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Von vorne XLIII

Von vorne XLIII,

wenn Schreckliches geschieht unter den Deutschen, geschieht sogleich noch Schrecklicheres: sie reagieren darauf.

Keine Nachrichtensendung, die nicht über jedes Detail der bösen Tat berichtet hätte. Breitschultrige Männer, die mit düsteren Mienen vom Werteverfall reden. Priester aller Glaubensrichtungen, in Stunden der Not immer bereit, die Ursachen der bösen Tat anzuklagen: die gottlose Gesellschaft. Politik & BILD in herzinniger Verbundenheit, Gesetze müssten verschärft, Polizeibefugnisse ausgeweitet, der Hass gegen Fremde intensiviert, alle Feinde der abendländischen Werte an den Pranger gestellt werden. Rechte Parteien konnten ihr Glück nicht fassen.

Am nächsten Tag darf – an versteckter Stelle – ein Kriminalexperte enthüllen, dass Verbrechensraten und Gefühle der Bedrohung seit Jahren rückläufig sind. Ein Zusammenhang zwischen beiden Meldungen darf nicht hergestellt werden. Deutschland will sein Klassenziel nicht verfehlen: die amerikanische Quote der Einsitzenden zu erreichen. Von brasilianischen Gefängnissen darf geträumt werden.

Mit aller Entschlossenheit! Mit aller Entschiedenheit! Geld darf keine Rolle spielen! Im Zweifelsfall wird der üppige Sozialhaushalt geplündert. Wie wird das Böse bekämpft? Im entschiedenen Durchsetzen abendländischer Werte.

Abendländische Werte? Gibt es nicht in Wikipedia, dem umfangreichsten Lexikon der Weltgeschichte. Stattdessen Hinweise auf christliche Werte. Wie hängen Abendland und Christentum zusammen?

„Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muß sie als Einheit sehen.“

Sprach der erste Bundespräsident der Nachkriegsrepublik Theodor Heuss. Es müssen hochragende Gipfel sein, auf denen das Abendland entstanden ist. Demokratien

bewegen sich in den Niederungen des Volkes.

Ein dezenter Hinweis verweist uns auf – christliche Werte. Christliche Werte auf der Akropolis, auf dem römischen Capitol?

Heidnische Tempel sind ein Muster an Maß und Begrenztheit. Christliche Kathedralen können dem Himmel nicht nahe genug kommen.

Bei der triumphierenden Heimkehr musste sich der römische Kaiser von einem Sklaven zurufen lassen: „Denke daran, dass auch du ein Mensch bist.“

Auf Golgatha wurde ein leidender Mensch höhnisch daran erinnert, dass er ein Gott sein wollte.

Zwischen Theodor Heuss und Ursula von der Leyen, der neuen EU-Präsidentin, tun sich Welten auf.

Hatte sie doch in ihrer Eröffnungsrede vor dem EU-Parlament die dreieinigen Hügel gekappt und – listigerweise in englisch – das Abendland nur auf zwei Hügeln erbaut:

„Die Wiege unserer europäischen Zivilisation ist die griechische Philosophie und das römische Recht.“

Eine Woge der Empörung wegen Negierung des christlichen Leidenshügels – blieb aus. Lediglich ein EU-Abgeordneter aus Baden-Baden erklärte, „dass er eine Aussage zum christlichen Fundament und den christlichen Wurzeln Europas vermisse: «Ohne das kann es nicht funktionieren.» Er befürchte, dass das Haus einstürzen werde, «weil es eben auf Sand gebaut ist». Von der Leyen habe «die dritte und wichtigste Säule Europas» unerwähnt gelassen.“

Ausgerechnet mit Amtsantritt der frommen Ursula endet die Epoche des christlichen Abendlands. Nun beginnt das Heidentum der Griechen und Römer.

Doch freuet euch, Brüder und Schwestern im Herrn: eine Stimme aus Deutschland blieb standhaft. Es war die Stimme von Joachim Kuhs aus der – AfD. Nun wissen wir, was rechts bedeutet: unverfälschtes Christentum, das sich keinem roten oder grünen Zeitgeist beugt. Seid fruchtbar und mehret euch, wurde von Kuhs getreuer ausgeführt als von Ursula: er hat drei Kinder mehr gezeugt als die CDU-Frau. Die AfD ist die wahre CDU. (Idea.de)

Die blasphemische Kunde vom Abtragen des Golgatha-Hügels kam in Deutschland noch nicht an. Wer weiß schon im allerchristlichsten Land, was Golgatha bedeutet?

Wenn Innenminister Seehofer sich die Frage stellt, woher der Werteverfall?, stellt er nur eine Scheinfrage. Denn er weiß, woher der Verfall kommt. Und er weiß, dass die Deutschen es ebenfalls zu wissen glauben. Wenn es sonst keine Mittel gibt, den Verlust des Glaubens aufzuhalten: ein Mittel gibt es immerzu: das Böse muss überhand nehmen, damit leichtsinnige Kirchenflüchter es vielleicht doch bemerken. Das Böse muss aus der dämonischen Tiefe hervorbrechen, damit die Menschen ins Schaudern kommen.

Christen wissen, woher das Böse kommt. Allgegenwärtig steckt es in den erbsündigen „Genen“ der Menschen. Fromme staunen eher über das Gute, das sie für Hochstapelei halten. Ehrliche Menschen betrügen sich nicht über ihr Böses. Menschen, die aus eigener Kraft gut sein wollen, sind Narren für sie. Aus dem Herzen kommen böse Gedanken. Wenn Böses geschieht, werden die Frommen von der Verführungskraft des Guten befreit und kehren erleichtert ins Reich des Dämonischen zurück.

Klänge es nicht wie eine Verschwörungstheorie, müsste man sogar sagen: der Himmel selbst sorgt für das Böse, damit die Menschen nicht übermütig werden. Schließlich ist es das Böse, das für grenzenlosen Fortschritt sorgt. Wie Satan der effizienteste Knecht des Guten, so muss das Böse stets präsent sein, um den Fortschritt ins Heil zu beschleunigen.

Da es sinnvolle Mittel gegen das Böse nicht geben darf, muss Seehofer mit der absurden Idee daherkommen, das Böse mit verschärften Gesetzen und Polizeiknüppeln zu bekämpfen. So suggeriert er „Rückkehr zu abendländischen Werten“, die identisch sein sollen mit christlichen.

Was also sind christliche Werte? Grundlagen der christlichen Werte sind:

„Die alttestamentlichen Zehn Gebote, das Doppelgebot der Nächstenliebe und Gottesliebe, die Bergpredigt.“

Das genügt nicht. Hinzu kommen:

„Glaube, Liebe, Hoffnung, Gerechtigkeit und Recht.“

Würde die Gesellschaft diese Tugenden ausüben, dürfte es kein Böses mehr im Land geben. Denn Böses entsteht nur durch Erleiden des Bösen.

Wäre Seehofer nicht nur bayrischer Katholik, sondern überzeugter Christ, müsste er das Land anschwindeln, wenn er den Anschein erweckt, mit polizeilichen Maßnahmen das Böse bekämpfen zu können. Oder erleben wir etwa eine bajuwarische List: schaunmermal, wie weit wir kommen mit dem Polizeiknüppel? Sehen wir dann, dass er nichts bringt, müssen wir Kreuze in jede Wohnstube hängen?

Zwischen Katholiken und Protestanten gibt es eine unüberbrückbare Kluft. Katholiken sind Semipelagianisten: ohne Gnade geht es nicht, doch der Mensch muss sich anstrengen, um sich die Gnade zu verdienen.

Hier schlagen alle Protestanten die Hände über dem Kopf zusammen. Der britische Mönch Pelagius, den Augustin mit Menschen- und Engelszungen bekämpfte, dachte noch wie ein heidnischer Philosoph. Wer tugendhaft sein will, muss es sich selbst erarbeiten.

Dem stellt Augustin die vollständige Gnade gegenüber. Alles muss aus Glauben kommen, Glauben ist das alleinige Verdienst göttlicher Gnade. Der Ungläubige ist eine Marionette des Teufels wie der Gläubige eine Marionette Gottes.

Trotz aller Determiniert des Menschen brachte Augustin das Kunststück fertig, ein ganzes Buch über den freien Willen des Menschen zu schreiben. Bei Gott und den Seinen gilt der Spruch mancher Amtsstuben: Unmöglich gibt es nicht bei uns, bei Bedarf wird gezaubert.

Luther hat Augustin plagiiert – doch ohne freien Willen. Der Mensch ist unfähig zu guten Werken. Freiheit eines Christenmenschen ist Knechtschaft unter Gott.

Dieses Motto ist zur Leitdevise der Nachkriegsdeutschen geworden. Ihr Kampf gegen Gutmenschen ist ein Kampf gegen arrogante Heiden, die glauben, aus eigener Kraft moralisch zu sein.

Würden Berliner Politiker in bewusste Worte fassen, was sie denken, müssten sie predigen: Demokraten, handelt nach demokratischen Werten. Schnell werdet ihr bemerken, dass ihr nicht weit kommt. Ja, ihr werdet scheitern – wenn ihr ehrlich seid. Wollt ihr wirklich Demokraten sein, müsst ihr euch alle Moral von Oben schenken lassen.

Wie Gottes Wort aus Gesetz und Evangelium besteht: „das Gesetz vernichtet, das Evangelium rettet“, so reden auch wir vom Gesetz, um euch zu überzeugen, dass man mit Werken des Gesetzes nichts ausrichtet. Kehrt zurück in die weiten Arme der Kirchen.

Mit anderen Worten: die demokratische Rede in der BRD ist nichts als eine verschleierte christliche Predigt, die zudem in sich selbst völlig widersprüchlich ist. Das erste Gebot bereits ist mit keiner Feindesliebe verträglich. Wer einem anderen Gott anhängt, der sei verflucht. Du sollst nicht töten, gilt nicht in gerechten Kriegen, also immer. Heilige Kriege sind geboten, wenn Deus lo volt.

Christen fühlen sich über alttestamentliche Gebote erhaben, ihre neutestamentliche Bergpredigt sei der Gipfel aller möglichen Ethik.

In der Achsenzeit, etwa 600 vdZ, gab es eine erstaunliche Bewegung von China über Indien bis nach Griechenland. Denker standen auf, die kraft ihrer Autonomie eine Moral entwickelten, die sie der staatlichen Macht entgegenstellten. Die Welt sollte nicht durch Macht, sondern durch Verständigung, Vernunft und Friedensbereitschaft regiert werden.

Sokrates und seine Schulen verzichteten auf jede Gewalt und glaubten an die Macht der Gedanken und Argumente. Zweifellos war die Entstehung des Christentums ein später Reflex auf die völkerverbindende Entdeckung der Humanität.

An die Stelle des Schwerts der Starken wollten auch die Christen Sanftmütigkeit und Friedfertigkeit setzen. Was aber macht die Bergpredigt aus den Tugenden der neuen Philosophen?

Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen. Selig die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Söhne heißen. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig die Gerechten, denn ihrer ist das Reich der Himmel.

Aus der Morallehre der Achsenphilosophen, irdische Gewalt mit Argumenten zu besiegen, wurde eine Methode, den Himmel zu erobern. Eine scheinbar gewaltfreie Bergpredigt wurde zum Mittel, göttliche Gewalt zu erringen und besiegte Feinde in die Hölle zu schicken. Die Armen auf Erden wurden zu Mitherrschern im Himmel. Wenn das keine absolute Liebesethik ist.

Christlicher Glaube war der missglückte Versuch, den Starken und Priestern mit scheinbarer Gewaltlosigkeit zu entkommen. Die Christen glaubten nicht an die alternative Macht ihrer Vernunft und kehrten zurück unter die Fittiche eines strafenden und belohnenden Gottes – der die Gewalt der Starken in die Allgewalt eines Allmächtigen verwandelte. Das Begehren, der Macht in der Welt zu entkommen, endete in der Falle einer allmächtigen Überwelt – oder in den Fängen unfehlbarer Priester auf Erden.

Die Erkenntnisse der Achsenzeit – einer Zeit philosophischer Globalisierung, die die Gegenwart dringend bräuchte – schlugen sich in der Erfindung der Demokratie am reinsten nieder. Probleme sollten nicht länger durch das „Naturrecht der Starken“, sondern durch das „Naturrecht der Schwachen“ gelöst werden. Dieses bestand aus gleicher und freier Mitbestimmung aller Bürger, die schließlich zur Emanzipation der Frauen und zur Abschaffung der Sklaverei führten. Die modernen Menschenrechte beruhen auf dem demokratischen Geist der Griechen.

Das wird heute von Theologen und vielen Amerikanern bestritten. Theologen führen Humanität auf biblische Gnadenethik zurück, mit der ein Gott die Menschheit in Selige und Unselige spaltet. Amerikaner und Gelehrte bemängeln an der athenischen Polis, dass Frauen und Sklaven nicht gleichberechtigt waren. Ob ihre eigene Demokratie echt sei, beantworten Amerikaner mit einem überzeugten Ja. Haben sie, nicht anders als die Hellenen, erst im Verlauf der Zeit Sklaverei abgeschafft und Frauen emanzipiert? Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.

Es war ein gigantischer Kampf zwischen der neuen Moral der Achsenzeit und der alten der Starken. Die Errichtung der Demokratie war der erste staatliche Sieg einer gemeinsamen Friedensmoral über die alte Moral „der Löwen, die alle Schranken sittlicher Konvention zerreißen und sich zu Gewaltherrschern aufschwingen, dann würde blitzartig das alte Recht der Natur hervorleuchten und staunend würden sich die Menschen dieser Gewalt beugen.“

Die amerikanische Demokratie bewegt sich zurück in das Naturrecht der „Löwen“, das identisch ist mit biblischer Moral der Erwählten, die bereits hier den Lohn ihrer Seligpreisung erwarten. (Trumps Mähne will eine Löwenmähne sein.) Die ecclesia patiens betont das Naturrecht der Schwachen, das aber nur dazu dient, die ecclesia triumphans als Lohn des Himmels zu erhalten. Die Friedfertigkeit der Bergpredigt ist nur die paradoxe Intervention der Endsieger der Heilsgeschichte.

Auch die Demokratie war nie ein vollständiger Sieg der Schwachen und Gleichen über die Starken und Ungleichen. Das wogte ununterbrochen hin und her. Ständig wollten die gezähmten Starken die Fesseln der Schwachen – die Regeln der Demokratie – abstreifen, um es dem Pöbel zu zeigen.

Zwei Möglichkeiten gab es, um die Arroganz des Volkes mit legitimen Mitteln zu brechen: mit ökonomischen Methoden reich zu werden – und mit überlegener Redekunst (oder sophistischer Rhetorik) das ungebildete Volk seines Weges zu führen.

Die Gleichheit der Demokratie verbot niemandem, mit Handel bis in ferne Länder eine grenzenlose Macht durch Reichtum zu erwerben, die die Regeln der Demokratie gefährdeten. Die neuen Wissenschaften verboten es niemandem, die Kunst der Rede in der Volksversammlung so einzusetzen, dass sie schlichte Gemüter für ihre Zwecke bezirzen konnte.

Wie kann man sich die normale Atmosphäre in Athen vorstellen?

„Die gewöhnliche Anschauung erkennt ein Sittlichgutes an, preist die „Guten“ und hält sie zugleich für die Dummen, die sich die Güter des Lebens nicht zu verschaffen verstehen, beneidet den erfolgreichen Verbrecher, der es viel besser hat.“ (Max Pohlenz; Staatsgedanke und Staatslehre der Griechen)

Hier erkennen wir das antike Vorbild der heutigen Schmähung der Moral. Die Friday-Aktivisten werden zunehmend in die Ecke prätotalitärer Wahrheitsbesitzer geschoben, die mit radikalen Forderungen unfähig seien, Kompromisse zu schließen.

Da wird die Kleinigkeit übersehen, dass Kompromisse nur im Bereich der politischen Macht getroffen werden können. Im außerparlamentarischen Bereich hingegen gilt das Gesetz der Gerichtsverhandlung: die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Sokrates widersteht der Macht der Ökonomie wie den entwürdigenden Verdummungs- und Verführungsfähigkeiten der Sophisten. Es ist dieselbe Situation wie heute. Reiche und Intellektuelle, die die Macht der Reichen und Starken verteidigen, versuchen mit fortlaufend neuen Tricks, die globalen Massen am Strick des Wohlstands und passiver Verdummung hinter sich herzuziehen.

Sokrates Kampf gegen die Gewalt des Geldes und die öffentlichen Sophistereien besteht aus zwei Strategien: er widersteht der verderblichen Faszination der „Güter“ und stärkt durch Gespräche auf dem Marktplatz die Denkfähigkeit jedes Einzelnen. Als lästige Bremse pflaumt er jeden Vorübergehenden an: Hör, mein Freund, du willst doch bestimmt ein guter Demokrat sein. Bist du sicher, dass du es bist?

Wer sich auf ihn einließ, mit dem machte er einen Stresstest, würde man heute sagen: er prüfte ihn auf Herz und Nieren. Jeder moderne Zeitgenosse würde ihm heute die Fresse polieren für die Unverschämtheit, seine demokratische Qualifikation in Frage zu stellen. Solches dürfen heute nur Edelschreiber, die sich jenseits aller demokratischen Tugenden fühlen.

„Für Sokrates sind äußere Güter gar keine Güter, die die Menschen glücklich machen könnten. Denn der Mensch trägt die wahren Güter in sich. Das Sittlichgute ist zugleich das Vorteilhafte für ihn. Wer andere schädigt, um Besitz und Macht zu erlangen, schädigt sich selbst am meisten. Das Moralische muss Richtschnur des Handelns sein. Es entspricht dem Wesen des Menschen und zugleich seinem wahren Interesse.“ (Pohlenz)

Die globale Jugendrebellion, die Emanzipation der Frauen, der weltweite Aufstand der Benachteiligten: all diese Bewegungen könnten sich zusammenschließen und eine planetarische Humanisierung auf ihre Fahnen schreiben.

Was lief schief im Abendland?

Das Christentum attackierte die selbstbestimmte Moral der Heiden. Um die Vernichtung der Moral zu legitimieren, bediente man sich ausgerechnet der griechischen Naturwissenschaft. Die Griechen waren fasziniert von der Erkenntnis der kosmischen Gesetze, die sie in der Sprache der Mathematik formulierten. Zahlen waren für sie Bausteine der kosmischen Ordnung.

Eine Naturwissenschaft zur Beherrschung der Natur lag ihnen fern. Natur war für sie nichts Minderwertiges (wie bei den Christen), das sie vollständig ramponieren wollten.

Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton: als die moderne Naturwissenschaft ihre Triumphe feierte, kamen altmodischen Moralisten in die Bredouille. Macht über Natur ging über Erkenntnis der Natur. Wäre es nicht möglich, dass man menschliche Probleme auf dieselbe Weise lösen könnte wie man die Natur unter Kontrolle bekam?

Etwa die Probleme des aufkommenden Kapitalismus? Der Unterdrückung der Schwachen durch staatlichen Absolutismus? Oder aller menschlichen Probleme zusammen? Sodass der Mensch imstande wäre, durch „Erkenntnis der Natur“ Mensch und Natur zugleich in den Griff zu kriegen und einem glücklichen Endzustand der Geschichte entgegenzusteuern?

Gesagt, getan. Die Menschenwelt wurde zur zweiten Natur ernannt, deren Gesetze man auf die gleiche Weise finden und anwenden könnte – zum Wohl von Mensch und Natur.

Stopp, nur zum Wohl des Menschen. Natur konnte durch Erkennen besiegt und vernichtet werden. Der Mensch ist die Krone der Schöpfung, dem das Privileg zusteht, alles rücksichtslos für seine Interessen auszubluten. Der Mensch, der die Natur durchschaut, ist auch fähig, eine neue und bessere ex nihilo zu kreieren.

Fortschrittliche Aufklärer bevorzugten eine finale Symbiose aus Mensch und Natur.

Christliche Fortschrittler glaubten an die selbsterfüllende Prophezeiung eines neuen Himmels und einer neuen Erde.

Wissenschaftliches Erkennen der Natur und des Menschen mit Zahlen und Gesetzen machte jede Moral überflüssig. Wer die Hebel objektiv-quantitativer Gesetze zu bedienen weiß, kann auf unbeweisbar-subjektive Moralforderungen verzichten.

Das war die Geburtsstunde des Kapitalismus und Marxismus. a) Der Beherrschung der Natur durch Technik und Ökonomie. b) Der Besiegung der Ausbeuter und Starken durch Erkenntnis revolutionärer Geschichtsgesetze. Wie die Darwin‘sche Evolution für die Fortentwicklung der Natur sorgt, so wird der Fortschritt der Geschichte für die Befreiung der Geknechteten sorgen.

Im Sog machtgieriger Naturwissenschaft sorgte die falsche Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf die Dinge des Menschen dafür, dass eine falsche Objektivität das subjektive Bemühen um Moral für immer ad acta legen wollte.

Seit 200 bis 300 Jahren schauen wir nun dem Spektakel dieser Transsubstantiation von Geist in blinde, moralfreie Mechanismen zu. Spätestens seit der Klimakrise könnte uns dämmern, dass der gesamte abendländische Kurs – als Überwältigung von Mensch und Natur und als Verachtung aller problemlösenden Humanität – ein Weg in den Abgrund ist.

Das Böse geschieht nicht nur in Bahnhöfen. Das Böse der Menschheit besteht im Zerstören ihrer selbst und der Natur. Das Böse ist keine angeborene Unveränderbarkeit. Es ist das Produkt jahrtausendealter Moralverkümmerung.

Gegen den Verfall ihrer Demokratie kämpften die Griechen mit moralischer Erkenntnis. Als die Macht ihres Denkens durch internationale Ökonomie, weltpolitische Macht und den Sieg einer Erlöserreligion eingestampft wurde, schlug die Stunde amoralischer Erkenntnisse in Natur und Geschichte.

Wie kann das Selbstmordprogramm der Moderne verhindert werden?

Naturwissenschaften müssten aufhören, ihre Gesetze dem unersättlichen Herrschaftswillen über die Natur zur Verfügung zu stellen. Wissen um des Wissens willen darf das einzige Ziel aller künftigen Wissenschaft sein.

Geisteswissenschaften müssten aufhören, sich als Plagiate der Naturwissenschaften zu gebärden. Ökonomie, Soziologie und Psychologie dürfen Menschen nicht länger als lenkbare Strohpuppen sogenannter Gesetze betrachten.

Der Mensch ist keine Marionette von Natur und Geschichte. Er ist fähig, sein Geschick nach selbstbestimmten Regeln zu bestimmen.

Mensch, wage es, deinen eigenen Kopf zu benutzen. Dafür hast du ihn bekommen.


Fortsetzung folgt.