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Von vorne XIX

Von vorne XIX,

„wenn wir ins Offene gehen und Neuanfänge wagen, dann ist alles möglich.“ (ZEIT.de)

Amerika ist sich untreu geworden. Laßt uns ins Offene gehen: nach Deutschland. Deutschland ist das bessere Amerika. Kinder erziehen ihre Eltern. In bleierner Zeit wollen die Befreier Deutschlands von ihren deutschen Zöglingen an die Hand genommen werden. Jetzt sollen die Erzogenen beweisen, dass sie ihre Lektion gelernt haben und sich in Wort und Tat bedanken können. Aeneas nimmt Anchises, seinen blinden und gelähmten Vater, auf die Schultern, um dem brennenden Troja zu entkommen.

„Komm! ins Offene, Freund!

Trüb ists heut, es schlummern die Gäng’ und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.

Denn nicht Mächtiges ists, zum Leben aber gehört es,
Was wir wollen, und scheint schiklich und freudig zugleich
.

Daß sie kosten und schaun das Schönste, die Fülle des Landes,
Daß, wie das Herz es wünscht, offen, dem Geiste gemäß
Mahl und Tanz und Gesang und Stutgards Freude gekrönt sei

(Hölderlin, Der Gang aufs Land)

Das Offene ist hier der Gang aufs Land, das schickliche und freudige Leben bei Mahl, Tanz und Gesang. Der Leser des Gedichts soll „offen sein für eine Wiederkehr der Harmonie von Natur und Menschenwelt“. Er soll kosten und schauen nicht das Mächtige, sondern die Fülle des Landes.

Bei IHR – ist das Offene das Gegenteil:

„Reißen Sie die Mauern von Ignoranz und Engstirnigkeit ein, denn nichts muss so 

… bleiben, wie es ist“.

Hier muss alles bleiben oder werden, wie es war, als es in kosmischer Verbundenheit das Herz erfreute. Das gelungene Alte muss wiederkehren, das misslungene überwunden werden.

Bei IHR muss alles Alte vernichtet und durch das alleszerstörende Neue ersetzt werden. Nichts darf bleiben, wie es ist – und wenn es noch so sehr das Herz des Menschen erfreute. Ignoranz und Engstirnigkeit nennt SIE, was der Dichter Wiederkehr der Harmonie nennt.

Bei IHR vernichtet Zukunft die Vergangenheit. Zukunft ohne Wiederkehr des Freudigen ist für den Dichter ein Alptraum, ein Alptraum naturzerstörender Macht, der „ans eigene Treiben geschmiedet ist“:

„Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus,
Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein,
und sich in der tosenden Werkstatt
Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar
, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.“ (Der Archipelagus)

Angeschmiedet, rastlos, wild und unfruchtbar: die freudlose Arbeit und Mühe der Armen.

„Ach, töten könnt ihr, aber nicht lebendig machen, wenn es die Liebe nicht tut. Ihr sorgt und sinnt, ihr entwürdiget, ihr zerreißt, wo sie euch duldet, die geduldige Natur. Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk und was selbst unter Wilden göttlichrein sich erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt und können es nicht anders; denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es einem Zweck, da sucht es seinen Nutzen. Und wenn die Menschenfeinde friedlich wie die Kinder sind, wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach und kümmert sich nicht viel ums Wetter. Aber du wirst richten, heilige Natur! Wenn sie nur bescheiden wären, diese Menschen, zum Gesetz sich nicht machten für die Bessern unter ihnen! wenn sie nur nicht lästerten, was sie nicht sind. Ist besser, denn euer Geschwätz, die Luft nicht, die ihr trinkt? Der Erde Quellen und der Morgentau erfrischen euern Hain; könnt ihr das auch? Oh, göttlich muss sie sein, weil ihr zerstören dürft, und dennoch sie nicht altert und trotz euch das Schöne bleibt.“ (Hyperion)

Niemals können sie die Natur zerstören, aber ihr eigenes Leben in der Natur können sie vernichten – und vernichten es.

Bei IHR ist Offenheit endloser Fortschritt im Reichwerden und Naturschänden: „Protektionismus und Handelskriege gefährden den Wohlstand in der Welt.“

Digitalisierung, Mechanisierung, grenzenloses Produzieren, Gewinn, Wettbewerb, ängstliches Getriebensein im Sog der Weltgiganten, Übertölpeln und Plündern der Schwachen. Und dies alles unter dem geschändeten Begriff der Freiheit: das ist IHRE Offenheit.

„In Hölderlin“ war Kohl, einer Ihrer Vorgänger, immer gut. Listige Redenschreiber wissen das und lassen ein bisschen Bildung erahnen. Es ist ja nicht wie bei den armen Leut‘: Bildung haben wir in Fülle. Also muss mit ihr gepunktet werden. Nur mit listig angedeuteter Bildung, damit es nicht nach dünkelhafter Überlegenheit aussieht. Ein bisschen den Vorhang lupfen: hui, welche Schätze werden sich dahinter verbergen?

Da werden sie staunen, die bildungsbegierigen Harvard-Eleven, wenn eine Alteuropäerin aus behüteter Pastorale die Schätze ihres Landes mitbringt. Nicht, um sie wirklich anzupreisen, als sollten sie das Leben der ins Leben Hinausstürmenden bestimmen. Das wäre Überheblichkeit. Die frisch Gekürten müssten ja alle amerikanischen Träume von Macht, Weltherrschaft und Eroberung des Universums fahren lassen. Das weinselige Leben im schwäbischen Stuttgart als Vorbild der Superreichen, der Mond- und Marsbezwinger? Das wäre das Gelächter des Jahrhunderts in der Aula der Allberechnenden und zum Erfolg Verdammten.

Träume? Ja doch, aber nur amerikanische Träume: wir können alles schaffen, nichts muss bleiben, wie es ist. Ist das schon futuristisch – oder kann es weg? Was nicht neu ist, muss gnadenlos weichen. Das ist Offenheit nach vorne und Vernichtung nach hinten.

Ein pfäffischer Hermeneut wollte Hölderlins Offensein in geduldiges Erwarten der Offenbarung verfälschen. Deutsche Dichter können doch keine Heiden sein:

„Ihr werdet den Himmel offen sehen“, wie es in der Offenbarung des Johannes heißt.

Nein, um diese Jenseitshaltung geht es nicht, sondern um die Wiederkehr der unbeschädigten Natur. Kann das denn sein? War früher wirklich alles besser? Früher war überhaupt nichts besser: für diese Legende hat sich die Moderne entschieden, dabei bleibt es.

Dabei verpflichtet die christliche Religion zum Glauben an das erste Paradies. Ist das kommende Reich Gottes nicht die Wiederkehr des Gartens Eden? Niemals. Am Ende der Tage werden unendliche Massen im höllischen Feuer landen. Genesis und Apokalypse passen nicht zusammen. Eine zirkuläre Natur ohne Heilsgeschichte kennen nur die Griechen.

Transatlantische Selbstbeweihräucherung. Amerikaner loben die Vorzeigedeutsche, damit sie selbst gelobt werden. Der amerikanische Traum, von Trump demoliert, muss allseits gestärkt werden. Sie selbst sind kraftlos geworden.

Da schickt es sich, dass Harvard auf Veritas schwört. Seit Dezennien hat man von ihr nichts mehr gehört. Und tatsächlich, die Rednerin weiß, was Wahrheit ist:

„Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen.“

Wie viele Dezennien lang wurde Wahrheit kopfüber aus dem Fenster gehängt, um von edlen Schreibern verhöhnt zu werden? Eine Wahrheit gibt es nicht, jeder hat die seine. Das war die Botschaft der Postmoderne.

Verdrängt, vergessen: was interessiert die Medien ihr Geschwätz von gestern? Sie schwimmen immer in der Mitte des Stromes. Wartet, wartet noch ein Weilchen und sie werden noch das Klima entdecken.

Streiten um Wahrheit? Wie kann man um etwas streiten, das es nicht gibt? Wenn Demokratie der liebende Kampf um die humanste Wahrheit ist, lag sie – wegen nicht vorhandener Wahrheit – schon seit Jahrzehnten im künstlichen Koma. Die rechte Bewegung entsprang tiefen Denkergehirnen aus der Mitte der Gesellschaft, nicht primitiven Wirrköpfen an den Rändern der Zivilisation.

Solche Niederungen des Geistes kennt SIE nicht, will SIE nicht kennen. SIE weiß, was Wahrheit ist: Du sollst nicht lügen. Das entspricht dem Niveau einer säkularen Konfirmation. Ein biblisches Gebot ist das nicht, aber es soll so klingen. Die Amerikaner sollen nicht glauben, Europa sei ein Hort der Gottlosen.

Unbedingte Wahrheit: das klingt nach lutherischer Unerschrockenheit. Irgendwas stimmt da nicht. Hat Luther nicht dem Kaiser und allen Mächtigen des Landes ins Angesicht widerstanden? Mutig war er ja, der gnadensüchtige Mönch, da kann niemand meckern. Doch was ist das für eine Wahrheit in Harvard, die jemanden treffen soll, den man nicht mal bei Namen nennen darf?

Alle deutschen Medien jubeln im Chor: ohne seinen Namen zu nennen habe SIE dem Wüstling im Weißen Haus den Spiegel vorgehalten. Wenn das nicht Mut vor Königsthronen ist! Wenn die beste aller Mütter dem abwesenden, verlotterten Vater im Beisein der verängstigten Kinder so richtig zeigt, wo Bartels den Most holt, da jauchzen die Kinder: endlich hat Mutti es dem Rüpel gezeigt.

Es ist feige, jemanden nur zu meinen, ihn weiträumig zu umfahren, um ihm indirekte Giftbotschaften an den Kopf zu werfen. Den links-liberalen amerikanischen Intellektuellen gelingt kein Stich gegen den Rohling, weshalb sie auf die Unterstützung der europäischen Mutter hoffen. Und die Deutschen platzen vor Familienstolz, dass ihre so oft verkannte Landesmutter den geplagten Freunden in Übersee zu Hilfe kommen kann. Da stürzen sie sich in die Arme, um dem Schandmaul gemeinsam zu widerstehen.

Wer jubelt in Deutschland am lautesten? Jene Gazetten, die sonst alles Gute und Gerechte im Abgrund versenkten. In der Ferne hui, zu Hause pfui. Das gilt auch für den Kampf gegen Antisemitismus. Plötzlich kann man in WELTblättern lesen:

„Zivilcourage, ein unzerbrechlicher moralischer Kompass, Solidarität und Stärke – das sind die Waffen, die Deutschland braucht, um das braune Monster in seiner Mitte zu besiegen“ (WELT.de)  

Wenn man den moralischen Kompass im Kampf gegen antisemitische Unwahrheiten benötigt, warum nicht in der Bewertung IHRES besten Freundes Netanjahu? Warum nicht in der Bewertung ihrer eigenen bigotten Politik? In der Ferne lässt SIE sich als samaritanisches Weltsymbol feiern, zu Hause hat sie Agape längst einem skrupellosen Machiavellismus geopfert.

Wahrheit ist Widerspruchslosigkeit. IHRE Politik aber widerspricht sich von Tag zu Tag. Ihre klaffenden Widersprüche bemerkt sie nicht einmal. Und selbst wenn, würde sie mit leichter Hand auf die civitas terrena verweisen: im Reich des Bösen ist himmlische Politik nicht zu machen. Schwachsinn, pflegt sie zu sagen, kommentiert sie nicht einmal. Weshalb sie fast nichts mehr kommentiert. Das irdische Treiben hat sie ausgelaugt. Doch merken darf es niemand.

In der Fremde schwappt SIE über von Optimismus: „Wenn wir Mauern einreißen, dann ist alles möglich. Wir schaffen das. Mehr denn je müssen wir heute multilateral, nicht unilateral handeln. Global statt national. Weltoffen statt isolierend. Zusammen, nicht in Alleingängen.“

Das sagt gerade SIE, die in Europa für ihre Alleingänge berüchtigt ist. Von der Finanz- über Flüchtlingspolitik bis zur vernachlässigten Ökologie. Wenn Macron Europa erneuern will, wer antwortet mit keiner Silbe? Selbst die Freundschaft mit Frankreich setzt SIE kaltblütig aufs Spiel.

In Harvard das leibhaftige Prinzip Hoffnung, zu Hause eine larvierte Apokalyptikerin. Es erwarten uns Verhältnisse wie im 30-jährigen Krieg, so ihre unheilsschwangere Prophetie hinter den Kulissen. Klaffender kann der Widerspruch zwischen Demagogie und Wahrheit nicht sein.

In der amerikanischen Eliten-Uni kennt SIE keine Zukunftsängste. Da schwimmt sie wie ein Fisch im Wasser. Komme, was da kommen mag: zusammen schaffen wir es. Kokett gibt SIE zu erkennen, dass selbst SIE nicht wisse, was die Zukunft bringt. Nähme SIE ihre eigenen Worte ernst, wüsste sie es: nur das Beste aus Readers Digest.

Im alten Europa hütet sie sich vor großen Visionen. In Gods own country schwappt sie über vor Tatkraft und Zuversicht. Das könnte man als ich-schwache Anpassungsleistung an die jeweilige Umgebung diagnostizieren. Wie die Mächtigen sungen, so pfeifen die rhetorischen Mietlinge.

In einem Land mit eschatologischer Grundstimmung kann man getrost sibyllinische Geschichtsdeutungen von sich geben:

„Es gibt keinen neuen Anfang ohne ein Ende. Kein Leben ohne Tod.” Bald werde auch ihre Zeit als Politikerin enden. „Wer weiß, was dann kommt.“ (BILD.de)

Das wissen bereits aufgeklärte Grundschüler. Was bezwecken wir mit solchen Trivialitäten, die wie Geschichtsmetaphysik klingen sollen, oh hehre Kanzlerin? Soll ein Anhauch von Wehmut den Abschied würzen? Will die Nüchterne Gefühle zeigen?

Dabei ist die Frage nach der Zukunft kinderleicht zu beantworten – wenn man sie vernünftig und ohne heilsgeschichtliche Dramaturgie betrachtet. Die Zukunft wird – von unberechenbaren Natureskapaden abgesehen – exakt das bringen, was die Menschen der Natur angetan haben. Uns erwarten die Früchte unseres Tuns. Nicht mehr und nicht weniger.

Hier merkt man, dass SIE die wissenschaftlichen Ökoprognosen verachtet. Die Physikerin ignoriert die längst zum Konsens gewordenen Warnungen der Wissenschaftler. Dieses trifft auf alle deutschen Klima-verächter zu, von denen man Sätze hören kann wie: aus irgendeinem Grund ist das Umweltproblem an die erste Stelle gerückt. Habeck will eine fleischlose Ökodiktatur, FDP-Kubicki einen geistlosen Untergangskapitalismus.

Die Wissenschaft hat bei den Mächtigen jede Bedeutung verloren. Ihre Thesen werden nicht mal dementiert – sie werden komplett ignoriert. Auf diesem Boden kann der biblische Fundamentalismus wachsen, der als Creationismus in Amerika eine höhere Reputation genießt als die gottlose Wissenschaft.

Was bringt die Zukunft? Den Niedergang der Gattung – wenn SIE weiter so vor sich hin wursteln, oh mächtigste Frau der Welt.

Nun offenbart sich der tiefe Sinn der Rede vom Gang ins Offene: Kommt, Freunde, ins Offene – des endgültigen Abschieds von der minderwertigen, alten, untergangswürdigen Natur. Das Offene Hölderlins als Rückkehr zur Natur wird verfälscht zum Offenen des Untergangspropheten Johannes. Warum offen? Weil niemand weiß, was die himmlischen Bücher (die dann aufgeschlagen werden) über ihn aussagen werden. Niemand kann wissen, ob er zu den Geretteten oder den Verdammten gehören wird.

Und wie kam die mächtige Rede bei den Harvard-Absolventen an?

„Es war eine sehr inspirierende Rede, die mir viel für die Zukunft auf den Weg gegeben hat. Ich fand beeindruckend, dass sie bereit war, neue Wege zu gehen und offen zu sein.“

„Jemanden hier zu haben, der global so viel Einfluss hat, war aufregend. Für mich natürlich auch deshalb, weil sie eine Frau ist. Es war inspirierend zu hören, woher sie kommt und wie sie es schaffte, zu einer internationalen Spitzenpolitikerin zu werden. Ich fand gut, dass sie ohne Donald Trump je zu erwähnen, so viele seiner politischen Themen angesprochen hat.“

„Sie hat uns darauf aufmerksam gemacht, was wir heute tun müssen. Und dies in einer so hoffnungsvollen Art. Sie hat gesagt: Dies sind die schweren Herausforderungen, die auf euch warten – wie der Klimawandel. Aber sie sagte auch: Ich glaube ihr könnte das schaffen.“

Deutsche und amerikanische Eliten sind austauschbar geworden. Pathos bleibt abstrakt, Kritisches ist ausgeschlossen, Emotionen haben zu genügen.

Was kann man von einer Politikerin, die zu Hause alles schleifen und verderben lässt, an Ratschlägen erwarten? Wie calvinistisch verseucht muss man sein, dass die gravierenden Antagonismen der Rednerin unbemerkt bleiben? Inspirierend scheint auf Deutsch zu heißen: stolz gehe ich nach Hause, die Fahrkarte nach Silicon Valley habe ich in der Tasche.

Das linke Lager in Amerika, von Trump vorgeführt, giert nach deutschen Patentlösungen, um ihren Gegner zu Fall zu bringen. Harvard wollte von seinem Ehrengast keine Wahrheit hören, sondern eine Erbauungspredigt. Wie bestellt, so geliefert.

In einem SPIEGEL-Interview wird eine Harvard-Dozentin daran erinnert, dass die Laudatorin (die hier eine Populistin sein müsste, die alles verspricht und nichts hält) im Grunde eine Apokalyptikerin ist und eben keine Hoffnungsdenkerin. Kesse Antwort der Dozentin:

„Das ist aber auch eine deutsche Sicht auf Angela Merkel. Im Kollegium hier in Harvard wird die Kanzlerin als Leitfigur der westlichen Werte gesehen. Das Kollegium ist politisch liberal eingestellt und steht der US-Administration in Washington skeptisch gegenüber.“ (SPIEGEL.de)

Mit anderen Worten: wie die Kanzlerin wirklich ist, spielt für uns Amerikaner keine Rolle. Sie erhält von uns eine elitäre Weltbühne, dafür erwarten wir von ihr, was wir bestellt haben: eine kritiklose Lobrede auf den Kurs des weltbeherrschenden Amerika, der auch die Zukunft des Planeten prägen soll.

Das war ein Deal: Lobhudelei Amerikas gegen das Vermächtnis einer Deutschen, die eine amerikanische Superkarriere hingelegt hat. So bestärken sich die Eliten dieser Welt. Do ut des. Weltgeltung für ein ehemaliges deutsches Aschenputtel – gegen amerikanische Traum-Bewunderung.

Eine Deutsche, so scheint es, hat es geschafft, die lädierte liberale Elite Amerikas mit genuin amerikanischen Methoden wiederzubeleben. Das muss man sprachlos bewundern.

Die deutschen Medien platzen vor Stolz auf die Mutter der Nation, die, zu Hause umstritten, in Amerika die Erweckungspredigerin spielt. Billy Graham würde vor Neid erblassen.

Auch BILD beherrscht den Relotius-Effekt, um die Emissärin des Offenen ins rechte Licht zu rücken:

„Dann nahm Angela Merkel auf dem Podium Platz. Hellblauer Blazer. Schwarze Hose. Die Hände natürlich zur Raute geformt.“

Solche Tiefenwahrnehmungen helfen dem zurückgebliebenen deutschen Publikum, die Rede der talarlosen Evangelistin in ihrem tiefen Sinn zu verstehen. Danke, BILD.

Was hätte die Festrednerin sagen müssen, wenn sie wirklich die Wahrheit hätte sagen wollen? Sie hätte Tacheles reden müssen mit der zukünftigen amerikanischen Führungsklasse – wie der erstaunliche Schriftsteller Jonathan Franzen in einem SPIEGEL-Interview:

„Das Silicon Valley stellt sich gern als Erbauer von „Communities“ dar, aber seine eigentliche Ethik ist die des marktwirtschaftlichen Libertarismus – eine Ethik, die besser für den Wilden Westen geeignet ist als für das städtische Leben. Dieser missionarische Ton, die utopischen Visionen, das war alles so dumm, so falsch, es regte mich auf. Die Art, wie die Silicon-Valley-Vordenker reden, war und bleibt empörend für jeden Humanisten. All diese großen Versprechen von der globalen digitalen Demokratie, vom Ende der Eliten, vom Ende aller Konflikte, das war alles so absurd, so unendlich töricht. Das Silicon Valley betrachtet den Menschen als Mängelwesen, dessen Unzulänglichkeiten sich mit seinen Produkten beheben lassen. „Wir machen die Welt zu einem besseren Ort“, das ist der Satz, den das Silicon Valley sich offenbar hat patentieren lassen. „Kein Problem, das wir nicht lösen können“, diese ganzen Slogans. Ich kann es nicht mehr hören. Das Allerdümmste, das aus dem Valley kommt, von Leuten wie Elon Musk und anderen Clowns, ist zu sagen: Wir lösen das Problem des Todes. Wir machen die Menschen unsterblich.“ (SPIEGEL.de)   

Gemessen an den grundlegenden Einsichten des Schriftstellers ist die Rede der deutschen Kanzlerin gedankenarm, eitel und von beschämender Anbiederung. Die Demütige hat es geschafft, sie ist im kapitalistischen Olymp angekommen.

Fast alle deutschen Gazetten reden bereits von Vermächtnis und schreiben vorgezogene postmortale Hymnen – für die Geschichtsbücher. Deutschland hat wieder eine Weltheldin.

Wer solche Lichtfiguren hat, braucht keine Politik mehr.

 

Fortsetzung folgt.