinen tut sie ihre Pflicht – und

überlässt die großen Dinge unbekannten Mächten. Politik und Medien in prästabilierter Eintracht.

Die Schuld an der jetzigen Krise wird an den Rändern der Gesellschaft verteilt. Die in der Mitte sitzen, sind stets unschuldig. Historische Analysen, Bedingungen des Werdens? Fehlanzeige. Das Ist, identisch mit dem rasenden Augenblick, kann keine Ursachen haben. Da der Herr der Geschichte nach Willkür handelt, gibt es keine erklärbaren Linien der Historie. Die Geschichte des Menschen wird zum Kaleidoskop zerrissener Fakten.

Am Hormus sehen wir eine „amerikanische Eröffnung“. Wer sich den Interessen einer Weltmacht widersetzt, muss bluten. Friedensbemühungen der Völker werden demontiert, das Objekt der kapitalistischen Begierde mit kalkulierten, rasch eskalierenden Nadelstichen herausgefordert. England wird geködert, um ein iranisches Schiff festzusetzen. Wenn das Objekt der Aggressionen zu reagieren wagt, wird es von den im Geiste abendländischer Werte verbundenen Medien des Westens zum Sündenbock erklärt. Sanktionen haben die Wirtschaft des dämonisierten Landes ruiniert. Israel erledigt seine treuen Bombardier-Pflichten im Verborgenen:

„Zwei Luftangriffe auf iranische Stellungen, tief im Irak – aber niemand will es gewesen sein. Auch das Regime in Teheran schweigt.“ (SPIEGEL.de)

Kritiklose Stille im bedingungslos loyalen Land der Täter. Europa zerrissen und feige. Britannien strebt zurück in die einst weltbeherrschende Koalition der Neocalvinisten und brüskiert die lächerliche Völkergemeinschaft des Kontinents.

Die Situation im Nahen Osten sei vergleichbar mit der vor dem Ersten Weltkrieg, erklärt ein internationaler Experte:

„Die Gefahr besteht, vor allem weil beide Seiten nicht miteinander reden. Es gibt viel Raum für Missverständnisse. Anders als bei Nordkorea oder China hat US-Präsident Donald Trump im Fall Iran eine vergleichsweise stabile politische Lage in eine enorm gefährliche verwandelt. Die Europäer zeigen gerade, dass sie vollständig der amerikanischen Außenpolitik folgen. Ein Jahr lang haben die Iraner jede Eskalation vermieden, und das obwohl die USA aus dem Nuklearabkommen ausgestiegen sind und den Druck immer weiter erhöht haben. Die Iraner nannten das „strategische Geduld“. Aber im Frühjahr gab es dann eine neue Sanktionsrunde.“ (SPIEGEL.de)

Käme der Krieg, würden wir dann nicht erklären: Niemand wollte den Krieg, wie konnte das geschehen? Waren wir überfordert?

„Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass das deutsche Kaiserreich wegen seiner Großmachtträume die Hauptverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trug. In seinem bahnbrechenden Werk kommt der renommierte Historiker und Bestsellerautor Christopher Clark zu einer anderen Einschätzung. Clark beschreibt minutiös die Interessen und Motivationen der wichtigsten politischen Akteure in den europäischen Metropolen und zeichnet das Bild einer komplexen Welt, in der gegenseitiges Misstrauen, Fehleinschätzungen, Überheblichkeit, Expansionspläne und nationalistische Bestrebungen zu einer Situation führten, in der ein Funke genügte, den Krieg auszulösen, dessen verheerende Folgen kaum jemand abzuschätzen vermochte.“

Schreibt der englische Historiker Clark über die Entstehung des Ersten Weltkriegs. Geschichte wiederholt sich? Ach was, alles Zufall. Jeden Tag erneuern wir uns. Wer sollte zuständig sein für Wiederholungen?

Historiker sind Wissenschaftler, sie dürfen nicht werten. Wer aber nicht wertet, entschuldigt. Waren die Vorväter keine Übeltäter, so können die Mächtigen der Gegenwart auch keine sein. Die Ent-Schuldigung der Vergangenheit wird zum Blankoscheck der Gegenwart. Haut rein, Mächtige der Welt. Seid ihr doch nur Opfer der pöbelhaften Missgunst auf eure Brillanz.

Während die Welt ihrem Unglück entgegen schlafwandelt, haben die Deutschen Urlaub. Still ruht der See, er ladet zum Bade. Die Welt wird sich doch nicht den Fehler erlauben, dramatisch zu werden, wenn die Germanen sich um die besten Liegeplätze auf Mallorca streiten?

Am Schicksal der Menschheit ist die Menschheit schuld. Und hätte sie noch so viele Götter und Himmelsmächte erfunden, um ihre Schuld auf nicht existente Erlöserschultern zu packen. Am schuldigsten aber sind die Mächtigen, die an den Fäden ziehen.

Die Mächtigen sind die Eliten, die ihre Machenschaften durch Gebildete und Hochintelligente rechtfertigen lassen. Da geht es um die Überlegenheit der Krone der Schöpfung, um männliche Hochkulturen, um Fortschritt und Aufwärtsentwicklung zum Punkt Omega, wie der katholische Theologe Teilhard de Chardin den Zielpunkt der Geschichte nannte.

In Deutschland dürfen Eliten nicht angegriffen werden, sonst gerät man ins Fadenkreuz ihrer medialen Bodyguards. Das entspricht dem lutherischen Gebot: seid untertan der Obrigkeit. Zur Untertänigkeit gehört das Gebot: haltet euch raus aus oberen Dingen, euch fehlt jedes Verständnis für das Geschäft des Weltgeistes.

Bis vor kurzem waren Mächtige und Medien die Einzigen in der Demokratie, die ihre Meinung landesweit verbreiten konnten. Seitdem der Pöbel mitreden kann, zeigt er seine Inkompetenz durch Lästerung und Verunglimpfung. Medien haben solche Rauhbauzmethoden nicht nötig, sie beherrschen ein Glossarium, das Shitstorm in hochgestochene Begriffe zu übersetzen weiß, wozu ein gerüttelt Maß an Intelligenz gehört. Aufsteiger sind keine aufgeblasenen Windhunde, sondern Populisten; eine geltungssüchtige Uni ist keine Liebedienerin der Macht, sondern eine Exzellenz-Uni, ein Reinhold Messner kein Vergewaltiger der Natur, sondern eine wagemutige Koryphäe.

Eliten folgen dem Rat des gymnasialen WELT-Schreibers Werner, wonach die Begabten unter sich bleiben sollen, damit ihr Niveau nicht Schaden leide. Selbst, wenn sie nicht so begabt sind, bleiben sie am liebsten unter sich, um sich den Anschein des Brillanten zu bewahren.

Während Frankreichs Eliteschmieden durch Macron geschleift werden sollen, bleiben Englands Elite-Colleges uneinnehmbare Trutzburgen. Boris Johnson war ein herausragender Absolvent der vornehmsten aller Eliteschmieden:

„Diese Regierung repräsentiert damit eben gerade nicht „das moderne Großbritannien“ (Johnson), sondern ein archaisches System, das seinen Angehörigen bis heute mit großem Selbstverständnis beibringt, dass sie zu Höherem, Größerem, Besserem berufen sind als der Rest. Ein System, das Machterhalt und Machtausübung lehrt, in dem aber nicht notwendigerweise der Beste, sondern der Schlaueste ganz nach oben kommt. Und das in seinem Eifer, eine herrschende Elite zu erzeugen, bis heute nicht wenige Kinderseelen nachhaltig beschädigt hat. In den Köpfen vieler wird dieses System von keiner Schule formvollendeter repräsentiert als vom reinen Jungeninternat Eton College. Eine Recherche in Privatschulen und unter deren ehemaligen Schülern führt geradewegs hinein in eine exklusive, von archaischen Regeln und unerhörtem Reichtum geformte Welt, die es so tatsächlich nur noch in Großbritannien gibt. Es ist eine Welt, in der Erfolg, egal wie, über allem schwebt. Eine Welt, die gemessen an ihrer Größe so viele Staatsmänner, vermeintliche Kriegshelden, Nobelpreisträger, Goldmedaillen- und Oscargewinner wie keine andere hervorgebracht hat. Und die wie kaum eine andere Ungleichheit und Ungerechtigkeit befördert, vertieft und zementiert hat.“ (SPIEGEL.de)

Gemessen an seinen elitären Institutionen ist England keine Demokratie, sondern eine Herrschaft der Reichen und derer, die sich für die Besten halten: Plutokratie und Meritokratie. In Amerika kaum anders, wenn auch verdeckter.

In Deutschland sind solche Verhältnisse nicht unbekannt. Solange Schulen selektive Aufstiegseinrichtungen sind, kann keine Demokratie eine Herrschaft der Gleichen sein.

In allen Ländern herrscht Unterrichtspflicht, nur in Deutschland gibt es eine Schulpflicht. Die staatliche Schulpflicht wird damit begründet, dass Kinder lernen sollen, mit Kindern aus allen Schichten der Gesellschaft bekannt zu werden, ein soziales und demokratisches Miteinander einzuüben.

Das ist Haschen nach Wind. In Wirklichkeit sind Schulen dazu da, der Wirtschaft kompetente Nachwuchskräfte zu liefern, die sie mit allgegenwärtigen Zensuren vorselektieren, um den Betrieben die Auswahl zu erleichtern. Ein gleichberechtigtes Miteinander? Unerwünscht.

Besteht demokratische Kompetenz in der Fähigkeit, jeden anderen auf gleicher Augenhöhe gleichwertig zu empfinden, wird die Akzeptanz durch ein klassifizierendes Notensystem von Anfang an über den Haufen geworfen. Jedes Schulkind betrachtet seine MitschülerInnen unbewusst nach dem Kanon der Durchschnittszensuren, mit denen alle gebrandmarkt werden. Die Klassenstruktur der Gesellschaft entspringt der Klassengesellschaft der Schulen, die Gleichwertigkeit und soziales Miteinander am Boden zerstören.

Die Zensurdiktatur zerstört den sozialen Auftrag, mit dem Schulpflicht begründet wird. Demokratische Eltern dürften ihre Kinder nicht in staatliche Schulen schicken. Denn ihre Kinder werden nach angeblicher Intelligenz geschichtet. Ihre Fähigkeiten, mit anderen in gleichberechtigtem Wohlwollen umzugehen, spielen keine Rolle.

Dass Kinder ohne Schulpflicht keine sozialen Kompetenzen erwerben könnten, ist dasselbe Argument, wie man Müttern nicht zutraute, dank eigener Kompetenz die Dimension des Öffentlichen kennenzulernen. Also mussten sie als Heimchen am Herd diffamiert werden, um sie in die Fänge des Kapitalismus zu treiben – bekanntlich die demokratischste Schmiede der Welt.

Was aber ist Intelligenz? Ein Intelligenzforscher antwortet:

„Da kann ich Ihnen erst mal nur eine sehr unbefriedigende Antwort liefern, denn es gibt da keine Standarddefinition. Es gibt aber eine, die relativ gut funktioniert, sie stammt aus den 1920er-Jahren: Intelligenz ist das, was ein Intelligenztest misst.“ (WELT.de)

Auch die Pekinger Regierung würde sagen: ihr totalitäres Überwachungssystem funktioniert, also muss es wahr sein. Trump ist stolz auf seine Lügen und Hasstiraden. Also müssen sie fähig sein, die amerikanische Gesellschaft nach vorne zu bringen.

Wer aber nach Wissenschaft fragt, fragt nach der Wahrheit, die sie angeblich erkannt hat. Wahrheit will erkennen, was ist. Ob das, was ist, im Dienst der Macht auch funktioniert, war bis zu Roger und Francis Bacon eine nichtexistente Frage. Die beiden wollten sich nicht länger damit begnügen, die Wahrheit des Ist herauszufinden. Sie wollten wissen, wie man gefundene Wahrheiten in funktionsfähige Mächte verwandeln kann.

Voraussetzung blieb das wahre Erkennen der Natur. Erkenntnisse aber sollten nicht folgenloses Wissen bleiben. Sie sollten benutzt werden, um Macht zu erringen über Mensch und Natur. Je besser die Transformation von Wissen in Macht gelang, umso besser funktionierte die Wissenschaft.

Wenn Intelligenz sein soll, was ein IQ-Test misst, hängt es von den subjektiven Fragen jedes Testers ab, was er ausfindig macht. Das ist das Gegenteil aller Wissenschaft, die stets gleichbleibend-zuverlässige Erkenntnisse liefern soll.

C. F. von Weizsäcker verwies einmal mit Stolz auf die Tatsache, dass Atomwissenschaftler aus Ost und West, wiewohl verfeindet, dieselben Messergebnisse in unabhängigen Testversuchen ermittelten.

Die WELT-Interviewerin scheint von Wissenschaften nichts zu verstehen, sonst hätte sie die schwammige Umschreibung der Intelligenz zurückweisen müssen. Ihre hilflose Nachfrage:

„Das sagt erst mal nicht richtig viel“

beantwortet der Experte:

„Nein, das ist eher pragmatisch. Es gibt immerhin ein paar Punkte, in denen sich fast alle einig sind, die sich beruflich mit Intelligenz beschäftigen. Etwa, dass es besser ist, mehr davon zu haben als weniger. Denn ein gutes Ergebnis in einem Intelligenztest sagt durchaus so etwas wie Lebenserfolg voraus: Je besser das Abschneiden dort, desto größer die Lebenszufriedenheit, desto besser die Gesundheit, desto höher das Einkommen. Es geht um verschiedene Fähigkeiten, sprachliche, mathematische etwa, oder das räumliche Vorstellungsvermögen, und etwas, das sie alle gemeinsam bedingt: Einen allgemeinen Faktor von Intelligenz, wir nennen ihn „psychometrisches G“. Je höher er ist, desto höher die Leistungen.“

Hier offenbart sich die Lebenslüge staatlicher Schulpflicht, die mit dem Erwerb sozialer Kompetenz begründet wird. Mit Zensuren ermitteln Schulen die Intelligentesten. Intelligenz wird zum prognostischen Index gesellschaftlichen Erfolgs. Erfolg muss verschieden sein von Erfolg und eine Rangordnung begründen, die die Würde des Einzelnen zerstört. Denn Würde ist Anerkennung von Gleichwertigkeit. Wird Gleichwertigkeit durch Kastenbildung zerstört, kann es auch keine Würde mehr geben. Je kapitalistischer eine Gesellschaft, desto würdeloser wird sie.

Begabungen sind verschieden, aber alle von gleichem Wert. Keine Begabung darf auf Kosten einer anderen erhöht werden. Würde der individuelle Liberalismus sich selbst verstehen, müsste er jede Begabung als gleichwertige willkommen heißen.

Demokratie war keine Erfindung von Technikern und Rechnern, sondern von Humanisten, die dem zoon politicon eine gleichberechtigte Autonomie erkämpfen wollten.

Die Instrumentalisierung der Intelligenz ist derart vorangeschritten, dass Politiker fordern, Kinder mit mangelhaften Deutschkenntnissen (Flüchtlingskinder!) aus der Schule zu entfernen. Schulen scheinen nicht in der Lage, ein soziales Vertrauensklima herzustellen, in dem Kinder voneinander lernen könnten. Benachteiligte Kinder müssen durch Ausschluss und Herabsetzung zusätzlich gekränkt werden. Ein pädagogisches Desaster.

„Knallharte Forderung von Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann (41, CDU)! Kinder, die zu wenig Deutsch sprechen, sollen nicht an Grundschulen aufgenommen werden, verlangt der Politiker.“ (BILD.de)

„Pragmatische“ Wissenschaftserkenntnisse gibt es so wenig wie funktionsfähige. Dass viele sich einig sind, was das Gesuchte sein soll, ist kein Merkmal der Wissenschaft. In einem kollektiven Wahn oder totalitären System sind sich auch viele einig – was mit Wahrheit nichts zu tun haben muss.

Was der IQ-Fachmann nun an funktionstüchtigen Punkten abspult, ist das gesammelte Kompendium des Neoliberalismus. Lebenserfolg gleich Lebenszufriedenheit gleich Gesundheit gleich Einkommen oder – zusammengefasst – gleich Leistungsfähigkeit.

Eine schauderhafte Identitätskette, eine propagandistische Anmaßung. Würden die Anpreisungen stimmen, müsste eine kapitalistisch-intelligente Gesellschaft der Inbegriff des Paradieses sein. Zumindest in der obersten Schicht, die zugleich die intelligenteste wäre. Nur: wie viel % der Gesellschaft würden zur obersten, intelligentesten und glücklichsten gehören? Wäre das keine Minderheit? Wie könnte sie glücklich und zufrieden sein, wenn die Majorität weniger glücklich, ja unglücklich wäre?

Gehören die Leistungsfähigsten, das EINPROZENT der Milliardäre, zu den Intelligentesten der Gesellschaft mit den besten sprachlichen, mathematischen und räumlichen Vorstellungsfähigkeiten?

Was ist mit jenen, die virtuos die Sprache beherrschen, nichts aber von mathematischen Formeln wissen wollen? Sind sie dazu verurteilt, literarische Schlucker zu werden?

Was ist mit Wissenschaftlern, die über eine spezielle Begabung verfügen, mit der Beherrschung der Sprache aber haperts bei ihnen? Müssten sie keine Fachidioten werden, die man nicht an die Öffentlichkeit lassen kann, damit sie sich nicht blamieren?

Jahrzehntelang wurden die Menschen immer intelligenter. Plötzlich heißt es: wir werden alle dümmer. Wie das? Natürlich kennt der Experte keine Gründe. Mit Tests kann er nur feststellen, was ist. Wie etwas geworden ist, entzieht sich quantitativer Methoden. Insofern ist die folgende Aussage eine Anmaßung:

„Eine generelle Erklärung für die Verbesserung dürften dabei Umweltfaktoren sein: eine bessere Ernährung, bessere medizinische Versorgung, Bildung. Aber nun hat sich das verändert.“

Dürfte, könnte. Intelligenzforscher scheinen nicht intelligent genug, um die Grenzen ihrer Quantitätsforschung zu kennen. Wer weiß, was ist (sofern er‘s weiß), weiß noch lange nicht, wie es zustande kam. Natürlich muss es sich um Umweltfaktoren handeln, sonst gäbe es ja angeboren-invariable Gründe – und das wäre Rassismus.

WELT-Schreiber Rainer Werner war der Ansicht, dass Intelligenz vor allem auf angeborenen Fähigkeiten beruhe. Er berief sich dabei auf Untersuchungen des Zwillingsforschers Plomin.

Welch Zufall, dass Hannes Stein wenige Tage später in derselben Gazette ganz andere Erkenntnisse über Plomin zu bieten hatte:

„Das Folgende ist dagegen noch ziemlich unklar: wie Intelligenz eigentlich mit den Genen zusammenhängt. Sogar Robert Plomin, der Doyen der modernen Zwillingsforschung, kann uns nicht genau sagen, welche Gene die Intelligenz eines Menschen determinieren.“ (WELT.de)

Stein hält die angebliche Abhängigkeit der Intelligenz von angeborenen Faktoren für das, was es ist: für Rassismus im Gewand der Wissenschaften.

„In Wahrheit handelt es sich beim Rassismus nicht nur um eine Form der menschlichen Niedertracht, sondern um eine Denkfaulheit. Rassisten sagen: Die sozialen Unterschiede zwischen verschiedenen Menschengruppen sind genetisch determiniert. Da kann man halt nichts machen. Die Natur will es so.“

Zwei Artikel derselben Zeitung widersprechen sich fulminant – und keiner bezieht sich streitbar auf den anderen. Das nennt man lebendige Debattenkultur.

Was hingegen ist „emotionale Intelligenz“?

„Um das gleich zu sagen: Die mögen in ihrem Namen zwar das Wort Intelligenz haben, aber es sind eigentlich keine Fähigkeiten in dem Sinn. Darüber herrscht weitgehend Konsens. Das heißt aber nicht, dass nicht wichtig wäre, was sie beschreiben. Intelligenzforschern oder Intelligenztests wird oft unterstellt, dass sie den IQ für die einzig wichtige Komponente einer Person halten. Aber das ist ein Missverständnis. Natürlich ist es nicht so. Es ist nicht das Ziel von einem IQ-Test, die gesamte Person zu beschreiben. Und der Test ist auch kein Werturteil. Dem würde ich vehement widersprechen. Natürlich gibt es viele Persönlichkeitsmerkmale, die genauso wichtig sind wie der IQ. Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, nur zum Beispiel.“

Der Forscher weiß zwar nicht, was Intelligenz ist, doch er weiß genau, was sie nicht ist. Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit: solche wachsweichen, unquantifizierbaren Eigenschaften können mit Intelligenz nichts zu tun haben. Was sich dem Zugriff des Abzählens entzieht, ist numinos und darf vernachlässigt werden.

Fehlt freilich die entscheidende Frage: Ist Überlebensfähigkeit eine Frage der Intelligenz? Könnte die zurückgehende Intelligenz des Westens nicht damit zusammenhängen, dass er vor lähmender Angst vor dem Ende nicht mehr eins und eins zusammenzählen kann?

Einerseits soll Intelligenz mit Zufriedenheit zusammenhängen, andererseits aber mit Offenheit und Verträglichkeit nichts zu tun haben. Sind aber zufriedene und glückliche Menschen nicht die offensten und verträglichsten der Welt?

Demokratische Qualitäten, die die Schule vermitteln will, bleiben ohnehin auf der Strecke. Schule will Intelligenz vermitteln, Intelligenz aber darf mit demokratischen Fähigkeiten nichts zu tun haben. Das ist die Bankrotterklärung der demokratischen Schule.

Hinge eine Demokratie tatsächlich am meisten von Intelligenz ab, wäre jede Elitenbildung, jede Hierarchisierung der Gesellschaft absolut unerlässlich. Eliten-Internate und Exzellenz-Unis hätten eine exzellente Daseinsberechtigung.

Intelligenzforschung ist nicht nur eine Fake-Wissenschaft, sondern eine Bastion des Kapitalismus. Solche Pseudo-Wissenschaften tragen nicht nur dazu bei, das Ansehen seriöser Wissenschaften zu senken. Sie unterminieren Demokratien, weil sie undemokratische Bildungsideale verbreiten.

Die Friday-Bewegung übernimmt politisch-moralische Verantwortung für die Rettung der Welt. Da Verantwortung keine Sache messbarer Intelligenz ist, muss die Bewegung IQ-mäßig nicht ganz bei Trost sein. Das lässt hoffen.  

 

Fortsetzung folgt.