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Von vorne XCIV

Von vorne XCIV,

„Der Weihnachtsbaum für das Bundeskanzleramt kommt in diesem Jahr aus Schleswig-Holstein: Die 14 Meter hohe Nordmanntanne ist ein Geschenk des schleswig-holsteinischen Waldbesitzerverbandes.“

Für das Heilige darf ein stattlicher Baum gefällt, muss Natur beschädigt werden. Natur hat zu weichen, wo Übernatur die Szene betritt.

Die Kanzlerin bekundet ihre Vorfreude auf Jesus, den Erlöser der Christen. Diplomatisch angemessen in emotionslosem Ton und mit grauem Gesicht: der Neid frommer Muslime und Juden, die ihre eigenen Erlöser erwarten, darf nicht erregt werden. In Berlin steht ein Erlöser für alle, obgleich jeder seine Konkurrenten am Ende liquidieren wird. Über Kleinigkeiten geht Merkel souverän hinweg.

Christen glauben an das Heilige, das als Kind in einer Krippe zwischen Ochs und Esel Fleisch geworden ist. Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Ein schreiendes Kind in Windeln soll die Welt erlösen?

Es kann nur Zufall sein, dass die gegenwärtige Christenheit von einem unscheinbaren Kind aus Schweden so enthusiasmiert – wie angewidert ist. Das Heilige hat keine Gestalt noch Schöne und muss die Menschheit spalten, sonst gäb‘s keine Sieger und Verlierer, keine Auserwählten und Verdammten.

Wer vom Sieg seines Glaubens am Ende der Geschichte überzeugt ist, für den muss die ganze Welt Bankrott anmelden. Rettung? Ausgeschlossen. Der Sieg des Himmels ist der Untergang der Erde. Darauf ein Neues.

In der kleinen, von der Öffentlichkeit nicht beachteten, Szenerie mit der getöteten Tanne hat Merkel ihre wahre Umweltpolitik aufblitzen lassen, versteckt hinter einem Heilsritual: vergesst eure Blasphemie, die zum Untergang verurteilte Natur noch retten zu wollen. Das Irdische muss zugrunde gehen, damit das Überirdische

Einzug halten kann.

„Horch, es ruft: in der Wüste bahnet den Weg des HERRN, macht auf dem Gefilde eine ebene Bahn unserm Gott. Alle Täler sollen erhöht werden und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was ungleich ist, soll eben, und was höckericht ist, soll schlicht werden; denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat es geredet.“

Alte Natur muss zerstört, danach radikal erneuert werden: zum Nutzen der Menschen, zum Lob des Schöpfers. Das ist der Beweis für die Wahrheit der Prophetie, von der sich jeder Mensch überzeugen kann, wenn er die Natur zertrümmert vor sich sieht. Soll niemand sagen, es habe keine Beweise für das Heilige gegeben.

Merkel ist nicht ihrem Volk verpflichtet, sondern ihrem Erlöser. Sie richtet sich nicht nach vielen, nach demokratischen Mehrheiten, sondern allein nach Seiner Weisung:

„Seit meiner Jugend wusste ich also, dass ich durch mein Bekenntnis zu Gott und zu seiner Kirche einem inneren Kompass folgte, der vom Staat und der Mehrheit der Bevölkerung als Richtungsweiser abgelehnt wurde. Durch meinen Glauben habe ich in dieser Zeit gelernt, dass es richtig sein kann, anders zu denken und anders zu entscheiden, als es andere Menschen tun.“ (life.de)

Die Außenseiterin, die im atheistischen Osten wider den Strom Karriere machen und im religiösen Westen mit dem Strom mächtigste Frau der Welt werden konnte, bewundert ihre Lichtfigur ob ihrer Klarheit und Einfachheit:

Klare, eindeutige und einfache Worte hat er zu den Menschen gesprochen. Worte, die sich auf das Wesentliche beschränkt haben und das Wesentliche im Blick hatten.“

Was nicht bedeutet, das Einfache des Erlösers könne das Einfache der verdorbenen Welt sein:

„Ich nehme diese Konfliktfähigkeit ernst, weil es in unseren politischen Fragestellungen keine einfachen, schnellen Lösungen auf die komplexen Fragestellungen gibt. Und ich werde immer etwas stutzig, wenn gerade Christen in den schwierigsten Fragen zu allzu schnellen Ergebnissen kommen wollen, um für sich im Reinen zu sein. Als Christ muss man manchmal auch widerstreitende Meinungen aushalten können. Und deshalb sind der christliche Glaube und seine ausgebildete Kultur der Kompass, zu dem ich das Vertrauen habe, dass er die massgebliche Richtung anzeigt.“

Das Klare ist nicht klar, das Einfache nicht einfach. Hat der Menschensohn dem hyperkomplexen Bösen nicht die einfache Botschaft gegenübergestellt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben? Das Einfache des Überirdischen kann nie das Einfache des Irdischen sein: das ist das Geheimnis des Glaubens. Fasse, wer es fassen kann.

Hat Jesus widerstreitende Meinungen ausgehalten? Im Gegenteil. Alle, die anders dachten als er und ihm die Gefolgschaft verweigerten, zerschmetterte er:

„Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. Der gute Mensch bringt aus seinem guten Schatze Gutes hervor, der böse Mensch aus seinem bösen Schatze Böses. Denn nach deinen Worten wirst du gerecht gesprochen werden, und nach deinen Worten wirst du verurteilt werden.“

Nicht Taten entscheiden, sondern Bekenntnisse und hohle Worte. Taten sind belanglos. Der Mensch soll zwar nicht sündigen, sondern gute Werke vollbringen. Aber er ist unfähig, nicht zu sündigen. Nur unverdiente Gnade macht schlechte Taten zu Werken des Glaubens. Sündiget allemal, wenn ihr nur glaubt.

Das Gute ist nicht gut, weil es gut ist, sondern weil es von Oben nach Belieben als gut ausgewiesen werden kann. Was dem menschlichen Verstand als gut erscheint, wird von Gott etikettiert, gedreht und gewendet, wie ER‘s gerade will. Kriterien des Menschlichen und Vernünftigen gelten nicht für das Übermenschliche und Übervernünftige göttlicher Allmacht.

Aus der Umkehr aller Vernunft in heilige Vernunftfeindschaft folgerte ein Kirchenvater zu Recht: Tugenden der Heiden sind goldene Laster. Hier beginnt der Kampf erwählter und erleuchteter Amoralisten gegen vernunftgeleitete Moral der Heiden. Sokrates brillierte mit Tugenden, mit denen er in die Hölle fahren wird.

Solche Sätze sind heute unverständlich, obgleich sie die Kultur der Gegenwart bestimmen. Man kann sie nur verstehen, wenn man ihren Hintergrund bedenkt: den Kampf des Urchristentums gegen das dominierende Heidentum in Form des Hellenismus, der jahrhundertelang das Heilige Land geprägt hat und von der Oberschicht der Kinder Israels fast durchweg aufgenommen, von den Frommen an der Basis jedoch in heiligem Zorn bekämpft wurde.

Das Zusammengehörigkeitsgefühl des jüdischen Volkes ist erstaunlich. Dennoch darf man nicht von „dem Juden“ sprechen, als sei das Volk stets einhelligen Glaubens gewesen. Davon kann keine Rede sein. Das Alte Testament ist von der ersten bis zur letzten Seite erfüllt von Glaubensstreitigkeiten zwischen denen, die am rechten Glauben festhielten und denen, die vom Glauben abfielen. Stets kämpften die Rechtgläubigen gegen ihre Oberklassen, die – wie alle Oberklassen besiegter Völker bis zum heutigen Tage – sich der Kultur der Eroberer unterwarfen.

Kein Zufall, dass die Epoche des Hellenismus lange Zeit von deutschen Althistorikern vernachlässigt wurde. Denn in jener Epoche entstand das Urchristentum als Ergebnis heftiger Auseinandersetzungen zwischen orthodoxen und assimilierten Juden, Juden und Heiden. Das Urchristentum war eine innerjüdische Kritik der Juden an sich selbst mit Hilfe hellenischen Denkens und eine Kritik an den Heiden mit Hilfe des überlieferten Offenbarungsglaubens.

Warum blieb die hellenische Epoche so lange unterbelichtet? Um die Mär vom himmlisch diktierten Evangelium nicht zu trüben und den weltlichen Charakter des Dreierkampfes zwischen Juden, Heiden und dem neuen christlichen (Ketzer-) Glauben nicht zu entlarven. Die überirdische Einzigartigkeit der Frohen Botschaft durfte nicht beschädigt und als Produkt schnöder Streitigkeiten deklassiert werden. Schon gar nicht beeinflusst vom Denken gottloser Heiden.

Das Weltreich Alexanders, eines Makedoniers, der von den Grundgedanken der demokratischen Polis Athens überzeugt war, bestand vor allem a) aus dem kosmopolitischen Geist der sokratischen Schulen und b) einem imperialen globalen Kapitalismus. Kosmopolitismus war die Erweiterung der demokratischen Polis in die ganze Welt.

Die Polis Athens war durch innere soziale Kämpfe geschwächt, die athenischen Philosophenschulen, vor allem die Stoiker, empfanden sich zunehmend als Bürger der Welt – mit schwankenden Beziehungen zur Politik. Die einen engagierten sich als Verteidiger sozialer Gerechtigkeit, die anderen hatten den Glauben an eine gerechte Welt verloren und bevorzugten ihre persönliche Unabhängigkeit (ataraxie). Wie auch immer die Welt sei, als Weise waren sie überzeugt, in ihrer individuellen Utopie keine Kompromisse machen zu müssen. Der Weise war der einzige Mensch, der vollkommen sein konnte.

Alexander war ein Schüler des Aristoteles, der aber kein Freund kosmopolitischer Gleichheit war, sondern die Menschheit streng in Griechen und Barbaren trennte. Trotz seines berühmten Lehrers war der blutjunge König davon beseelt, der Welt die Botschaft von der Gleichheit der Menschen zu bringen. Zuerst durch militärische Befreiung der Völker von despotischen Regimes, dann durch Erziehung zum freien humanen Wesen in Gymnasien vieler neuer Pflanzstädte.

Man könnte sagen, Alexander war ein Vorläufer Amerikas, das seine überlegene Kultur der ganzen Welt vermitteln will, wenn nicht anders durch missionarische Kriege.

Das war die eine – humane – Seite des Hellenismus, die andere war der erste globale Kapitalismus der Weltgeschichte. Kapitalismus entsteht geradezu unvermeidlich in einem Volk selbstbewusster, kreativ begabter, abenteuerlustiger, auf die Welt neugieriger, ökonomisch unabhängiger Individuen, die den agonalen Wettbewerb ihrer Kultur auf die Wirtschaft übertragen, um sich allen überlegen zu fühlen.

Kapitalismus ist der unvermeidliche Zwillingsbruder jeder freien Gesellschaft, der, verstärkt durch die Erfolge seiner beginnenden Überlegenheit, die „Gleichheitsfessel“ der Polis abstreift und sich als Herr der Kosmopolis begreift.

In Athen gab es ständige Auseinandersetzungen zwischen dem emanzipierten Volk, das Gleichheit der Rechte für alle einforderte, und dem Machtwillen der alten Aristokratie, die den Plebs verachtete und dessen neue Macht wieder zurückdrängen wollte. Der Altadel berief sich auf das Naturrecht der Starken, mit dem Argument, dass in der Natur immer die Starken dominierten. (Vorläufer des Darwinismus).

Das erwachende Volk berief sich auf ein anderes Naturrecht, das Naturrecht der Schwachen, mit der Begründung, die Natur sei ein harmonischer Kosmos. Solon, Kleisthenes und Perikles waren die überragenden Gestalter der athenischen Demokratie, in der die Vorrechte des Adels reduziert und die Macht des Volkes gestärkt wurde. In dieser klassisch-austarierten Ära der Demokratie wurde Athen zur führenden Stadt in Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Wirtschaft.

Doch in einer unruhigen und instabilen Umwelt kann eine kleine Stadt, und sei sie noch so quirlig und selbstbewusst, ihre mühsam erarbeitete Balance kaum erhalten. Der ewige Bruderkampf mit dem totalitären Sparta und anderen griechischen Städten, die ständig auf der Lauer liegenden Altadligen, die jede Schwäche der Polis benutzten, um ihre alte Stärke zurückzuerobern, die alles andere als kosmopolitische Außenpolitik Athens verschärfte die Spaltungen und trugen zur kontinuierlichen Schwächung der Demokratie bei. Die benachbarten Makedonen nutzten die Schwäche, um Athen, dessen Kultur sie bewunderten, politisch zu unterwerfen. Das war der Ausgangspunkt Alexanders.

Der Wegfall einer austarierten Polis wirkte auf die gezähmten kapitalistischen Kräfte wie ein Stimulans, sich ungehemmt in der Welt auszudehnen. Die Hellenen, als neue Oberschicht der eroberten Länder, wurden zur ersten globalen Wirtschaftselite der Weltgeschichte. Mangels Zähmung durch politische Gegenkräfte war ihrer Expansion keine Grenze gesetzt.

Der Geist kosmopolitischer Gleichheit wurde immer mehr zu einer Ideologie, die mit der Realität immer weniger gemeinsam hatte. Geist und Realität, Moral und Wirklichkeit fielen auseinander. Was damals zum ersten Mal in globalem Ausmaß geschah, wurde – auch später im christlichen Mittelalter – zum Urmuster der abendländischen Geschichte: die Reichen wurden immer reicher, die Armen immer ärmer.

Besonders im Heiligen Land erhob sich der Widerstand gegen die erdrückende Dominanz der Heiden. Es war der Widerstand der orthodoxen Frommen a) gegen ihre eigenen Oberschichten, die mit den Fremden gemeinsame Geschäfte machten und sich in jeder Hinsicht hellenisierten, und b) gegen die ungläubigen Heiden selbst.

Das archaische Judentum hatte einst keine Probleme mit irdischem Wohlstand und Reichwerden. Die Patriarchen starben alt und lebenssatt. Ihnen fehlte nichts zum irdischen Glück. Ein Jenseits gab es noch nicht. Die Priester waren noch keine führende Kaste.

Erst viel später wurde der Welt eine Überwelt hinzugefügt, das rettende Ventil einer trostlosen Welt, die ihr Heil nur noch von einem Jenseits erhoffen konnte. Der ursprüngliche Nationalgott neben vielen anderen Nationalgöttern (Henotheismus) wuchs zum unermesslichen Gott aller Götter (Monotheismus). Ihre politische Ohnmacht kompensierten die Kinder Israels durch den Glauben an ihre Auserwähltheit, der sie aller Welt überlegen machte.

Das änderte sich, je mehr die Israeliten von fremden Großmächten überrollt, entmündigt und in Gefangenschaft geführt wurden. Je ohnmächtiger das Volk, je mächtiger wurden die Priester, die das Volk ihren heiligen Geboten unterwarf. Die Herrschaft der Könige wurde von der Herrschaft der Priester abgelöst. Größer konnte eine Kluft nicht sein als die zwischen der realen Ohnmacht der Juden und ihrer selbstdefinierten Unvergleichlichkeit.

Aus Opposition gegen die Macht des Hellenismus entwickelten die Juden eine antagonistische Moral.

Der Kosmopolitismus der Hellenen gründete in einer autonomen Vernunftmoral. Der freie Mensch war fähig, dank seiner Vernunft eine Moral zu entwickeln, die sich von allen Götterbestimmungen befreit hatte. Mit dieser Moral war der Mensch befähigt, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Gab es Ereignisse, die mächtiger waren als seine Vernunft, mussten sie als tragische Ereignisse hingenommen und erduldet werden.

Der Weltmoral der Heiden stellten die Juden eine Gottesmoral entgegen, die viele Bestimmungen der Welt auf den Kopf stellte. Im Urchristentum erreichte diese Umkehrung aller Werte ihren Höhepunkt. Der Weisheit der Welt wurde die Torheit Gottes, der selbstbestimmten Vernunft der Gehorsam unter Gottes Gebote, dem Prinzip: immer der Erste zu sein, das Gegenprinzip: die Letzten werden die Ersten sein, gegenübergestellt. Stolz wich der Demut, irdischer Erfolg wurde ersetzt von überirdischem Erfolg oder ewiger Seligkeit. Die Überwelt wurde zur eigentlichen Welt, die alles Tun und Treiben hienieden zur Makulatur erklärte.

Das Urchristentum wurde zum absoluten Antagonismus der heidnischen Vernunft. Das hellenistische Judentum hatte noch Übergangsprinzipien entwickelt zwischen der Weltweisheit und seinen religiösen Werten. Nehmen wir Armut und Reichtum.

In den Sprüchen, einem hellenisierten Buch des Alten Testaments, gab es noch verschiedene Wertungen des Reichtums und der Armut. Der Reiche konnte von Gott wegen seines Fleißes und seiner Tüchtigkeit noch mit Wohlstand belohnt, der Arme wegen seiner Faulheit gerügt und mit Elend bestraft werden. Oder umgekehrt: der Arme wurde gepriesen wegen seiner Bescheidenheit, der Reiche attackiert wegen seiner unersättlichen Gier.

Die Ambivalenz lag an der Gespaltenheit des jüdischen Volkes in eine reiche assimilierte Oberschicht und eine arme agrarische Landbevölkerung. Der Verfasser der Sprüche wollte anfänglich noch beiden Schichten gerecht werden. Doch je mehr die Oberschicht ins Heidnische rückte, je mehr wurden die Sünden des Reichtums gerügt und die Tugenden der Armut gerühmt.

Das Urchristentum rebellierte gegen die Zweideutigkeit der jüdischen Moral und begann, eine absolute Gegenmoral zu entwickeln. Selig wurden die Armen, verflucht die Reichen. Da die ersten Christen allesamt Juden waren, muss das Christentum als innerjüdische Revolution betrachtet werden. Das Judentum war in einer Krise und versuchte einen radikalen Neuanfang.

Der hellenistische Kapitalismus – so die Meinung der verzweifelten jüdischen Unterschicht – war nicht mit Mitteln der Welt zu besiegen. Er konnte nur mit kontradiktorischen Mitteln überwältigt werden. Das bedeutete Umkehr aller Werte – mit dem Endsieg nicht auf dieser Welt, sondern in der Überwelt. Es war eine Kapitulation der Vorstellung, irdische Mächte könnten mit irdischen Gegenmächten besiegt werden.

Und doch: die Kooperation mit dem Himmel war das Geheimnis des Siegeszuges der abendländischen Christenheit über die Welt. Das Machtzentrum in jener Welt wurde zum Stimulus der Eroberung dieser Welt.

Erklärung: da es eine jenseitige Überwelt nicht gibt, wurde der Glaube an sie zur unkalkulierbaren Gefahr für die Feinde in dieser Welt. Die Umkehr aller Werte erlebte eine erneute Umkehr und entpuppte sich als Volte rückwärts in dieselben irdischen Werte, denen sie sich einst durch Sprung in die Überwelt entzogen hatte.

Eine riskante Strategie, sich durch Wehrlosigkeit der Macht der Welt auszuliefern. Wären die Feinde so mörderisch gewesen, wie die Frommen sie einschätzten, wären sie dem Erdboden gleich gemacht worden. Doch das Kalkül ging auf. Durch Leid zum Sieg, durch Scheintod zur Auferstehung. Die Letzten wurden tatsächlich die Ersten, weil die Starken die Zähigkeit der Schwachen unterschätzten.

Indem es den Schwachen gelang, die Masse der Verelendeten durch solidarische Nächstenliebe auf ihre Seite zu kriegen, wendete sich allmählich das Blättchen. Immer mehr Angehörige der Oberschichten – besonders die Frauen unter ihnen, die die Hoffnung hatten, die Männerherrschaft für immer loszuwerden – wurden Mitglieder der Gemeinden.

Als die Gemeinden so stark waren, dass sie nach der weltlichen Macht greifen konnten, verwandelten sich ihre Gegenwerte einer Überwelt zurück in jene Werte der Welt, die sie einst bekämpft hatten. Die Kirche, Gegenstück zum Staat, wurde zum Überstaat aller Staaten, der die Welt beherrschte.

Selbstbewusste Moral, bei den Juden noch Teil eines gleichberechtigten Deals zwischen Mensch und Gott, verfiel bei den Urchristen zu nichts. Oder zur sündigen Illusion, mit guten Werken die Gunst Gottes erkaufen zu können. Der letzte Rest moralischer Autonomie wurde zur schlimmsten Sünde, der Sünde wider den Heiligen Geist, die sich einbildete, mit sündigen Werken die Gnade Gottes erkaufen zu können.

Modern gesprochen: das Judentum erschien den Urchristen als zu kapitalistisch. Hier gründet die christliche Verfemung der Juden als Kapitalisten, eine der giftigsten Wurzeln des Antisemitismus, die zur „Gründungsausstattung“ des Neuen Testaments wider das Alte Testament wurden.

Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich. Niemand kann zween Herren dienen: ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.

Das klingt radikaler als es ist, denn die konträre Botschaft war ebenso gültig: Wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, dem wird noch genommen, was er hat. Das war Kapitalismus in Reinform.

Die Deutschen sind schizophren. Einerseits hektische Kapitalisten, rühmen sie sich andererseits der schärfsten Kapitalismuskritik der Welt:

Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach und nimm das Kreuz auf dich.“

In der Welt treiben sie es nach Gesetzen der Welt, der sie sich andererseits durch Armutsanbetung überlegen fühlen. In der Gemeinde der Frommen prahlen sie mit Seligpreisung der Armut, und fühlen sich aber fundamentalistischen „Idealisten und Schwärmern“ um Welten überlegen, weil sie die Gesetze der Welt kennen.

Die Entwicklung der Moral vom hellenistischen Judentum bis zum Christentum radikalisiert sich zwar, kann sich seiner Widersprüchlichkeit aber nicht ganz entledigen. Das ist auch gar nicht gewollt. Denn ein Repertoire widersprüchlicher Strategien und Wertungen verleiht den Playern eine unberechenbare Freiheit, immer das zu tun, was der Gegner nicht erwartet.

Die CDU hat keinerlei berechenbare und zuverlässige Prinzipien, weil sie auf beiden Schultern Wasser trägt. Weltliche Konkurrenten werden mit weltlichem Leistungswillen überrumpelt – aber auch mit überlegener Armutsethik, wenn es um Kritik am weltlichen Kapitalismus geht. Welches Spiel auch immer gespielt wird: die listigen Frommen haben immer die Nase vorn.

„Und der Herr lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte. Denn die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts. Und ich sage euch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit, wenn er zu Ende geht, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten.“

Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit ihr in die ewigen Hütten aufgenommen werdet: das ist eine unverhohlene Aufforderung zur Bestechung der Welt mit weltlich-korrupten Mitteln. Die Frommen sollen sich ein Vorbild nehmen an den Kindern der Welt. Das ist die Umkehr der autonomen Devise, andere durch vorbildliches Tun zu überzeugen, nicht durch Anpassung an die Unmoral der anderen.

Besonders linke Deutsche haben sich angewöhnt, Christenpolitikern die Verletzung ihrer eigenen Normen vorzuwerfen: Euer Kapitalismus ist eine einzige Widerlegung eurer Mammonkritik im Neuen Testament. Tut endlich, was ihr predigt, dann sehen wir weiter.

Das ist Unfug, der eine völlige Ignoranz über das Christentum verrät. Christliche Ethik ist antinomisch. Christen sind Ebenbilder ihres Gottes und können tun, was ihnen beliebt. Der Geist segnet alles ab, und wenn es noch so amoralisch scheint. Eben dies ist der Grund, warum sich heute amoralistische Kritiker der Moral sich als unschlagbare Übermoralisten vorkommen.

Dem Frommen wird vom Himmel eine unerfüllbare Moral vorgeschrieben. Man könnte von einer paradoxen Intervention sprechen. Der Himmel fordert: Befolgt meine Gebote – aber glaubt ja nicht, dass ihr sie befolgen könnt. Hat er sich vor dem Herrn endlich in den Staub geworfen, gibt’s Entwarnung von Oben: ihr bleibt immer Sünder, auch im Status der Erleuchtung. Doch euch werden, im Gegensatz zu den Ungläubigen, alle Sünden vergeben. Das ist der entscheidende Unterschied.

Sollte ein Christ im Hochmut seines Glaubens der Meinung sein, das Paradies auf Erden errichten zu können, dem wird in aller Deutlichkeit gesagt:

„Das Wissen um das selbstsüchtige Herz des Menschen verbietet gerade dem Christen den kritiklos-utopischen Glauben an die Möglichkeit einer vollkommenen Endgesellschaft oder an ein Reich der Freiheit, dessen Ziel die Gleichheit aller Individuen und das Ende der Herrschaft über Menschen sei.“ (Martin Hengel, Eigentum und Reichtum in der frühen Kirche)

Hegels Satz: „Alles, was wirklich ist, ist vernünftig, alles ist vernünftig, was wirklich ist“, ist ein christlicher Satz. Da Gott der Regisseur der Geschichte ist, kann nichts geschehen ohne sein Placet. Alles, was ist, und wenn es die größte Schweinerei ist, ist von Gott gewollt, heilig und gut. Ende der Predigt.

Das sind auch Merkels christliche Politgrundsätze. Misst man sie an der unmissverständlichen Moral eines Sokrates, hat Merkel keine Grundsätze – außer dem einen: alles ist erlaubt.

Denkt man an die Freiheit gottgleicher Antinomie, kann die Kanzlerin nie fehl gehen: wer sich vom Gehorsam des Herrn leiten lässt, liegt immer richtig. Und wenn die Welt unterginge.

Von Merkel ist keine ökologische Rettung der Menschheit zu erwarten. Endgültige Lösungen der Weltprobleme anzustreben, ist für sie Hochmut vor Gott.  

Fast alle führenden Politiker im Bundestag halten sich für gläubig und werden sich hüten, Gott ins Handwerk zu pfuschen. Je früher die jugendlichen Demonstranten diese fromme Passivität der Politeliten zur Kenntnis nehmen, je illusionsloser können sie ihren Protest konkretisieren.

 

Fortsetzung folgt.