Kategorien
Tagesmail

Von vorne XCII

Von vorne XCII,

was geschieht? Nichts. Politik steht stille. Die Natur macht sich aus dem Staub.

Was geschieht in der Welt? Nichts. Politik steht stille. Überall Patt und Blockaden. Völker rebellieren: ihr Kampf gegen die Mächtigen endet im Stillstand. Wahlen bringen keine Ergebnisse. Niemand kann sich durchsetzen.

Spanien, England, Israel, Amerika, Hongkong, Italien, Deutschland: Alternativen sind ausgestorben, Rivalen verklumpen, der Kompromiss des Nichts regiert, eine Wahl folgt der anderen, der Laden läuft von selbst – in die falsche Richtung.

Staaten wurden zu Maschinen, die sich selbst regulieren. Steuerleute überflüssig.

Eliten haben fertig. Völker schauen nicht mehr tatenlos zu, wissen aber noch nicht, was sie der machtgestützten Gelähmtheit entgegensetzen können. Patt zwischen empörtem Ins-Denken-Kommen und gedankenloser Machtroutine.

Was geschieht in Deutschland? Nichts. Gelähmte Groko seit Adam und Eva. Ohne Trossanonymität läuft nix. Querdenker überstehen nicht die Ortsvereine.

Auf der Sünderbank sitzt die mächtigste Frau der Welt, schaut apathisch zu und denkt nicht daran, den Bettel hinzuwerfen. Wie eine Sphinx will sie enträtselt werden – die nichts mehr zu enträtseln hat. Sie ist wie sie scheint: leer gepumpt folgt sie der Hand ihres VATERS.

Sie denkt nur noch an die Geschichtsbücher – die es mangels Geschichte nicht mehr geben wird – und an superlativische Nekrologe. Schon jetzt halten die Schreiber ihre Hand über sie: über Scheinlebendige nur Gutes.    

Politik bewegt nichts mehr, sie frisst sich gegenseitig auf. Würden die Medien sich entschließen, den Leerlauf der Politik zu ignorieren, blieben ihre Zeitungen

weiß. Vom Restmüll des wildbewegten Stillstandes ernähren sich die Beobachterkohorten der Politik.

Politiker wollen sich nicht mehr mit sich selbst beschäftigen. Ach, täten sie es nur, so erführen sie, dass ihr Selbst spätestens mit ihrem Parteieintritt abhanden kam. Ohne Selbst wissen sie nicht, was sie denken, was sie wollen und was sie müssten, um das Schlimmste zu vermeiden – weshalb sie es verleugnen. Die Willigen führt das Schicksal, die Unwilligen zwingt es: sie aber wollen sanft gezwungen werden.

In der entscheidenden Epoche der Menschheitsgeschichte versagt die Politik. Jahrtausendelang entmündigte Untertanen bemerken es mit Erschrecken, versuchen zu retten, was noch zu retten ist. Von Tag zu Tag werden sie radikaler. Noch sind sie nicht radikal genug.

Nicht mehr lange und die Mächtigen der Welt werden sich entscheiden müssen: abtreten und den Wünschen der Menschen eine Chance geben – oder den Planeten in die Luft sprengen?

Von einem Tag zum andern wird das wichtigste Thema der Zeit degradiert zum Modethema, nichtige Machtspiele eines Parteitages werden endlos beschrieben. Der Inzestcharakter der Parteiversammlungen ekelt sich an sich selbst.

Ungerührt werden Artikel veröffentlicht, als sei alles auf problemlose Unendlichkeit gestellt. Der Fortschritt gibt sich nicht geschlagen, über alles Untergangsgerede wird er triumphieren.

Die junge Generation sorgt sich um ihre ungetrübte Zukunft? Noch 20 Jahre habe die Menschheit Zeit zur Umkehr?

Ach was, die Menschen werden immer älter. Ihr Lebenszeitpotential haben sie noch gar nicht ausgeschöpft. Die Zufriedenheit eines erfüllten Daseins steht allen noch bevor. Das Leben kann so unendlich sein.

„Forschern ist erstmals gelungen, das Altern zu besiegen und die Lebensuhr zurückzudrehen – bei Fischen und Mäusen. Jetzt sind wir dran. Genau an diesem Punkt vollzieht sich die Wende. In dem Maß, in dem die Kräfte schwinden, nimmt die Zufriedenheit zu. Während wir all das, was wir immer für so kostbar hielten, verlieren – Vitalität, Fitness, begehrenswertes Aussehen –, gewinnen wir, wonach wir immer gestrebt haben: Glück. Die Psychologen erklären dieses Paradox damit, dass die Alten, deren Zeit begrenzt ist, sich weniger Sorgen um die Zukunft machen müssen.“ (SPIEGEL.de)

Solange wir mit Vitalität, Fitness und Aussehen glücklich werden wollten, waren wir auf dem Holzweg. Es ist wie im Evangelium: was wir nicht wollen, das werden wir erhalten. Die Ältesten werden die Ersten sein. Je begrenzter unsere Zukunft, je saft- und kraftloser wir werden, je mehr unsere Habgier schwindet, je mehr Verantwortung wir abwerfen: desto glücklicher werden wir. Nicht auf der Höhe unserer Kraft und Potenz, unserer Kreativität und Genialität, unseres unbändigen Willens zum Fortschritt, sondern in der Gerontologie werden wir das Maximum unseres Lebens erfahren.

Entlastet. Entlastet von aller endlosen Zukunft, aller Nötigung, zum Mars zu fliegen, jeden Wettbewerb zu gewinnen, von aller Pflicht, sich kümmern zu müssen: wenn wir als Uralte wieder zu Kindern regredieren, nicht mehr reich werden und arbeiten, nicht mehr Kinder zeugen und erziehen müssen: dann schlägt die Glock unbeschwerter Unmündigkeit.

Dann dürfen wir uns endgültig lösen: vom ganzen Elend des Werden- und Seinmüssens. Endlich dürfen wir Gott einen guten Mann sein lassen.

Die Phantasien vom befreiten Älterwerden entlarven die ganze Last und Hohlheit der gegenwärtigen Erfolgs- und Aufstiegszwänge. Wenn ihr im Alter nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr euer Leben verpfuschen. Das Alter bringt es an den Tag: kein Kapitalismus, kein Fortschritt, kein Sex- und Schönheitskult mehr. 

Kein einziges Wort in dem Altersartikel über die drohende Klimagefahr. Er klingt wie eine Heilsbotschaft: werdet nur steinalt und ihr werdet alles überleben. Diese medizinische Verheißung will auch eine objektive Wissenschaft sein. Verglichen mit ihr, ist Hahnemanns Homöopathie in wissenschaftlicher Solidität nicht zu überbieten.

Aristoteles soll sich geirrt haben: Natur verschleißt nicht, wenn individuelles Leben dem Tode entgegengeht:

„Anders als Maschinen verfügt der Körper allerdings über die Fähigkeit, sich selbst zu reparieren. Überall im Gewebe sind Wartungstrupps am Werk, deren Job es ist, jeden Schaden zu beheben. Ein Mensch ist, im biologischen Sinne, nicht mehr derselbe, der er gestern war. Denn Tag für Tag sterben Myriaden altersmüder Haut-, Leber- oder Blutzellen ab und werden durch frische ersetzt. Der Körper ist ein sich unermüdlich erneuerndes Gebilde.“

Für keinen Griechen war Natur eine Maschine. Die wenigen Maschinchen, die es gab, waren Spielzeuge für Erwachsene. Griechen lehnten den Gedanken ab, mit Maschinen die Natur zu beherrschen und auszusaugen.

Natur im Ganzen war unendlich, das Leben ihrer Geschöpfe endlich. Individuelles Dasein war begrenzt. Die Kunst des Lebens bestand in der Akzeptanz des Endlichen. Wisse, dass Du endlich bist, ergo kaufe die Zeit aus.

Jeder Augenblick, den du nicht voll erlebst im Zusammenhang deiner Mitmenschen, ist ein verlorener Augenblick. Ja, es gab Unsterblichkeitsvorstellungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von außen eingedrungen waren. Ja, Platons Philosophie lehrte die Unsterblichkeit der Seele: doch das blieben Ausnahmen.

Die griechischen Tempel öffneten sich nicht – wie die späteren christlichen Kathedralen – nach Oben. Sondern betonten die begrenzte Horizontale. Hier und Jetzt musste gelebt werden. Nicht in einer illusionären Endlosigkeit.

Die soll jetzt wieder zurückkommen – im Gewand der Biologie:

„Biologisch betrachtet, scheint ein ewiges Leben also keineswegs ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Nur hat die Natur normalerweise keinen Grund dafür, unsterbliche Geschöpfe hervorzubringen. In der Natur gibt es durchaus Beispiele dafür, dass ein Leben fast ohne Altern möglich ist. Westliche Grannenkiefern etwa sind extrem langsam wachsende Bäume, in deren Gewebe die Forscher bisher vergebens nach Anzeichen des Alterns gesucht haben. Die Zellen von 20- und von 4000-jährigen Bäumen unterscheiden sich nicht erkennbar voneinander.“

Launenhaft wie die Natur ist, wollte sie keine unendlichen Geschöpfe: sie wollte Selektion der Stärksten. Ohne Tode wäre das unmöglich gewesen. Böse Natur, du hast uns nicht das Optimum gegönnt: die göttergleiche Unsterblichkeit. Du wolltest uns gegeneinander aufhetzen, den Kampf ums Dasein amüsiert von oben betrachten. Natur, das war keine Meisterleistung, das müssen wir Dir übel nehmen.

Nimm dir ein Beispiel an deinem Rivalen, dem allmächtigen Schöpfergott, der dir die Ehre eines ewigen Daseins entwendete. Der hat zwar auch den Tod verfügt, aber nur auf Erden. Am Ende aller Geschichte werden sie alle auferstehen, die toten Massen der Geschichte und werden in die Ewigkeit einfahren. Okay, die einen zur ewigen Seligkeit, die anderen zur ewigen Verdammnis. Doch das haben sie sich redlich verdient.

Das also, lieben Schwestern und Brüder, ist Wissenschaft. Biologen und Mediziner entdecken diffuse Prozesse, die sie nicht einordnen können – und schon ist die Grenze der Naturwissenschaft überschritten: wir sind im esoterischen Reich der Religion gelandet.

Im Falle der Homöopathie machte man den Liebhabern der Globuli den Vorwurf esoterischen Schamanentums. In vieler Hinsicht zu Recht. Und doch müssen wir genauer hinschauen.

Christian Stöcker ist einer der Wenigen unter den Kommentatoren, die sich leidenschaftlich für die Rettung der Natur einsetzen. Neulich unterlag er dem Irrtum, vor dem Einklang mit der Natur zu warnen:

„Viele haben aus dem Blick verloren, wieviel Leid und vorzeitige Todesfälle Pharmazeutika und „die Schulmedizin“ heutzutage verhindern. Man lästert gern ein bisschen über sie und preist stattdessen „natürlichere“ Heilmethoden. Diese Haltung ist besonders bei Leuten populär, die dem Irrglauben vom „Einklang mit der Natur“ anhängen. Wer „im Einklang mit der Natur leben“ möchte, stirbt früher.“(SPIEGEL.de)

Einklang mit der Natur muss oberstes Ziel aller ökologischen Wirtschaft sein. Denn die Alternative wäre: Zwietracht mit der Natur. So aber heißt die Leitdevise aller Herrschaftsgelüste über die Natur: Macht euch die Erde untertan.

„Furcht und Schrecken vor euch sei über alle Tiere auf Erden und über alle Vögel unter dem Himmel, über alles, was auf dem Erdboden kriecht, und über alle Fische im Meer; in eure Hände seien sie gegeben. Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich’s euch alles gegeben. Seid fruchtbar und mehrt euch und regt euch auf Erden, daß euer viel darauf werden.“

Kinder werden nicht gezeugt, damit sie ein volles Leben führen dürfen. Sondern damit die endlos wachsende Menschheit unumschränkt über die Erde regieren kann. Masse ist Macht. Die Anzahl der Kinder dient dem Ansehen der Eltern und der Festigung ihrer Macht. Kinder sind Mittel zum Zweck.

In der Homöopathiedebatte haben sich Reste der deutschen Allergie gegen das „kalte naturwissenschaftliche Denken“ des Westens, besonders der Briten, erhalten. Goethes emotionale Farbenlehre gegen die mathematische Physik Newtons. Hegels Naturphilosophie, die sich um bewiesene Fakten nicht kümmerte. Da kannte er nichts: wenn Fakten und Ideen zusammenstießen, umso schlimmer für – die Fakten. Mit unwiderlegbarer Logik bewies er, dass ein gewisser Himmelskörper nicht existieren konnte, den ein zeitgenössischer dänischer Astronom bereits bewiesen hatte. Das kann man Allmacht des Denkens nennen, das sich um schnöde Empirie nicht kümmert.

Dies war der Grund, warum die deutsche Naturwissenschaft der westlichen hinterherhinkte. Erst nach Hegels Tod begann die Aufholjagd der Deutschen, die um die Jahrhundertwende zur Weltspitze aufschlossen.

Das Motto Samuel Hahnemanns, des Begründers der Homöopathie, war klassisch griechisch: Gleiches durch Gleiches. Natur kann nur durch Natur geheilt werden. Was aber ist Natur? Gibt es denn in der Natur etwas, das nicht Natur sein kann?

Für Anhänger der „Mutter Natur“ eine absurde Frage. Für Gläubige eines allmächtigen Schöpfers ist bereits der Begriff Mutter Natur eine Provokation, ein esoterischer Mystizismus.

Seltsam, umgekehrt spricht niemand von Gottesmystizismus, von Esoterik einer Erlöserreligion – so unterschwellig-religiös ist das abendländische Deutschland gestimmt.

In der Erlöserreligion ist der Mensch ein naturüberlegenes Geistwesen. Ist er noch gläubig, gleicht er dem Gott. Alles, was er tut, ist der Natur überlegen, denn es partizipiert an der Allmacht Gottes. Dazu gehört auch die Wissenschaft. Menschengemachte Medizin ist allen Naturprodukten – wie den Globuli – um Welten überlegen.

Solange Natur in Deutschland die Natur der „Kräuterhexen“ war, war sie gut, weshalb die Kräuterhexen – als Gläubige der Natur – zu Mägden des Teufels gestempelt wurden. Das war ihr Todesurteil, vollstreckt vom Klerus und seinen Knechten.

Bei den Kräuterheilerinnen waltete noch ein alter Überrest des germanischen Naturglaubens, der sich der klerikalen Verfluchung der Natur standhaft widersetzt hatte.

Lässt man das religiöse Brimborium beiseite, muss man bekennen: in der Natur gibt’s nichts – außer Natur.

„Auch das Unnatürlichste ist Natur. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht.“ (Goethe, Die Natur) (Zeno.org)

Was uns unnatürlich erscheint, weil es unseren idyllischen Vorstellungen widerspricht: auch das ist Natur. Sollte die Menschheit sich ausrotten, wird auch das ein Gewaltakt des Naturwesens gewesen sein. In der Natur gibt es nichts Unnatürliches.

Im Gottesglauben nicht anders. Wenn auf Erden Böses geschieht, war es Gott. Mit Luther kann man unterscheiden zwischen dem offenbaren und dem verborgenen Gott, dem deus revelatus und deus absconditus: gleichwohl bleibt es Gott, der Gutes und Böses vollbringt.

Während der religiöse Mensch aber der moralischen Bewertung Gottes unterliegt, ist der natürliche Mensch auf sein eigenes moralisches Denken verwiesen. Natur verleiht ihm die Freiheit einer autonomen Ethik.

Er kann auswählen, nach welchen Regeln er sich und seinesgleichen behandeln will. Will er jene Tiere übertreffen, die sich um des Überlebens willen töten? Indem er alles abschießt, was sich nicht rechtzeitig aus dem Staube macht? Das Töten in der Natur dient allein dem Stillen des Hungers, es ist kein beliebiges Abschlachten – wie die Schlachtorgien der Menschen, die alles abknallen, was ihnen vor die Flinte kommt.

Rationales Töten ist nicht das alleinige Merkmal der Natur: es gibt wunderbare und endlose Beispiele für Symbiose, wo sich Tiere und Pflanzen gegenseitig nützen.

Der Mensch darf wählen, er muss wählen, was für ihn richtig sein soll. Er muss sich nicht instinktiv gegenseitig auffressen. Er kann sich gegenseitig unterstützen. Ob solche Wahlfreiheit auch bei anderen Tieren vorkommt, kann nur vermutet werden. Schimpansen und Bonobos sind die gleiche Tierart – mit konträren Lebensstilen. Die einen aggressiv und einer tödlichen Hetzjagd nicht abgeneigt, die anderen in problemlösender Zärtlichkeit einander zugetan.

Natur ist alles. Aber nicht alle Natur ist dem Menschen förderlich. Alles muss er prüfen und das Beste behalten.

Für die deutschen Zeitgenossen Goethes waren Naturwissenschaft und Kapitalismus der Engländer Sünden wider die Natur. Naturwissenschaft war sinnenfeindliches Rechnen und Experimentieren, Kapitalismus eine menschen- und naturfeindliche Profitgier.

Marx brachte das Kunststück zuwege, Wirtschaft als Naturgesetz zu betrachten, das einerseits als moralfreies Geschehen, andererseits im Reich der Freiheit die „Amoral“ seines Werdens abstreifen und sich restlos humanisieren konnte.

Die Natur selbst war es, die fähig war, ihre amoralische Determiniertheit zu erkennen, sich im Verlauf der Geschichte wie durch ein Wunder zu häuten und sich in ein moralisches Reich zu verwandeln. Der Mensch blieb nur Mitläufer der Natur, die sich in ihre Angelegenheiten von niemandem reinreden ließ.

Noch heute herrscht unter Deutschen eine unterschwellige Abneigung gegen Mathematik – nicht umsonst rühmen sich viele Deutschen ihrer mathematischen Ignoranz als Zeichen ihrer überlegenen Herzensbildung – und gegen die kapitalistische Ausbeutung. Dies in vollem, wenn auch untergründigem Konflikt mit ihrer eigenen Wirtschaftskraft und wissenschaftlichen Fortschrittsanbetung.

Und doch lagen die Deutschen nicht ganz falsch mit ihrer emotionalen Kritik an den abstrakten Wissenschaften – die dank ihrer überheblichen Absonderung von aller moralischen Philosophie unfähig war, selbstkritisch zu bedenken, dass sie der Welt nicht nur Gutes brachte. Heute erst wachen die Naturwissenschaftler auf und gehen für ihre alarmierenden Erkenntnisse auf die Straße, um die Menschen wachzurütteln.

Die Arbeitsteilung der „Hochkulturen“ hatte auch zur Denkteilung geführt und dies nicht zu ihrem Vorteil. Die Naturwissenschaftler fühlten sich dem Geschwätz der Philosophen überlegen, ohne zu bemerken, dass sie die ethische Verantwortung ihres Tuns nicht gründlich durchdachten. Das rächt sich heute.

Wie begründet H. J. Schellnhuber, führender Klimaforscher, die bisherige Unfähigkeit der Gesellschaft – also auch der Wissenschaft –, die Gefahren rational wahrzunehmen und mit sinnvollen Maßnahmen zu reagieren?

„Es scheitert natürlich nicht eine bestimmte Generation, weil sie böser, dümmer oder oberflächlicher ist als eine andere. Meine Generation hat versagt aufgrund bestimmter historischer Umstände, insbesondere aufgrund des materialistischen Wahns, der alle erfasst hat. Insofern versagt die Menschheit als Ganzes… weil sie nun mal so ist, wie sie ist und die überdeutlichen Warnsignale der planetarischen Krise nicht erkennen will.“ (WELT.de)

Wissenschaft und Gesellschaft versagen, weil sie sind, wie sie sind: das ist das Gegenteil einer Erklärung, das ist intellektueller Bankrott. Hier hat es ein Naturwissenschaftler nicht nötig, sich mit den zahlreichen Versuchen, die Krise naturphilosophisch, religiös, moralisch und wissenschaftstheoretisch zu verstehen, gründlich auseinanderzusetzen.

Der Instinkt der Deutschen gegen menschen- und naturfeindliche Wissenschaft besaß einen rationalen Kern, dessen Berechtigung sich heute in gigantischem Maße zeigt. Doch Instinkte genügen nicht, sie müssen ihre Berechtigung durch bewusstes Reflektieren nachweisen. Bis zum heutigen Tage gelang das nicht.

In einer Volksherrschaft, in der jeder mitzudenken und mitzuentscheiden hat, muss die Arbeits- und Denkteilung aller Fakultäten aufgehoben werden. Alle Mitglieder der Demokratie sind nichts als Demokraten, und ergo für alles verantwortlich. Über schicksalsentscheidende Vorgänge hat jeder sich seine Meinung zu bilden. Niemand kann sich hinter der Ignoranz seines Nichtexpertentums verstecken. Hyperkomplexe Vorgänge sind Ammenmärchen der Eingebildeten, die das Volk zum Narren halten wollen.

Man muss kein abgeschlossenes Studium vorweisen, um sich in alle Angelegenheiten seiner Nation, ja der Welt, einzumischen. Was öffentliche Urteilsfähigkeit angeht, ist jeder Demokrat ein huomo universale. Alles andere ist moralische Feigheit – und Haltungslosigkeit.

Gabor Steingart bemängelt die nachlassende Qualität seiner journalistischen Kollegen: Neugier werde bei ihnen durch Haltung ersetzt. Dieses Urteil zeugt von der moralischen Torheit vieler Journalisten, die sich mit keiner Sache, auch nicht der guten gemein machen dürfen. Neugier wird gegen aufrechte Haltung ausgespielt. Wenn ein Berufsstand noch immer glaubt, sich aus allem raushalten zu können, hat er von Demokratie nichts verstanden.

Hahnemann hatte sein Prinzip „Gleiches durch Gleiches“ bei dem Urvater der europäischen Medizin, bei Hippokrates gefunden:

„Gegenstand der Forschung ist der ganze Mensch nach seinem körperlichen und seelischen Befinden und in einem Zusammenhang mit der Natur. Ehrfurcht vor der Natur kennzeichnet den wahren Arzt. Von der Natur muss er lernen, sich von ihr die Wege zur Heilung zeigen lassen. „Die Natur findet selbst ihren Weg ohne Überlegung; die Natur ist wohl unterrichtet, von selbst, ohne es gelernt zu haben, tut sie das Notwendige.“ (Nestle)

Der Streit zwischen naturwissenschaftlicher Medizin und Homöopathen ist auch ein untergründiger Streit um die ganzheitliche Behandlung des Menschen. In der Medizin ist der psychosomatische Anteil der Behandlung begraben worden. Patienten sind nichts als defekte Körpermaschinen. Das Seelische wurde erniedrigt zum Geschwätz von Quacksalbern, weshalb der psychische Placeboeffekt nur widerwillig zur Kenntnis genommen wird.

Dabei haben Blind– und Doppelblindversuche oft genug bewiesen, dass auch bei „objektiven Methoden“ der Heilerfolg auf dem Phänomen der selbsterfüllenden Heilung beruhte.

Im Streit stehen zwei Haltungen gegenüber, die beide teilweise Recht, teilweise Unrecht haben. Die Medizin hat Recht, weil sie eminente Heilerfolge vorzuweisen hat. Sie hat Unrecht, insofern sie dem psychosomatischen Denken und dem allgegenwärtigen Placeboeffekt nicht über den Weg traut.

Heilpraktiker haben Recht, wenn sie Natur walten lassen und den Menschen in seiner Ganzheit wahrnehmen. Sie haben Unrecht, wenn sie Medizin als unnatürlich deklarieren und ablehnen.

Der Streit müsste keiner sein, wenn beide Schulen die Grundlagen aller Heilkunst philosophisch würdigen könnten.

Auch die medizinische Methode erzielt nicht bei allen Menschen den gleichen objektiven Effekt. Was dem einen nützt, lässt den andern unberührt. Der Mensch ist keine körperliche Maschine, wie Descartes deklarierte. Er ist eine psycho-somatische Einheit und will als solche akzeptiert und behandelt werden.

Auch mündige Patienten haben sich um diese philosophischen Grundsatzstreitigkeiten zu kümmern. Gegen alle Heilberufe spricht, dass sie ihre Patienten als selbstdenkende Subjekte nicht ernst nehmen.

Der Streit der Grünen um die Homöopathie zeigt, dass auch engagierte Ökologen mehr Wert legen auf „esoterischen Gottesmystizismus“ in Form der „Schöpfungsbewahrung“ als um Aufklärung aller wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen. Überflüssig zu erwähnen, dass die deutschen Schulen auch in diesen Fragen versagen.

Schlussfolgerung aus dem Streit ist die Devise: Wer heilt, hat Recht. Jeder Mensch muss sich sein persönliches Urteil bilden, welche subjektiven und objektiven Methoden ihm am meisten nützen.

Welche Methode er auch wählen wird: es wird Natur sein, die sich heilt. Sie kennt sich selbst am besten.

 

Fortsetzung folgt.