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Von vorne XLII

Von vorne XLII,

die Welt ächzt vor Problemen – die deutschen Politkanäle machen Urlaub. Soll die Weltpolitik sich gefälligst am Zeitplan deutscher Redakteure orientieren.

Zuerst verdorrt der Gedanke, dann das Land. Krisen, von deutschen Talkartisten nicht besprochen, können keine Weltkrisen sein. Tausende weltläufiger Experten sind unfähig, explosive Fakten wahrzunehmen, strenge Debatten zu führen und demokratische Positionen zu beziehen.

Die aufsässige Jugend, vor kurzem noch scheintot, wird gnädig gelobt oder gnadenlos zerrissen. Ihre argumentative Überlegenheit wird als prätotalitäre Unduldsamkeit niedergemacht. Den Personenkult selbsternannter Wichtigtuer würde sie bereits perfekt beherrschen.

Wie es tatsächlich ist, schildert Carla Reemtsma, Mitglied der FfF:

«In der Woche, als Luisa bei ‚Anne Will‘ war, hatten vier Talkshows nach ihr gefragt.» Einen ganzen Tag habe es gedauert, bis eine andere Redaktion dann Reemtsma statt Neubauer als Gast akzeptiert habe. Bei zwei weiteren Talkshows habe es geheißen: Neubauer oder keine. Sie seien hart geblieben, sagen die „Fridays“-Aktivisten, am Ende sei dann eben keiner von ihnen im Fernsehen gewesen.“ (SPIEGEL.de)   

Die Sturmgeschütze der Demokratie sind tot. Sie können kaum noch Platzpatronen entzünden. Jetzt, jetzt, müssen wir uns an die Arbeit begeben, sagt auch die Politik und – verschwindet im Jahresurlaub.

Zum ersten Mal würden die Freitagsrebellen vor einem Flughafen demonstrieren, berichtete die ARD und krönte ihren Bericht mit der These eines 

 „Tourismusexperten“, der das Fliegen für ein Menschenrecht hielt: „Wir sprechen von der „Demokratisierung“ des Reisens“.

Der Segen des Fortschritts besteht vor allem in der Demokratisierung ihrer Übel: „Nicht durch seine Fehlleistungen droht der moderne Mensch sich selbst zu vernichten, sondern durch seine ungeheuren Erfolge“, schrieb E. F. Schumacher bereits im Jahre 1971. Es sei deshalb notwendig, den „nach-modernen Menschen zu erfinden“. Im selben Jahr schrieb G. R. Taylor das Buch vom Selbstmordprogramm der Menschheit.

Der Fortschritt des Weltgeistes bretterte über Schumacher und Taylor hinweg. Erfolglose Cassandras beweisen die Unwahrheit ihrer Warnungen durch lautlosen Untergang. Machteliten schaffen es spielend, Schwarzmaler durch Negieren zum Schweigen zu bringen.

Wie intelligent muss man sein, um sich selbst aus dem Weg zu räumen? Sind moderne IQ-Tests gerüstet, die Genialität der Menschen anhand ihres erfolgreichen Selbstmordprogramms zu eruieren? Nach demokratischen Fähigkeiten wird in Intelligenztests nicht gefragt. Intelligenz ist die Fähigkeit, sich dem Fortschritt dienlich zu machen. Fortschritt aber heißt Wille zur Macht durch Überlegenheit über andere.

Schulen und Universitäten vermitteln weder Humanität noch demokratische Leidenschaft, sonst müssten alle Fridays-Aktivisten die besten Abiturienten sein. Eher gilt umgekehrt: wer sich mit polit-moralischen Fragen beschäftigt, muss intellektuell behindert sein.

In Schulen kann es keine Vermittlung demokratischer Tugenden geben, solange eine durchgängige Zensur-diktatur waltet. SchülerInnen werden benotet und kategorisiert von Lehrkräften, die keiner Bewertung unterliegen. Politisch gesehen ist die Schule ein Absolutismus, in dem Obrigkeit alles und Untertanen nichts zu sagen haben.

Der just verstorbene Jesper Juul charakterisiert Lehrer und Schule:

„Die Lehrer haben ja nicht einmal die Fähigkeiten, mit normalen Kindern umzugehen. Sie wissen nicht, wie man sinnvolle Dialoge mit Einzelkindern führt. Wie man sinnvoll mit Gruppen redet. Mit Eltern. Lehrer wissen nichts über Kinder. Sie wissen viel über ihr Fach, über den Unterricht und darüber, was die Industrie morgen an Fähigkeiten braucht. Aber nichts über Kinder.“ (WELT.de)

Nur in Deutschland gibt es staatliche Schulpflicht, mit der Begründung, der Staat sei kompetenter in der Vermittlung von – ja, was? Von Intelligenz, um den Staat in seiner Rivalität mit anderen Staaten am effizientesten zu unterstützen. Zudem werde das Kind in der staatlichen Schule am besten sozialisiert und gemeinschaftsfähig.

Doch spätestens am Ende der Schule – in der Regel schon vom ersten Tag an durch permanente Noten-Konkurrenz – wird den Absolventen mitgeteilt, nicht soziale Tugenden seien gefragt, sondern Durchsetzungsfähigkeiten im Berufsleben.

Kein Kind, das sich hier nicht betrogen fühlen würde – aber seine Gefühle nicht zeigen darf. Zur Intelligenz des Systems gehört es, keine Schwäche zu zeigen und sich durch alle Konflikte mit Hauen und Stechen durchzukämpfen. Sieger werden an ihrer Skrupellosigkeit erkannt, mit der sie alles, was sie in Gemeinschaftskunde hätten lernen sollen, missachtet haben oder über Bord warfen.

Gymnasiallehrer haben nicht einmal eine pädagogische Ausbildung. Sie sollen ja auch niemanden erziehen. Erziehung sei Sache des Elternhauses. Sache der Schulen sei die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten, mit denen man im Wettbewerb der Gesellschaft bestehen kann. Sind Kita und Grundschulen noch geschützte pädagogische Provinzen, will das Gymnasium ein Spiegel der Gesellschaft sein, in der unter realen Bedingungen der Kampf aller gegen alle eintrainiert wird.

Auch die Lehrkräfte bilden keine Solidargemeinschaft, die sich im Geist gegenseitiger Verantwortung unterstützen würde. Jede Fachkraft steht vor ihrer Klasse allein. Schulen mit humaner Gesinnung, die nicht nur Überlebensqualitäten, sondern vitale Lebensfähigkeiten ausbilden, sind prämiierte Ausnahmen, die das System vor dem Desaster bewahren sollen.

Als Beamte sind deutsche Lehrer nicht dem Heranwachsen ihrer Zöglinge zu gesellschaftlicher Reife verpflichtet, sondern dem Wohl eines Staates, den es als abgehobene Instanz gar nicht geben dürfte. Seit wann waren deutsche Obrigkeiten die besten Vermittler von Autonomie?

Der deutsche Untertan ist heute der Untertan eines dominanten Kapitalismus, in dem immer weniger Giganten immer stärker die Weltwirtschaft bestimmen:

„Geht das Wachstum so weiter, dann werden die drei Finanzkolosse schon bald die globale Unternehmenswelt in ihren Händen halten, Weg und Richtung praktisch jedes Konzerns der Welt bestimmen. Der Einzige, der das verhindern könnte, wäre die US-Regierung.“ (WELT.de)

„Die Wirtschaft ist heute hoch konzentriert und zentralisiert, und hier kann man eigentlich nur noch die Frage stellen, auf welchem Markt der Machtmissbrauch von Unternehmen am stärksten ausgeübt und die so viel gelobte „soziale Marktwirtschaft“ ad absurdum geführt wird. Thilo Bode, ehemaliger Geschäftsführer von Greenpeace International, spricht bereits von einer „Diktatur der Konzerne“, die die Demokratie zerstören. Es ist klar, dass insbesondere die Macht von internationalen und transnationalen Konzernen nicht nur in der Wirtschaft selbst größte Schäden anrichtet, sondern dass diese Macht auch den demokratisch verfassten Staat und damit die Politik ständig angreift und unterminiert.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Kapitalistischer Liberalismus ist ein Widerspruch in sich. Freie Selbstbestimmung kann es nicht geben, wenn Menschen von einem alternativlosen Koloss abhängig sind. Solange das Individuum determiniert wird von einer alleinseligmachenden Wirtschaft, bleibt es ein Getriebener – oder ein Sklave in nomineller Freiheit. Athenische Sklaven konnten freier einen Beruf ausüben als moderne Nichtsklaven, die von morgens bis abends Getriebene sind.

Staats-Beamte dressieren die Jugendlichen zur Unterwürfigkeit unter ein allmächtiges Wirtschaftssystem – dem Gegenteil jeder selbstbestimmten Teilnahmefähigkeit am Geschick der Gesellschaft.

Deutsche SchülerInnen können nicht schwimmen, weder richtig lesen noch schreiben, sind fettleibig und hinken Gleichaltrigen europäischer Länder in allen Dingen hinterher. Pisa-Tests wurden nicht im Interesse der Kinder erfunden, sondern um nationale Eitelkeiten zu befrieden.

In welchem Durchschnittsalter treten AbiturientInnen in das Berufsleben? Muss Deutschland sich wieder schämen? Das subjektive Wohlergehen der Heranwachsenden interessiert niemanden. Solange Deutschland an der Spitze des Wohltands marschierte, blieben die Probleme im Untergrund. Jetzt beginnt die Krise des gesamten Westens als Folge der amerikanischen Grundsatzkrise. Je genereller die Krise, je deutlicher treten die bislang negierten Probleme an den Tag.

In der WELT attackiert ein Gymnasiallehrer die Bildungskonzepte der Grünen. Sie gingen von der falschen Vorstellung aus, alle Menschen seien gleich begabt.

„Das Wort „Leistung“ kommt im Schulprogramm der Grünen ohnehin nicht vor. Diesem egalitären Schulkonzept liegt ein Verständnis von Bildung zugrunde, das unterstellt, dass alle Kinder im Grunde gleich begabt sind, dass die kognitiven Fähigkeiten bei einigen Kindern nur verschüttet sind, vornehmlich infolge ungünstiger häuslicher Bedingungen. Diese Denkschule ignoriert hartnäckig alle Studien aus der Verhaltenspsychologie, die nachweisen, dass Intelligenz zu einem hohen Grad durch die Gene bestimmt wird, die ein Neugeborenes von den Eltern erbt.“ (WELT.de)

Was heißt gleich begabt? Und wozu?

Gleichheit ist eine Grundforderung der Demokratie, die durch Klassengesellschaft und eine ins Unendliche wachsende Ungleichheit ad absurdum geführt wird. Gleichheit ist aber keine Ununterschiedenheit der Menschen in Fähigkeiten, Neigungen und Charakterbildung, sondern bedeutet – gleiche Wertigkeit vor dem Gesetz, gleiche Würde, gleiche Mitbestimmungsrechte.

Jeder Mensch ist ein Kosmos für sich und hat das Recht, seine eigene Unvergleichlichkeit zu entfalten. Doch jeder individuelle Weg ist jedem anderen gleich-wertig. Keiner berechtigt zur geborenen Überlegenheit, höherem Einkommen oder größerer politischer Einflussnahme.

Nicht die Grünen sind es: der Staat ist es, der die Gleichheit der Individuen als homogene Wesen in einem starren Jahrgangskorsett durchexerziert. Die allmächtigen Zensuren sollen zwar permanent Unterschiede zwischen allen heraustreiben, aber nur in verschiedener Leistungsfähigkeit desselben staatlich vorgeschriebenen Entwicklungsgangs. Die Jugendlichen werden getrimmt, die Menschen in verschiedene Leistungsklassen einzuteilen. Die Akzeptanz des anderen als gleichwertiges Wesen bleibt auf der Strecke.

Dünkel, Arroganz und Verachtung auf der einen Seite, Versagensängste, Minderwertigkeitsgefühle und Hass auf der anderen. Die Sieger der ersten Seite sind das Ergebnis von Schulen, die alle demokratischen Tugenden dem Moloch intelligente Verwertbarkeit ihre Opfer brachten.

Würden Schulen ihren Anbefohlenen demokratische Tugenden vermitteln, hätte es schon seit Kriegsende selbstbewusste SchülerInnen geben müssen, die die Geschicke der Nation nicht dünkelhaften Erwachsenen überlassen hätten.

Die FfF-Bewegung ist kein Erfolg der Schulen, sondern ein Erfolg trotz aller Schulen. Eine Generation nutzte die Vorteile der digitalen Vernetzung, der allseitigen Informationsmöglichkeiten und des Mündigwerdens all jener Schichten, die ihre Meinung nur in begrenztem Rahmen mitteilen konnten.

Der Prozess brachte auch erhebliche Schwierigkeiten durch die Möglichkeit des Shitstorms, der Diskriminierung durch anonyme Netzteilnehmer. Gerade die Bewältigung dieser ungewohnten Probleme aber erhöhte das Selbstbewusstsein einer Jugend, die die Entwicklung der Weltpolitik wesentlich präziser verfolgte als vorangegangene Generationen.

Humane, freie Schulen hätten nicht das Ziel, unterschiedliche Leistungsträger in homogenen industrie-verwertbaren Fächern hervorzubringen. Sondern es jedem Einzelnen zu überlassen, welche Angebote er in welchem Maße nutzt, um seinen eigenen Kurs zu finden. Pädagogen mit Respekt vor ihren Eleven machen Angebote und überlassen es ihnen selbst, welchen Wegen sie folgen wollen.

Freie Pädagogen gehen nicht davon aus, dass alle Menschen gleich begabt sind. Sie wollen allen – gleichgültig, wie sie begabt sind, in welchem Tempo sie ihre Fähigkeiten und Neigungen entwickeln – die gleichen Chancen geben, um ihre Einzigartigkeit herauszuarbeiten. Wie sie das im Einzelnen machen, muss ihnen selbst überlassen werden. Ob sie lieber mit Gleichbegabten oder aber mit Andersbegabten zusammenarbeiten wollen: das müssen sie selbst entscheiden.

Unerlässlich aber ist die Erkenntnis, dass jeder fähig ist, jeden anderen in seiner Entwicklung zu fördern. Eine Beziehung ohne Gegenseitigkeit auf gleicher Augenhöhe ist die Ursünde wider den Geist der Demokratie.

Ohnehin gelangen nicht die Besten in die obersten Etagen der Gesellschaft. Diese Plätze sind seit jeher jenen reserviert, die aus den richtigen Elternhäusern stammen – wie Elitenforscher Hartmann feststellen musste. An der Spitze der Macht entscheidet keine kognitive Intelligenz, sondern die Bedenkenlosigkeit, unliebsame Rivalen aus dem Weg zu räumen und Kumpaneien zu schmieden, mit denen die eigene Macht wächst und wächst. Wie anders ist die Herrschaft der EINPROZENT über die Welt erklärbar als mit früh erworbener Ranküne und Raffinesse?

Lehrer machen nur Vorschläge und Angebote, begleiten den Weg ihrer Anvertrauten in gleichwertigem Respekt. Schulen, die die Hierarchie der Gesellschaft vorwegnehmen, sind Kasernen, keine pädagogischen Anstalten.

Keine schulische Selektion ohne die Frage: Ist Intelligenz angeboren oder Sache der Umwelt? Seit mehr als 100 Jahren immer dieselbe dreiste Behauptung jener, die von pädagogischen Bemühungen nichts halten und alles den Genen überlassen wollen. Wenn vor allem die Gene bestimmen, sind alle Intelligenz-Dresseure aus dem Schneider. Versagt der Zögling, war Mutter Natur schuld, nicht der Lehrer.

„Der britische Intelligenzforscher Robert Plomin hat in einem Test mit 11.000 ein- und zweieiigen Zwillingen herausgefunden, dass circa 60 Prozent der Intelligenz auf genetische Veranlagung zurückgehen. Die restlichen 40 Prozent verdanken sich Umweltfaktoren, zu denen die häusliche Situation, das Wohnumfeld und die soziale Zugehörigkeit zählen. Plomin wollte bei seinen Tests vor allem herausfinden, warum einige Kinder in der Schule viel und auch schnell lernen, während andere langsam lernen und schließlich ganz abgehängt werden. Für die Entwicklung kompensatorischer Unterrichtskonzepte ist es wichtig zu erfahren, ob Fördermethoden auch einen effektiven Nutzen zeitigen.“

Seit Eysenk immer dieselben Zahlen: 60% liefert die Natur, 40% die Umgebung – wenn sie kompetent wäre. Nach strenger wissenschaftlicher Regel müsste man experimentieren, um zuverlässige Ergebnisse zu erzielen. Das geht aber nicht in Fragen des Menschen. Wenn schon Tierversuche umstritten sind, wie könnte man rechtfertigen, menschliche Kontrollgruppen mit Absicht zu schädigen?

Die Untersuchung ist ein einziger Witz. Nur eineiige Zwillinge haben dieselbe DNA. Die zweieiigen fallen schon mal raus. Die eineiigen haben zwar die gleiche DNA, doch das Gleiche ist nicht dasselbe. Gene sind nicht gleich Gene, ein starres Gegeneinander von angeborenen und erlernten Fähigkeiten gibt es nicht:

„Dennoch ist die genetische Basis von IQ-Unterschieden bis heute nicht aufgeklärt. Das liegt dran, dass die kognitiven Fähigkeiten des Gehirns zwar genetisch gesteuert sind, jedoch nicht nach den simplen Mendelschen Regeln, die man im Biologieunterricht lernt. Zudem stehen die Gene wie bei anderen komplexen Eigenschaften im steten Wechselspiel mit der Umwelt, die auf Menschen einwirkt. Gene haben also einen massiven Einfluss, sind aber nicht allein bestimmend.“ (ZEIT.de)

Zudem weiß niemand, was gemessen werden soll, wenn es um Intelligenz geht.

„Man kann es auch so ausdrücken wie der amerikanische Psychologe Edwin Boring: „Intelligenz ist das, was Intelligenztests messen.“

Wenn Naturwissenschaftler sich unter Schwerkraft jeder etwas anderes vorstellen dürfte, wäre die Hölle los. Quantitative Scharlatanerien sind in den Geisteswissenschaften anerkannte Praktiken. DNA ist keine starre Masse, sondern reagiert stets mit der Umwelt. Angeboren gegen erworben: das ist dualistischer Klamauk, der Natur gegen Geist ausspielen soll.

Natur oder Umwelt, die ganze Frage ist Unsinn. Der Mensch ist eine Einheit und besteht nicht aus zwei starren Blöcken, der eine veränderlich, der andere unveränderlich.

Was ist Lernen? Keine heteronome Beeinflussung genialer Pädagogen, keine natürliche Invariabilität. Jeder Mensch besitzt alles als Gabe der Natur – und muss sich alles selbst erarbeiten durch autonomes Denken. Lernen ist nicht Einflößen von außen, sondern Entfaltung von innen.

Einflößen von außen ist das theologische Modell der Offenbarung. Gott trichtert dem verkommenen, aber bußbereiten Sünder Seine Wahrheit von Oben ein. Das Geschöpf hat nicht die geringste Möglichkeit, die Offenbarung zu überprüfen oder gar abzulehnen.

Lockes tabula rasa ist ein Kompromiss aus Offenbarung und Vernunft. Zwar ist der Mensch kein mit teuflischen Chiffren beschriebenes Skript, besitzt aber auch keine angeborene vernünftige Natur, die in der Lage wäre, von außen kommende Botschaften zu überprüfen. Locke hat von Platon die weiße Leinwand übernommen, die im Idealstaat nach Belieben von mächtigen Weisen beschrieben werden kann.

Das ist eine der beiden Urquellen des amerikanischen Allmachtsglaubens an die Umwelt durch außengeleitete Dressurmaßnahmen, die subkutan ablaufen und von niemandem überprüft werden können. Die andere Quelle ist die allmächtige Offenbarung des Neocalvinismus. An die Stelle des göttlichen Prädestinators tritt die kapitalistische Gesellschaft. Die totalitäre Macht einer sozialistischen Partei wird ersetzt durch eine allesbestimmende Konsumgesellschaft.

Die Prägung von außen widerspricht der genetischen Prägung von innen. Das hat seinen verborgenen Sinn. Wird das zu erziehende Subjekt ein prächtiges Exemplar des homo oeconomicus, war es das Verdienst von gods own country, in dem jeder digitale Grünschnabel ein Bill Gates werden kann. Wird der Mensch aber zum Raubtier, kann es nur an seiner angeborenen Natur gelegen haben. Trumps rassistische Äußerungen gegen Rattenstädte und nichtweiße Kandidatinnen sind kein Zufall.

Da der „Rechtsruck“ der Gesellschaft zur Bildung homogener Gruppen strebt, in aggressiver Ablehnung andersartiger Fremder, muss eine dazu passende Schule schon früh darauf aus sein, „identitäre“ Gruppen zu bilden, um nichtidentische Subjekte auszuschließen:

„Die grünen Bildungsplaner ignorieren hartnäckig die wissenschaftliche Evidenz, wonach Lernen am besten in homogenen Lerngruppen gelingt, in denen Kinder mit annähernd gleicher Begabung sitzen. Die Weigerung, Schüler begabungsgerecht zu unterrichten, hält der amerikanische Psychologe Paul F. Brandwein für einen pädagogischen Sündenfall: „Es gibt nichts Ungerechteres als die gleiche Behandlung von Ungleichen.“ Vor allem die Ignoranz gegenüber hochbegabten Schülern zeigt, dass die von den Grünen sonst vollmundig vertretene gleiche Wertschätzung aller Kinder dann doch an ihre Grenzen stößt.“

Endlich sind wir angekommen, wo der Verfasser von Anfang an hinwollte: im gottgewollten Neoliberalismus. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten in Hartz4. Leistung muss sich wieder lohnen, würde Lindner sagen, doch Hayek würde ihm heftig widersprechen. Erfolg ist für den gläubigen va-banque-Spieler der Effekt einer unberechenbaren, alle Vernunft übersteigenden Evolution. Bei Hayek hilft nur Beten und Hoffen.

Was ist Lernen?

Keine allmächtige Selbstschöpfung aus Nichts, keine unveränderliche Gabe der Natur. Sondern ein Werde, der du bist. Klingt dialektisch, bedeutet aber die schlichte Einsicht in die Abhängigkeit des Menschen von einer freigebigen Natur, deren Gaben ich auspacken und zur vollen Höhe entwickeln darf. Der Mensch ist Natur, Natur aber ist keine invariante Größe, sondern besitzt eine intrinsische (innengeleitete) Entwicklungsmöglichkeit. Man könnte auch sagen, Natur und Geist, Physis und Logos, Angeborenes und Erlerntes, sind keine Gegensätze.

Lernen ist das spannende Aufeinandertreffen der inneren mit der äußeren Natur. Die Rätsel der äußeren Natur kann sich der Mensch nur durch Rekurs in seine innere Natur – oder durch Erinnern – erklären. Da der Mensch Teil der Natur ist, kann nichts Natürliches ihm wesenhaft fremd sein. Lernen versucht, die einstige Verbindung von Innen und Außen im Menschen wieder herzustellen. Das AHA-Erlebnis ist die orgastische Vereinigung der äußeren mit der inneren Natur. Lernen ist ein Akt der Sehnsucht nach der verlorenen Einheit.

Ein echter Pädagoge flutet seine Schüler nicht mit fremdem Wissen, sondern stellt Fragen, um das vergessene Urwissen wieder ans Licht zu bringen. Warum war für die Griechen das Lernen ein erotischer Akt? Weil Natur und Mensch wieder zusammentrafen.

Wahre Intelligenz ist Lernen im Dienst des Lebens, kein Bestandteil des abendländischen Selbstmordprogramms. Menschen kommen auf freiwilliger Basis zusammen, um sich und die Natur zu erforschen. Nur lernende Menschen sind fähig, das Überleben der Gattung zu sichern. Selbstbestimmtes Lernen braucht freie und gleiche Begegnungsstätten, keine staatlichen Dressuranstalten.

Um Goethe abzuwandeln: Was du von Mutter Natur hast ererbt, lern es, um es zu besitzen.

 

Fortsetzung folgt.