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Von vorne XII

Von vorne XII,

zwei Gespenster gehen um in der Welt, die in Wirklichkeit nur ein einziges sind. Das eine nennt sich Kapitalismus, das andere Sozialismus. Vordergründig liegen sie im Kampf, hinter den Kulissen sind sie sich einig in der Verachtung des Menschen, den sie für eine Marionette der Geschichte halten.

Geschichte ist für beide die innige Verbindung einer Heilsgeschichte für Wenige mit einer Unheilsgeschichte für Viele. Heil und Unheil zusammen nennen sie Fortschritt, der einer winzigen Minderheit Reichtum und Macht, der riesigen Mehrheit Abhängigkeit, Ohnmacht und Elend einbringt.

Über die Belange der Menschheit hat die Mehrheit nicht mitzureden. Sie ist Gesetzen der Geschichte untertan, die von der Minderheit erfunden und als Elemente grenzenloser Machtanhäufung dargestellt werden. Unbegrenzte Macht über Natur und Mensch, von Menschen kreiert, wird von den Nutznießern der Allmachtsphantasien als unabänderliche Naturgesetze vorgestellt, die das Herz der Geschichte sein sollen.

Geschichte wird nicht von Menschen bestimmt, sondern von Kräften, die den Menschen himmelweit überragen. Indem sie über die Geschicke des Menschen bestimmen, als ob sie Gesetzen der Natur gehorchten, gelingt es ihnen, Macht über die Erde auszuüben, ohne für irgendetwas verantwortlich zu sein.

Gott nennen die Frommen ihre Zuversicht und Macht, die sie in Deutschland als irdische Ohnmacht, in Amerika als Vorschein jenseitiger Allmacht darstellen. Nichtfromme reden von Evolution oder materialistischem Klassenkampf. Gott, Evolution oder Klassenkampf: allen geht es um Heilsgeschichte.

Heilsgeschichte wurde von Völkern erfunden, die ihr Schicksal auf Erden unerträglich fanden, aber keine Möglichkeiten sahen, sich von ihrem Los zu befreien. Eines fernen Tages werden sie in einem imaginären Reich zu Herren der Gesamtgeschichte

aufsteigen. Bis dahin heißt es ausharren, dulden und ertragen.

Urchristen waren Juden, die unter zweierlei Knechtschaften litten: dem nationalen Joch ihrer Priester – und dem Joch des ersten globalen Kapitalismus der Weltgeschichte, der hellenischen Oikumene.

Jesu Fluchworte richteten sich gegen Schriftgelehrte und Pharisäer: „Ihr blinden Führer, die ihr die Mücke seiht, das Kamel aber verschluckt.“ Und gegen die Reichen: „Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich.“

Das Urchristentum war eine missglückte jüdische Freiheitsbewegung, die von der heidnischen Freiheitsbewegung der athenischen Demokratie inspiriert war. Die Tragik des christlichen Credos: sein Widerstand gegen den eigenen Klerus und gegen fremde Besatzungsmächte endete in einer totalen Degradierung durch einen Erlösergott, der den Menschen zu einem Nichts verstümmelte. Ursprünglich wandte sich Jesus nur an das eigene Volk. Bald erkannte er, dass er seine Jünger in die Welt schicken musste, um seinem Protest eine übernationale Basis zu schaffen.

Hoffnung auf eine imaginäre Zukunft entsteht, wenn die Hoffnung auf absehbare Verbesserung auf Erden aussichtslos scheint. Die Vision einer freien Polis verlagerte sich ins Jenseitige: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern suchen die zukünftige.“

Ab diesem Moment richtete sich der Blick nach vorn. Lots Frau, die zurückschaute, wurde zum Inbegriff der Torheit. Hier entstand die amerikanische Zukunftsideologie: wir blicken nur nach vorn.

Gleichwohl war die Hoffnung auf eine Veränderung der irdischen Verhältnisse nicht begraben. Der Widerstand gegen den heidnischen Staat wurde zur radikalen Pflicht. „Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

Die Reaktionen des verteufelten Staates mussten märtyrerhaft ertragen werden. Die zweideutige Formulierung: „gebet dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist“ verpflichtete nicht zur offenen Rebellion, sondern ließ die Möglichkeit einer Umwälzung durch passiven Widerstand offen.

Eine linke Zeitung der Gegenwart beruft sich auf die ehemalige Staatsverweigerung der Urchristen, um heutige Gegner des Kapitalismus zur religiösen Revolution aufzurufen.

„Ich denke, dass wir hier von den frühen Christen lernen können. Die Römer sagten: „Behaltet eure verrückte Religion für euch, eure heiligen Bücher außer Sichtweite und kommt ab und zu, um den heidnischen Göttern Weihrauch zu verbrennen.“ Die Christen sagten, sie würden lieber sterben. Obwohl ich den Märtyrertod keinesfalls empfehle, bleibt es eine Tatsache, dass die Christen dadurch, dass sie sich dem Willen der Eliten verweigerten, deren heidnische Religion innerhalb von 80 Jahren zerstört haben.“ (Freitag.de)

Der Endsieg im Himmel war Plan A – für den Fall, dass auf Erden nichts zu machen war. Das Zermürben des irdischen Staates durch passive Verweigerung, um ihn eines Tages dennoch zu überwältigen, war Plan B.

Die Konstantinische Wende – die Übernahme des römischen Reiches durch die Christen – war kein Glaubensverrat der Kirche, sondern das mühsam erarbeitete Ergebnis von Plan B, der in keinem Widerspruch zu Plan A stand.

„Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“ „Aber die Gebeugten werden das Land gewinnen.“

Das war die doppelte Falle, in die das Christentum geriet. Als die Urchristen die Vergeblichkeit ihrer Rebellion bemerkten, musste diese verinnerlicht werden, um eines unbekannten Tages zum äußerlichen Erfolg zu werden. Entweder bereits auf Erden, oder mit Sicherheit im Jenseits.

Ein Sieg auf Erden aber würde die Umwertung der irdischen Machtwerte – zurück verwandeln in diese selbst. Die Macht wäre nicht beseitigt, sie hätte nur einen anderen Besitzer erhalten. Die Letzten werden die Ersten sein: also wurden sie Erste, indem sie eine Zeit lang die Letzten mimten. Die Kategorien Erste und Letzte, Mächtige und Ohnmächtige, blieben; nur die Subjekte der Klassen tauschten ihre Positionen.

Das griechische „Naturrecht der Starken“, wogegen sie protestiert hatten, war rehabilitiert. Macht und Reichtum der mittelalterlichen Papisten wurden unermesslich. Streng genommen war das kein Finassieren mit verdeckten Karten. Denn in der Schrift wurde kein Hehl über das Ziel der Demutsethik gemacht:

„Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: Der HERR hat Großes an ihnen getan! Der HERR hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich.“

Erben des Reichs, Erben der Welt, Erben der gesamten Schöpfung: höher und gewaltiger kann das Ziel des christlichen Lebens nicht sein. Ob bereits auf dieser Welt oder erst im Jenseits – das spielte keine Rolle.

Die zweite Falle, in die sie tappten, war die Untertänigkeit unter eine theokratische Herrschaft. Der Herrschaft der Menschen wollten sie entfliehen – und verfielen der totalitären Herrschaft eines Gottes und seiner Priester.

Besonders für Frauen war das bitter. Frauen gehörten zu den eifrigsten Jüngerinnen eines Messias, der ihnen die Freiheit von der Männerherrschaft in Aussicht gestellt hatte. Sie folgten seinem Sirenengesang, boten den irdischen Machthabern Paroli – und landeten in der totalitären Herrschaft von Über-Männern. Die heutige Frauenemanzipation, die schon Enormes erreicht hat, könnte gleichwohl in derselben Falle landen, wenn die Frauen ihr Heil nur darin sehen, sich dem Kapitalismus der Männer zu unterwerfen.

Die Selbstbestimmung der Frau wird erst volle Fahrt aufnehmen, wenn sich die Frauen dem naturzerstörenden Wirtschaftsmoloch der Männer verweigern. Junge Frauen wie Greta Thunberg und Lisa Neubauer scheinen die Gefahren des kapitalistischen Karrierismus durchschaut zu haben. Ihr energischer Kampf gegen den Klimawandel ist nicht zuletzt ein Kampf gegen Geld- und Machtmänner.

Die lange historische Leidensgeschichte der Deutschen spiegelt sich in ihrer Präferenz der ecclesia patiens, der leidenden Kirche. Die Amerikaner fühlten sich auf ihrem unermesslich neuen Kontinent schnell als Erben von Gods own country und bevorzugten die ecclesia triumphans. Die allzu lange dauernde ecclesia patiens der Deutschen entlud sich in der Explosion der inbrünstig erwarteten ecclesia triumphans – des Dritten Reiches.

Deutsche Historiker verstehen nichts von Theologie, weshalb sie Hitler zum heidnischen Gegner des Christentums erklärten. Unfug. Der Führer fühlte sich als Inkarnation des wiederkehrenden Messias, der die letzte Epoche der Heilsgeschichte ausrief, in der die ecclesia patiens der heuchelnden Kirchen beendet und die ecclesia triumphans der Endzeit eröffnet wurde.

Sollte die These stimmen, dass Kapitalismus und Sozialismus au fond dieselbe Heilsgeschichte vertreten, dürften links und rechts nur an der Oberfläche unverträglich sein. Die jetzige Apathie aller Parteien, die sich im Wärmetod ihrer zu Tage tretenden Gleichheit entlarvt, würde die These erhärten.

Die Kompromissorgien der Parteien wären gar keine, sondern das Ende scheinbarer Unverträglichkeiten und das Zutagetreten bislang verdrängter Einmütigkeiten in Grundsatzfragen.

Nehmen wir Hayek als Vertreter des schärfsten Kapitalismus, in der der mündige Mensch keine Rolle spielt. Hayeks Gegenaufklärung hält nichts von den Vernunftfähigkeiten des Menschen. Der allmächtige Markt regelt alles nach Regeln, die Hayek mit biblischen Vokabeln beschreibt:

„Wiederum sah ich, wie es unter der Sonne zugeht: Zum Laufen hilft nicht schnell sein, zum Kampf hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; dass einer angenehm sei, dazu hilft nicht, dass er etwas gut kann, sondern alles liegt an Zeit und Zufall.“

Der Einzelne kann dem ominösen Markt Angebote machen. Nach welchen Kriterien aber der Markt entscheidet, weiß nur der Wind. Alles ist unberechenbares bloßes Haschen nach Glück. Nicht die Tüchtigsten und Leistungskräftigsten gewinnen, sondern die Hasardeure und Glücksritter. Der FDP-Slogan: Leistung muss sich wieder lohnen, ist keine angemessene Beschreibung des Neoliberalismus, sondern entstammt Lindners Märchenstunde.

Mit der deutschen Wirtschaft soll es bergab gehen. Was wäre zu tun? Die Autoren des SPIEGEL-Artikels „Die fetten Jahre sind vorbei“ halten sich mit Empfehlungen zurück. Müssen sie auch, wenn sie ihrer Neutralitätsdevise nicht untreu werden wollen. Nicht mal mit ihren eigenen Interessen dürften sie sich gemein machen.

Prophezeien sie einen unkorrigierbaren Niedergang? Dann wären sie Anhänger einer automatischen Geschichte. Warnen sie, um dem Schlimmsten vorzubeugen? Dann müssten sie sagen, wen sie für den neuen Herakles hielten. Auch bei der Analyse möglicher Ursachen bleiben sie reserviert. Würden sie nämlich die Verantwortlichen kenntlich machen, verrieten sie, welcher Geschichtstheorie sie zuneigten.

Ist die Wirtschaft eine gut geölte Maschine, an der Fachleute bestimmte Stellschrauben drehen, damit der Motor auf Hochtouren läuft? Oder ist sie das Gesamtwerk einer ganzen Gesellschaft, das umso besser läuft, je mehr jeder Einzelne einbringt? Dann wäre die Ökonomie – horribile dictu – das Werk moralischer Menschen, die sich Mühe geben, dass der Laden läuft. Arbeitsfleiß, Zuverlässigkeit, rationales Handeln sind moralische Tugenden.

Der Niedergang der deutschen Wirtschaft würde demnach auf der schwindenden Bereitschaft der Deutschen zum engagierten Malochen beruhen. Sie, die Dauersieger der verflossenen Dezennien – der „glücklichsten Zeiten der deutschen Geschichte“ –, wären degeneriert zu lustlosen, wohllebigen Konsumenten, die Gott einen guten Mann sein lassen.

Was also müsste die Kanzlerin, wenn sie denn über die Macht des Wortes verfügte, ihrem übersättigten, selbstzufriedenen Volk sagen, um es wieder in die Gänge zu bringen? Schluss mit Trödeln und Prassen: wir müssen wieder mehr leisten? Wir müssen wieder mehr Einsatz bringen, um unsere schärfsten Konkurrenten in USA und China nicht ziehen zu lassen?

In der WELT wirft der Ökonom Straubhaar dem SPIEGEL miesmacherische Schwarzmalerei vor. Die sei überhaupt nicht gerechtfertigt, wenn man die Qualitäten des „deutschen Modells“ bedenkt:

„Gerade das auf individuelle Verantwortung und Haftung, auf private Innovationskraft Einzelner und die Wettbewerbsfähigkeit des Mittelstands setzende deutsche Modell ist möglicherweise weit zweckmäßiger als andere Kulturen und Gesellschaften imstande, auf disruptive Entwicklungen zu reagieren.“ (WELT.de)

Individuell? Verantwortung und Haftung? Private Innovationskraft Einzelner? Das sind unverhüllte Appelle an die moralische Einsatzfähigkeit der Einzelnen – von Unten. Denn die da Oben haben alles andere erkennen lassen als individuelles Verantworten und Haften für angerichtete Schäden. Geht eine Firma abwärts, wird der Vorstand mit einer höheren Rendite „bestraft“. Gehen Banken pleite, werden sie auf Kosten der Steuerzahler saniert.

In der politischen Arena gibt es niemanden mehr, der wegen Unfähigkeit zurückträte. Ursachenforschung ist komplett gestrichen, die dominierenden Eliten müssten ja unter die Lupe genommen werden. Haben sich die staatstragenden Medien doch schon lange entschieden, Eliten nur zu kennen, wenn es Meriten zu verteilen gibt. Wer von Eliten schlecht spricht, ist hingegen ein Populist, der alles verspricht und nichts hält, ganz im Gegenteil zu den Platzhirschen, die gewöhnlich nichts versprechen und dies trefflich einhalten.

Warum gibt es keine Innovationskraft mehr? Weil solche in Schulen und Universitäten bestraft wird. Dort wird belohnt, wer Vorgekautes pünktlich erbricht.

Die Zöglinge in der Schule sollen nicht mehr auf Entdeckungsreise gehen, sondern permanent geprüft und getestet werden. Die Pest des permanenten, auf Einschüchterung und Angstmachen beruhenden Testens sind Instrumente im Dienst der Industrie, die unfähig ist, ihre Bewerber selbst auszusuchen. Sie wollen Zeugnisse sehen, damit sie wissen, wer ihnen Profit einbringt.

Seltsam, dass die Qualitäten der Deutschen umso mehr in den Keller sanken, je besser Tests und Abiturnoten ausfielen. Das wird doch nicht daran liegen, dass die durch Tests Ausgelaugten keine Fähigkeiten mehr zum Selbstdenken haben?

In Schlaumeier-Kanälen wird von morgens bis abends gequizzt. Alles wird abgefragt, was nicht niet- und nagelfest ist. Offensichtlich hat den Programmmachern noch niemand gesagt, dass Vielwissen – Nichtswissen ist. Fakten, Fakten, Fakten, die niemand erklären und bewerten kann, sind Verdummungsfaktoren. Wahrheit liegt nicht auf der Straße und ist durch „Spurensuche quer durch das Land“ selten zu finden.

„Vielwisserei verleiht nicht Geist, sonst hätte sie dem Pythagoras solchen verliehen und ebenso dem Xenophanes.“ (Heraklit)

Wenn karrieristische Ellenbogen, ein gewisser Snobismus der Lebensart, die Kunst distanzlosen Mitlaufens, der „Charme des Dysfunktionalen“ belohnt, Verantwortungsfähigkeit und unabhängiges Denken hingegen mit schweigendem Missachten quittiert werden, bleiben alle Probleme liegen, weil sich niemand die Finger verbrennen will.

Gibt es bis heute eine einzige nachvollziehbare Fehleranalyse des Stuttgarter Bahnhofs? Wo sind die Schuldigen der Wohnungsnot, wo die Verantwortlichen für Kitas und Schulen, in denen es zu wenig Erzieher und Lehrer gibt? Was sind die Ursachen, dass es keine Ursachen und objektiven Wahrheiten mehr gibt?

Der Einzelne wird nur als Sündenbock benötigt. Geht’s um Verdienst, halten die Oberen die Hände auf. Für den Neoliberalismus gilt: der Mensch? Wird von der Evolution nach Zufall und Glück ausgesucht und verworfen. So wird Gott im Jüngsten Gericht agieren. Er wird erwählen, wen er erwählt und verwerfen, wen er verwirft.

Wie aber steht es bei den Linken, den Erben des Marxismus? Nichts beruht bei ihnen auf Zeit und Zufall, alles aber auf Notwendigkeit. Dort ist Vernunft unberechenbar, hier herrscht unveränderbare Notwendigkeit. Das Unberechenbare und Notwendige sind Instrumente der Geschichte.

In beiden Systemen hat der Mensch nichts zu sagen. Es gab nur eine einzige Epoche in der europäischen Geschichte, in der der Mensch autonom und mündig war, das war die Zeit der athenischen Demokratie, in der Philosophen sich der Wahrheitssuche widmen konnten.

Es gibt ein klares Wort für die Fähigkeit des Menschen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, das Wort heißt: Moral. Wer erkennt, was ist, und darüber nachdenkt, was sein soll, der kann begründet entscheiden, wie sein Leben verlaufen soll. Sein und Sollen gehören zusammen. Der Mensch, der ist, kann erkennen, wie sein Leben sein soll, damit es menschlich genannt werden kann.

Hier liegt kein naturalistischer Fehlschluss vor, wonach es dem Menschen verboten sein soll, dem Wünschbaren und Machbaren nachzustreben. Der Mensch ist selbst Natur. Er kann sich verändern und reifen, weil Natur gegen Klugheit nichts einzuwenden hat. Seiner Natur entspricht es, das vorhandene Schlechte in das nicht vorhandene Gute umzuwandeln. Ist der Mensch fähig zum technischen Fortschritt, ist er auch fähig, seine Welt zu humanisieren.

Es ist der technische Fortschritt, der sich zum naturalistischen Fehlschluss entwickelt hat. Denn er hat die Natur zur Minna gemacht. Werde, der du bist: das ist der Appell an einen selbstbewussten Vernunftträger.

Bei Marx gab es keine allgemeine Moral, sondern nur eine Klassenmoral, die sich ständig ändert. Revolution war nicht das Ergebnis eigener Einsicht und autonomer Moralentschliessung, sondern passives Anhängen an eine übermenschliche Heilsgeschichte.

Marx vollbrachte das Kunststück, die Religion als Opium des Volkes auszusortieren, um sie durch das Opium einer wirtschaftlichen Heilsgeschichte zu ersetzen. Dort waren die Erwählten Juden, Christen, Mohammedaner, Deutsche, Russen, Engländer, hier sind es die Proleten. Dort muss man dem Gnadenwerk des Herrn vertrauen, hier dem Gnadenwerk der materiellen Geschichte, die alle Stufen des Erfolgs und Misserfolgs durchlaufen haben muss, um sich selbst zur Explosion zu bringen. Der Erwählte darf daneben stehen und die heiß laufenden Räder der Geschichtslok noch ein wenig beschleunigen.

Das war‘s. Vernunft ist nicht gefragt, sondern Hörigkeit jenen gegenüber, die genau wissen, was die Glock geschlagen hat. Folget Marx und seinen Propheten und überlasst das Geschichtsdeuten denen, die sich dazu berufen fühlen.

Warum wurde Rudi Dutschke zum führenden 68er-Revolutionär. Weil er als gläubiger Christ Marx zu studieren begann und selbst auf die Kanzel stieg, um Marx und das Neue Testament als Einheit zu verkündigen.

„Engels weist deshalb jede Zumutung zurück, uns irgendeine Moral-Dogmatik als ewiges, endgültiges, fernerhin unwandelbares Sittengesetz aufzudrängen, unter dem Vorwand, auch die moralische Welt habe ihre bleibenden Prinzipien, die über die Geschichte und den Völkerverschiedenheiten stehen.“ (Zit. bei L. Woltmann, Der Historische Materialismus)

Griechen werden als zeitlose Träumer dargestellt, weil sie die einzige Antwort auf die Ungerechtigkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung bis heute erdacht haben: die Autonomie des Menschen.

Kapitalismus ist der ungebärdige Zwillingsbruder der Freiheit, der ständig im Auge behalten und gezügelt werden muss, damit er Freiheit nicht missbraucht, um seine Stärken zu Zwinginstrumenten derer zu benutzen, für die gutes Leben was ganz anderes bedeutet, als Macht und Reichtum nachzujagen. Freiheit taugt nichts mehr, wenn es Wenigen gelingt, den Vielen ihren Willen aufzuzwingen. In erster Linie geht es nicht um größere Reichtümer, die angeblich von den Ärmeren beneidet werden. Es geht um die Macht, eine Herrschaft des Volkes in die Herrschaft Weniger zu deformieren.

Kapitalisten sind gefährlich, weil Jahrhunderte alte ungerechte Regeln und Gesetze ihnen erlauben, immer noch reicher zu werden, indem sie den vom Volk erarbeiteten Profit in ihre Taschen lenken. Und sie sind gefährlich, weil sie ihren Reichtum als Macht benutzen, um die Politik nach ihrem Willen zu lenken.

Warum ist die Neuzeit unfähig, die Geschichte des Kapitalismus dort beginnen zu lassen, wo der erste Starke einem Schwachen das Leben mit Kredit und Schuldenzurückzahlung zur Hölle machte? Für moderne Gelehrte ist Kapitalismus identisch mit einem komplizierten Räderwerk, das nach listigen Regeln zum eigenen Vorteil benutzt werden kann. Ja, es gibt Althistoriker, die leugnen, dass in alten Zeiten Kapitalismus möglich war – weil es den Begriff Kapitalismus noch gar nicht gegeben habe.

Wenn Althistoriker die Wirtschaft der Hellenen oder Römer beschreiben, beschreiben sie nur die ökonomischen Mechanismen. Was diese Instrumente bewirkten, welches Elend den Unterklassen beschert wurde, bleibt außen vor. Zudem sind die Modernen stolz darauf, den Gipfel der Verschlagenheit und Habsucht selbst erfunden zu haben. Den Gipfel der Verruchtheit wollen sie sich nicht nehmen lassen. Fortschritt muss vor allem Fortschritt im Bösen sein.

Seit Mandeville war Fortschritt mit dem Bösen verbunden. Nur das Böse war fähig, die Fortschrittsfähigkeiten der Geschichte anzuheizen. Selbst Kant erlag der Versuchung, den mündigen Menschen durch eine Natur zu entmündigen, die ihn aus seiner Faulheit und Trägheit aufscheuchte.

„Durch seine Gier zur Handlung getrieben, lernt der Mensch den Gebrauch seiner Vernunft und entwickelt allmählich seine natürlichen Anlagen.“ (Alfred Stern, Geschichtsphilosophie und Wertproblem)

Das war identisch mit Goethes Mephisto, einem Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Der Kapitalismus musste erst seine geschichtsfördernde Bosheit einsetzen, bevor der Revolutionär sich von der Heilsgeschichte erlösen lassen durfte.

Proleten sollten schon deshalb nicht moralisch sein, weil sie die Übel ihrer Gegenwart nicht beheben durften. Das Böse musste durch Fortschritt erst maximiert werden, bis es in eigener Gesetzlichkeit in sich zusammenbrach.

Marx & Engels waren Anhänger der naturzerstörenden Herrschaft des Menschen. Grenzenlose Arbeit als Destruktion der Natur waren für sie Unheilsmittel, die dem Menschen das finale Heil bringen sollten.

In einem Brief schrieb Marx an die englischen Chartisten, die er anfänglich als Avantgarde der Revolution betrachtete:

„Ihr Arbeiter Englands, Ihr werdet als die Erlöser der ganzen Menschheit betrachtet werden.“ (zit. in Alfred Rosenberg, Demokratie und Sozialismus)

Historiker dürfen sich nicht die Schwäche erlauben, in früheren Zeiten sich selbst und ihre Gegenwart zu erkennen. Das würde ja bedeuten, dass man aus der Geschichte lernen könnte – und sein Wissen in die politische Debatte der Gegenwart einbringen müsste. Hier wendet sich der Gast mit Grausen.

Sie nennen es Historismus, dass sie ihre Gelehrsamkeit als nutzlose l’art pour l’art anbeten. Schließlich wollen sie moralfreie Ästheten sein, keine Biedermänner, die beim Studieren der Geschichte sagen: Tua res agitur, es geht um dich, mein Freund. Jede Epoche erfindet ihre Moral neu. Aus der Geschichte kann man nichts lernen, sagte Hegel, ihr Meister in Weltgeist.

Warum sind die Deutschen dumm geworden? Weil sie sich verboten haben, gescheit zu werden. Wer durchblickt, kriegt nur Probleme. Die gesamte Verdrängung der Vergangenheit, die nicht vergangen ist, gehört zum Dummstellerprogramm der Moderne.

Auf dem Gipfel der Verblödung kommen sie auf die Idee, Maschinen herzustellen, die klüger sein sollen als sie selbst. Kunststück. Zuerst die Intelligenz an der Garderobe abgeben, dann mit verminderter Intelligenz superschlaue Roboter erfinden, die den Erfindern gestatten, sich endgültig jeder politischen Verantwortung zu entziehen. Das ist an Raffinesse nicht zu überbieten.

Es gibt in der Gegenwart keine Geschichtsphilosophie, die dem Menschen die Verantwortung für sein Leben gewährt. Wohin wir blicken: Heilsgeschichten. Nicht nur Sozialismus und Kapitalismus, auch Stalinismus und Hitlerei waren priesterliche Botschaften in säkularem Jargon:

„Überzeugt, im Besitz der allumfassenden und alles heilenden Wahrheit zu sein, glaubte jede von ihnen, alles ihren Zielen Förderliche sei richtig und gut, und alles, was sich ihrem Vormarsch in den Weg stellte, sei böse.“ (Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie)

Gespenster gehen um in der Moderne, geheimnisvoll und bedeutend kostümiert, die nur eine Botschaft haben: Der Mensch kann es nicht. Er muss sich höheren Mächten unterwerfen. In der Unterwerfung ist ihm alles erlaubt, was Macht einbringt. Und alles verboten, was diese Macht einschränkt. Das Böse ist nicht nur erlaubt, es ist strikt geboten, um die Macht bis ins Universum auszudehnen.

Glaube an Gott, Heilsgeschichte, Evolution und Fortschritt ist der Glaube an ihren eigenen Größenwahn. Das Böse ist des Größenwahns liebstes Kind. Oder, wie Luther sagte:

Sündige tapfer, wenn du nur glaubst.

 

Fortsetzung folgt.