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Von vorne XCIX

Von vorne XCIX,

wie steht es um den Kampf gegen Antisemitismus?

Er ist tot. Wie alles Sinnvolle und Notwendige im teuren Vaterland. Nirgendwo Anzeichen zu erkennen, dass er wiederauferstehen könnte.

Um den genuinen Antisemitismus, den christlichen, kümmert sich niemand. Auf den verschobenen, übertragenen, stellvertretenden – den Hass auf den Staat Israel – stürzen sich alle: mit Ingrimm im selbst-exkulpierenden Herzen. Irgendetwas muss man ja vorweisen, wenn man nichts vorzuweisen hat.

Dem genuin-religiösen Antisemitismus könnte man nur auf die Spur kommen, wenn man sich mit christlicher Religion beschäftigen würde. Doch eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein deutscher Christ sein Buch der Bücher aufschlagen würde, um die Giftwurzeln des Übels ausfindig zu machen.

Ein babylonischer Turm voller Tabus versperrt den Eingang zur Religion des Abendlandes.

Es darf nicht ans Licht kommen, welch verhängnisvolle Unterstützerrolle die Kirchen im 1000-jährigen Reich gespielt haben. Seitdem sie unter Seufzern und Tränen das Schuldbekenntnis ablegten, die Juden nicht feurig genug geliebt zu haben, haben sie verdrängt, welch schauerlichen Feuern sie ihre Opfer übergeben haben.

Es darf nicht ans Licht kommen, welch verhängnisvolle Rolle der religiöse Hass auf die Natur in der Klimaveränderung spielt.

Es darf nicht ans Licht kommen, welche Rolle der Glaube an die unvermeidliche Apokalypse bei der Verweigerung spielt, die Katastrophe mit aller Macht zu verhindern. Alles muss doch an ein Ende kommen, das Elend im irdischen

Jammertal währet schon zu lang.

Es darf nicht ans Licht kommen, in welchem Maß menschliche Vernunft und Moral von der Weisheit des Himmels zu Ursünden entstellt wurden.

Es darf nicht ans Licht kommen, dass ein wahnhaft-endloser Fortschritt die vergebliche Kompensation des Irrglaubens an ein göttliches Endgericht ist.

Wenn man schon keine heiligen Bücher studiert, könnte man vielleicht bei Seelenforschern nachlesen:

„Ich wage die Behauptung, dass die Eifersucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab, bei den anderen noch nicht überwunden ist, so als ob sie dem Anspruch Glauben geschenkt hätten. Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam. Die Tatsache, dass die Evangelien eine Geschichte erzählen, die unter Juden und eigentlich nur von Juden handelt, hat ihnen eine solche Verschiebung erleichtert. Ihr Judenhass ist im Grunde Christenhass, und man braucht sich nicht zu wundern, dass in der deutschen nationalsozialistischen Revolution diese innige Beziehung der zwei monotheistischen Religionen in der feindseligen Behandlung beider so deutlichen Ausdruck findet.“ (Freud)

In einem Punkt irrte Freud. Die Nationalsozialisten hassten nur die degenerierte ecclesia patiens. Nicht aber die Kirche der Erwählten, die ihren Fuß auf den Nacken der Verworfenen stellen wird. Ihr politischer Glaube an den Endsieg war chiliastisch. Ihr Sieg über die Völker wird der Triumph der zu Ehren gekommenen ecclesia militans et triumphans sein.

Freuds Definition des Antisemitismus ist spurlos verschwunden.

Hass auf Juden wäre verkappter Hass – auf sich selbst? Christen hassen Juden, weil sie – in Übernahme eines jüdischen Glaubens – selbst Juden wären? Sie beneiden die Juden um ihrer Erwähltheit willen und hassen sie, weil sie selbst Lieblinge Gottes sein wollten? Sie verachten sich, weil sie unfähig waren, sich selbst eine solche Siegesreligion zuzulegen – und nun deren Erfinder beseitigen müssen, damit ihr Raub unbemerkt bleibt?

Die Deutschen wiederholen die Geschichte von Kain und Abel.

„Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr, und seine Gebärde verstellte sich. Da redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.“

Gott selbst ist schuld am Brüdermord. Warum sah er Abel gnädig an, Kain aber nicht? Menschen fallen übereinander her, weil sie Gottes Ungerechtigkeit nicht ertragen. Lieber werden sie selbst schuldig, als den Glauben an einen gerechten Vater zu verlieren. Nicht Gott erbarmt sich der Sünden seiner Geschöpfe. Die Geschöpfe erbarmen sich der Unfähigkeit ihres Gottes und ent-schulden ihn, indem sie sich selbst beschuldigen.

Antisemitismus gehört zu den stellvertretenden Schuldentlastungen, mit denen die Menschheit ihren Glauben an einen gerechten Vater retten will. Menschen töten und verstümmeln sich, führen sich gegenseitig ins Elend, quälen und foltern sich, um den schwachen Vater im Himmel groß und mächtig erscheinen zu lassen. Der Glaube ans Jenseits muss gerettet werden – und wenn sich die Menschen gegenseitig in die Hölle führen.

Freud, kein Freund der Religion, bleibt Gläubiger dieser Religion, indem er ihre Lehre von der unaufhebbaren Sünde zur Grundlage seiner Tiefenpsychologie wählt:

„Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum „Bösen“, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird. Gott hat sie ja zum Ebenbild seiner eigenen Vollkommenheit geschaffen, man will nicht daran gemahnt werden, wie schwer es ist, die – trotz der Beteuerung der Christian Science – unleugbare Existenz des Bösen mit seiner Allmacht oder seiner Allgüte zu vereinen. Der Teufel wäre zur Entschuldigung Gottes die beste Auskunft, er würde dabei dieselbe ökonomisch entlastende Rolle übernehmen, wie der Jude in der Welt des arischen Ideals.“ (Das Unbehagen in der Kultur)

Juden waren für die Deutschen, was der Teufel für ihren Gott. Der faustische Pakt mit Mephisto war der deutsche Pakt mit Juden:

„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Ich bin der Geist, der stets verneint? Und das mit Recht, denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht. Drum besser wärs, dass nichts entstünde. So ist den alles, was ihr Sünde; Zerstörung, kurz das Böse nennt, mein eigentliches Element.“

Ohne böses jüdisches Element wären die Deutschen moralisierende Volltrottel geblieben. Nur das Böse ist das Kreative, Geniale, Vorwärtsdrängende. Ohne Böses wären die Toren auf der Stelle getreten. Technischer Fortschritt begann im Mittelalter, als Theologen die felix culpa erfanden, jene Schuld, ohne die nichts vorwärts geht:

„Dem Verständnis der „glücklichen Schuld“ dient das Konzept der renovatio in melius („Erneuerung zu etwas Besserem“). In der Auffassung von Augustinus und auch von Ambrosius von Mailand ist Erlösung nicht Rückkehr zum paradiesischen Urzustand von Mensch und Welt (renovatio in pristinum), sondern die Schaffung eines „noch besseren“ Zustandes.“

Hier beginnt der Fortschritt. Erlösung ist keine Rückkehr zum Anfang, sondern Sprengung der zyklischen Zeit der Heiden vorwärts in eine unbekannte, alles Bisherige übersteigende Zukunft.

Francis Bacon wollte die Erbsünde überwinden. Nicht durch Rückkehr zum Anfang, sondern durch Aufbruch in eine unbekannte, verheißungsvolle Zukunft. Der Traum Silicon Valleys, die Sterblichkeit zu überwinden, wäre die Erfüllung des germanisch-jüdischen Pakts.

Die Deutschen spielen die naiven Träumer mit lächerlich-moralischen Visionen, die Juden übernehmen die Rolle des Mephisto, der, in den Augen der Moralapostel, stets das Böse will und stets das Gute schafft. Er muss die Kohlen aus dem Feuer holen, weil die Spießer die Guten bleiben wollen, wenn sie schon mit Pardauz ins Geniale drängen.

Haben die Juden ihre Rolle erfolgreich gespielt und den Germanen zur Weltgeltung verholfen, sind sie überflüssig geworden. Ab jetzt stören sie. Ständig erzählen sie allen Leuten, ohne ihre Geistesgaben hätten’s die tumben Germanen nicht geschafft. Das fiel auf sie zurück.

Michael Wolffsohn ruft den Deutschen zu: wir brauchen euch nicht, ihr braucht uns; wir sind genial, ihr nicht:

„Juden sind – ohne «freundlichen Rassismus» – wirklich für jede Gesellschaft eine echte Bereicherung. Durchaus im wörtlichen Sinne, denn ohne und trotz dem antisemitischen Klischee sind Juden im Durchschnitt wohlhabender beziehungsweise (was immer es sei) «reicher» als Nichtjuden. Gewiss, es gibt auch arme jüdische Schlucker, das ändert nichts am allgemeinen Bild. Der überdurchschnittliche Wohlstand beziehungsweise Reichtum der Juden ist keinen «jüdischen Machenschaften» geschuldet (die gibt es unter Juden wie bei Nichtjuden), sondern ihren messbaren überdurchschnittlichen Leistungen. Massstab von Leistung ist in Leistungsgesellschaften neben Ansehen vor allem Geld. Juden boten und bieten auf ihren Tätigkeitsfeldern häufiger als andere Hochleistungen und werden diesem Faktum gemäss ent- und belohnt.“ (NZZ.ch)

Das ist nicht nur eine objektive Selbstbeschreibung des jüdischen Genius, sondern ein wertvoller Beitrag zum deutsch-jüdischen Dialog: ihr seid nur so aggressiv auf uns, weil ihr nicht zugeben könnt, wie sehr wir euch überlegen sind, wie sehr ihr uns braucht. Daneben sind Wolffsohns Worte eine flammende Eloge auf den überaus leistungsgerechten modernen Kapitalismus. Oder umgekehrt die Erklärung, warum Antisemitismus nicht nur Hass gegen Juden, sondern auch gegen die kapitalistischen Errungenschaften der Moderne ist. Antisemit ist auch, wer Moderne und Kapitalismus – natürlich nur aus Unfähigkeit und Neid – an den Pranger stellt.

„Antisemitismus im Kontext von Globalisierung und Kapitalismuskritik.“ (Kultusministerium.hessen.de)

Wäre die Definitionserweiterung berechtigt, müsste die gesamte Bewegung gegen den Klimawandel als potentiell antisemitisch in Verdacht genommen werden. Denn als Ursachen des Klimaverhängnisses werden naturfeindlicher Fortschritt und kapitalistische Ausbeutung der Natur genannt. Dass Marx, Lassalle, Bernstein und viele andere Juden Kritiker des Kapitalismus waren, scheint den futuristischen Gehirnen entgangen zu sein.

Und nicht zuletzt: der ökologische Imperativ in seiner unübertrefflichen Einfachheit und Wucht stammt von einem – jüdischen Philosophen.

„Handle so, dass die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d.h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte Zeit zu überleben.“ (Hans Jonas)

Da religiöser Antisemitismus gegenwärtig ausgeklammert wird, müssen Ersatzdefinitionen die entstandene Schwammigkeit des Begriffs kompensieren. Primärer Antisemitismus wird gestärkt vom sekundären oder tertiären, der ausgeweitet und ersetzt wird vom Hass auf Israel, stopp, auf die völkerrechtswidrige Politik der Jerusalemer Regierung. Der nicht davor gefeit ist, zum Hass auf die „Juden“ ausgeweitet zu werden.

Jetzt entsteht ein circulus vitiosus. Weil Antisemitismus sich ausbreitet und immer brutaler wird, versuchen die Juden – nicht die Juden, die gibt es nicht, sondern die Repräsentanten der Macht – mit expandierenden Begriffen der expandierenden Gefahr Herr zu werden. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite verschärft sich der Hass gegen die Juden, deren israelische Politik immer friedensunwilliger und expansiver wird. Netanjahu will schon das ganze palästinensische Land besetzen. Expansives Unrecht erzeugt wachsenden „Antisemitismus“, wachsender „Antisemitismus“ provoziert zu expandierendem Unrecht.

Vor einiger Zeit gab es noch gelegentliche Skrupel, den genuinen Antisemitismus mit Hass auf Israel in einen Topf zu werfen. Diese Zeit ist vorbei. Die beiden Begriffe sind ununterscheidbar geworden. Was zur Folge hat, dass man den Palästinensern als Opfer der israelischen Unrechtspolitik abverlangt, ihre Besatzer nicht zu hassen, widrigenfalls man sie als Antisemiten diffamiert. Liebet eure Feinde: die Formel der Christen, die sie nie erfüllen müssen, wird zur Alltagspflicht der Schwachen.

Der Vorwurf der Palästinenser an deutsche Medien, sie seien die propagandistische Stimme Netanjahus, wird von BILD in gewieftem PH (Palästinenserhass) zurückgewiesen:

„Deutsche Journalisten seien oft Sprecher des israelischen Verteidigungsministeriums. Behauptungen, die an antisemitische Verschwörungstheorien erinnern. Das Motto: Israel kontrolliert weltweit Politiker und Medien.“ (BILD.de)

Es erinnert sie an Böses, also ist es Böses. Tiefer kann das Niveau des Kampfes gegen Antisemitismus nicht mehr sinken. Dazu die allseitig verwendbaren Verschwörungstheorien, die immer nur für die Anderen gelten, nie aber für die Seite der (Selbst-)Gerechten.

Würde man in BILD-Manier darüber berichten, dass Springer-Chef Döpfner auf einer Liste mit Namen auftaucht, die korrupte Verbrechen Netanjahus bezeugen könnten oder nicht, wäre er schon im Vorfeld zum wirklichen Vertrauten des Verdächtigten aufgestiegen – dem alles zuzutrauen wäre.

Beruht, horribile dictu, die bedingungslose Loyalität des Springer-Verlags etwa auf einem fluchwürdigen Deal: Kampf den Palästinensern in Deutschland gegen ökonomische Vorteile im heiligen Land? (Vorsicht: Verschwörungstheorie gegen Verschwörungstheorie)

Ulf Poschardts letztes Gefecht gegen politische Moral erweist sich mit dem Philosemitismus des Springerverlags als völlig inkompatibel. Schließlich gehört der Kampf gegen Antisemitismus zu den höchsten polit-moralischen Pflichten aller Deutschen.

„Die Moral ist zur eigentlichen Währung des Selbstwertes geworden. Während China soziales Wohlverhalten autokratisch erzwingt, machen die Deutschen es freiwillig. Der neue, giftige Moralismus will Leben und Werk zurechthobeln zu Bauklötzen eines linearen, aufgeräumten, (un)heimlich totalitären Weltbildes. Greifen Verbot und Tugendstolz virtuos ineinander, wird der Lebensraum für Andersdenkende schnell enger.“ (WELT.de)

Hätte Poschardt im Dritten Reich gelebt, hätte er den bewundernswerten moralischen Widerstand der Weißen Rose als totalitär verurteilen müssen. Nicht das Totalitäre war totalitär, sondern der Widerstand gegen ihn. Wenn Moral totalitär sein soll, ist verbrecherische Anarchie die Übermoral frei flottierender Ästheten und Neoliberalen.

Während Politiker und Antisemitismus-Beauftragte nicht genug warnen und Gesetzesverschärfungen fordern können, winken Journalisten ab. Sinnlos dieser Anspruch, Antisemitismus bekämpfen oder reduzieren zu wollen. Antisemitismus ist unveränderlich wie ein Weltkulturerbe:

„Alle Versuche, Judenfeindlichkeit mit den Mitteln der Psychologie, der Soziologie, der Ökonomie und der Geschichtswissenschaft zu erklären, sind gescheitert. Vor allem aber hilft es nicht, Auschwitz zum Urmeter für Antisemitismus zu nehmen. Konrad Adenauer, der damalige Bundeskanzler, hielt eine Ansprache, in der er versicherte, „der Nationalsozialismus“ habe „im deutschen Volk keine Wurzel“. Der Satz wird bis heute paraphrasiert. Die aktuelle Fassung lautet. „Für Antisemitismus gibt es in Deutschland keinen Platz.“ Eine Hoffnung, die sich nie erfüllen wird.“ (WELT.de)

Broder hätte auch formulieren können: Antisemitismus gehört zur DNA der Deutschen. Man könnte ihn hier nur ausrotten, wenn man die Deutschen ausrottet. Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr an eine friedliche deutsch-jüdische Symbiose glaubt. Broders Worte stempeln alle Versuche der Politiker, den Antisemitismus in Deutschland zu bearbeiten, zur Illusion oder zur Heuchelei der Verantwortlichen.

In der Vergeblichkeit jeden Kampfes gegen den Antisemitismus herrscht Gleichklang zwischen Juden und Christen. Der Jude Henryk M. Broder wird vom Christen Matthias Drobinski vorbehaltlos unterstützt, ob er das weiß oder nicht:

„Nichts, was in Auschwitz gesagt wird, kann fassen, was dort geschah. Wie kam es, dass Menschen aus einem zivilisierten Land ihre Intelligenz, ihren Sachverstand, ihre Verwaltungserfahrung nutzten, um Millionen Juden zu ermorden? Dass Ärzte empfindungslos Menschenversuche unternahmen und Wächter in aller Seelenruhe Häftlinge erschlugen? Seit vor bald 75 Jahren die Rote Armee dem Morden ein Ende machte, hat es ungezählte Forschungen dazu gegeben, aber keine Erklärung.“ (Sueddeutsche.de)

Was nicht verstanden oder erklärt werden kann, kann nicht verhindert werden. Für Drobinski ist Antisemitismus ein Numinosum, ein Gegenstück zum göttlichen Wunder, eine teuflische Unbegreiflichkeit jenseits unseres armseligen Verstandes.

Und dennoch, mit Merkels Reise nach Auschwitz verknüpft Drobinski gewisse Hoffnungen:

„Doch trotz, vielleicht sogar gerade wegen dieses Risikos ist Angela Merkels Auschwitz-Besuch so wichtig und notwendig. Die Kanzlerin setzt damit ein Zeichen, sie liefert sich der Begegnung mit dem Unfassbaren aus. Sie gibt so der Erinnerung an den Judenmord eine Form und einen Raum; sie verschafft den Geschichten der Opfer und der letzten Überlebenden Gehör. Sie verortet die Identität des demokratischen Deutschlands in Auschwitz.“

Unerklärlich bleibt, wie ein kultiviertes Volk wie die Deutschen zu schrecklichen Tätern werden konnte. Denn es gibt keine konkreten Ursachen. Das Verhängnis kam über die Deutschen wie die Einflüsterungen des Teufels über Judas. Die Deutschen müssen unschuldig sein, Hitler war nur ein Beauftragter des Herrn, um die vom Glauben gefallen deutschen Juden zu bestrafen. Spurensuche in der Vergangenheit – sinnlos. Das Christentum ist unschuldig. Merkel ist die richtige Schamanin, um den Kampf gegen das satanische Geheimnis aufzunehmen.

Was aber sagte sie in Auschwitz?

„Sie „empfinde tiefe Scham“, sagte Merkel am Freitag bei ihrem ersten Besuch im ehemaligen deutschen Konzentrationslager Auschwitz. Angesichts der Verbrechen, die die Grenzen alles Fassbaren überschritten, müsse man vor Entsetzen eigentlich verstummen, sagte Merkel. Dennoch dürfe das Schweigen nicht die einzige Antwort sein. Deutschland sei verpflichtet, die Erinnerung an die damaligen Verbrechen wachzuhalten. Die Verpflichtung zur Erinnerung an die NS-Verbrechen sei „nicht verhandelbar“ und gehöre „untrennbar zu unserem Land“. „Uns dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist fester Teil unserer nationalen Identität, unseres Selbstverständnisses als aufgeklärte und freiheitliche Gesellschaft, als Demokratie und Rechtsstaat“, sagte sie. Die Kanzlerin betonte, es sei wichtig, deutlich zu benennen, dass damals Deutsche die Täter gewesen seien. Dies sei man auch den Opfern schuldig. Die Verantwortung für die damaligen Taten gehöre untrennbar zu Deutschland, sie sei fester Teil der nationalen Identität.“ (WELT.de)

Auch sie sagt, die Verbrechen überschritten die Grenzen alles Fassbaren. Was nicht fassbar ist, ist weder versteh- noch rekonstruierbar. Mit menschlichem Verstand ist nichts zu machen. Was bleibt? Verständnislos die eigene Schuld bekennen. Was bedeutet, sie könnte sich jederzeit wiederholen. Streng genommen, sind auch die Täter Opfer: Opfer eines unerklärlichen mystisch-satanischen Verhängnisses.

Merkel und Drobinski geben sich als bekennende Gegenaufklärer zu erkennen, die dem rationalen Alles-Verstehen-Wollen der Aufklärer die rote Karte zeigen: Stopp, im Bereich des Numinosen endet das freche Verstehenwollen des irdischen Verstandes. Zieh die Schuhe aus, du betrittst heiligen Boden: das Reich Gottes und seines Widersachers.

Da die Deutschen Christen sein wollen ohne geringsten Schimmer von ihrem Glauben, wissen sie nichts vom Antisemitismus des Neuen Testaments. Eine Zeit lang empörten sie sich gegen den Versuch, ihre Israelkritik als Antisemitismus denunzieren zu lassen. Der Druck der Regierung und fast aller Medien machten sie mürbe. Inzwischen gehört es zur Staatsraison, die völkerrechtswidrige Politik gegen die Palästinenser als Liebesakt der Starken gegen die Schwachen zu betrachten. Israel besetzte das Land seiner Feinde, um ihnen die Segnungen der Zivilisation zu bringen. Das zu glauben sei Kern der bedingungslosen Loyalität gegen Israel.

Bedingungslose Loyalität ist nicht loyal, sondern blind. Jede Loyalität setzt das Einhalten humaner Grundregeln voraus. Deutschland muss alles tun, um mit Israel freundschaftlich verbunden zu sein. Was nicht bedeutet, alles abzusegnen. Verbrechen gegen die UN-Charta müssen Verbrechen genannt werden. Je solidarischer die Freundschaft, je kritischer muss sie sein.

Freundschaft ist der striktesten Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe verpflichtet. Wie können BILD und WELT sich erkühnen, die besten Freunde Israels zu sein, wenn sie ihnen weder Selbstkritik noch Wahrheitsliebe zutrauen? Ihr Philosemitismus will höchste moralische Verlässlichkeit sein – auf dem Boden einer dandyhaften Amoral in der verhängnisvollen ästhetischen Tradition der Romantik. Der Kunst ist alles erlaubt, Journalismus aber ist Kunst. Also darf Journalismus alles niederreißen, was der Obhut der Moral untersteht. Was aber bedarf nicht dieser Obhut?

In Amerika gehen die Uhren anders. Dort herrschen die Biblizisten mit Hilfe ihres charismatischen Führers Trump. Solange die Ultraorthodoxen in Israel das ganze biblische Land in ihre Macht bringen wollten, waren die christlichen Fundamentalisten auf ihrer Seite. Doch langsam beginnt die Solidarität zu bröckeln. Denn die Christen hoffen auf Bekehrung der Juden zu ihrem Glauben, damit der Messias ins Heilige Land einziehen kann. Je länger die Juden sich dieser Konversion entziehen, je unwahrscheinlicher wird der Herr erscheinen, je ungeduldiger werden die Apokalyptiker.

Langsam werden sie nervös, aggressiv. Der antisemitische Pegel beim frommen Volk und seinem charismatischen Führer steigt. Was der TAGESSPIEGEL zu berichten hat, lässt einem den Atem stocken. Doch keinerlei Regung im deutschen Blätterwald:

„Immer ungenierter verbreitet Trump antisemitische Klischees. Weil er „der beste Freund Israels“ ist, glaubt er, sich das leisten zu können. Man hört und staunt: Der US-Präsident wirft einigen amerikanischen Juden vor, Israel nicht ausreichend intensiv zu lieben. Da schwingt das Klischee einer doppelten Loyalität mit. Doch es wurde noch derber. „Viele von Ihnen sind im Immobiliengeschäft tätig, ich kenne Sie sehr gut, Sie sind brutale Mörder“, sagte Trump. „Sie sind überhaupt keine netten Menschen. Aber Sie müssen mich wählen, weil Sie gar keine andere Wahl haben.“ Da schwingen weitere antisemitische Topoi mit: Juden sind reich, brutal, nicht nett, und sie richten ihre politische Präferenz nach finanziellen Kriterien aus. All das sagt nicht ein Neonazi, sondern Donald Trump, der mächtigste Mann der Welt. Prompt hagelte es Kritik von jüdischen Organisationen. Doch eine großgesellschaftliche Debatte über Antisemitismus blieb aus. Ein Grund dafür könnte der weit verbreitete Irrtum sein, dass jemand, der nachdrücklich den extremen Nationalismus einer Groß-Israel-Idee unterstützt, kein Antisemit sein kann. Auf diesem Irrglauben beruht auch die Hoffnung vieler europäischer Rechtspopulisten – von Viktor Orban über Geert Wilders bis Matteo Salvini –, sich über ein demonstratives Israel-Bekenntnis vom Vorwurf des Antisemitismus reinzuwaschen.“ (TAGESSPIEGEL.de)  

Was auch immer in Amerika geschieht, die Deutschen plagiieren es, als hätten sie es selbst erfunden. Die Gefahr steht vor der Tür, dass der lang verborgene und verdrängte Antisemitismus in Amerika aufbricht – und von den Deutschen übernommen wird. Dann wehe uns allen.

Wie steht es um den Kampf gegen Antisemitismus? Es gibt ihn nicht.

Für diesen Fall gilt Freuds Satz: Alles, was nicht bearbeitet ist, steht unter Wiederholungszwang.

 

Fortsetzung folgt.