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Von vorne XC

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Faschismus, Totalitarismus: Begriffe, die heute nichts mehr sagen – obgleich wir auf faschistische und totalitäre Zustände in verschärftem Tempo zusteuern.

Alles, was nicht demokratisch ist, ist totalitär oder faschistisch. Das Nichtdemokratische ist das Gemeinsame der beiden Begriffe. Was sie unterscheidet, ist die Intensität, das Ausmaß ihrer Demokratieverachtung. Totalitarismus ist die bislang gefährlichste und erbarmungsloseste Form der Feindschaft gegen den selbstbestimmten Menschen.

Diktatoren und Despoten unterscheiden sich von Faschisten und Totalitären dadurch, dass sie über keine staatliche Botschaft verfügen, mit denen sie ihre unterdrückten Völker beglücken wollen. Sie wüten, schikanieren und peinigen ihre Untertanen aus keinem andern Grund als: weil sie es können. Weil sie die Macht dazu haben. Weil es ihren deformierten Seelen Spaß macht, Unschuldige und Schwache zappeln und leiden zu sehen.

Sie sind vernarrt in ihre unvergleichliche Großartigkeit, mit der sie sich vom Rest der Menschheit unterscheiden.

Faschisten – um uns zumeist auf diesen Begriff zu beschränken – fühlen sich noch grandioser. Sie fühlen sich gottähnlich. Ihre Gewaltmaßnahmen erfanden sie nicht um der Gewalt willen, sondern um ihr Volk zum moralischsten und glücklichsten der Welt zu machen.

Faschismus ist Beglückungszwang mit totalen Mitteln, weshalb man ihn auch totalitär nennen kann.

Platon war nicht der erste, der ein totalitäres System erfand. Er war aber der erste auf europäischem Boden, der mit ausgefeilten Begründungen einen philosophischen Urfaschismus entwarf.

Trotz großer Bemühungen bei Dionysius I., einem Tyrannen im süditalienischen Syrakus, hatte er keinerlei Erfolge als politischer Praktiker. Die „Politeia“, sein idealer Staat, blieb Theorie. Ebenso seine „Gesetze“, der „zweitbeste Staat“, den er als

Vermächtnis in einem umfangreichen Alterswerk hinterließ.

Ist es nicht verwunderlich, staatliche Beglückungsversuche als das Verhängnisvollste darzustellen, das man sich im Leben vorstellen kann? Gilt doch Glück bei vielen Menschen als das begehrenswerteste Gut auf Erden!

Platon, adliger Herkunft, war begeisterter Schüler des aus einfachen Verhältnissen stammenden Sokrates und verherrlichte ihn in fast allen seinen Schriften. Da Sokrates nichts schrieb (Jesus wird ihn später zum Vorbild nehmen), blieb es Platon vorbehalten, sein Leben und Sterben in brillanten Dialogen und Schriften der Nachwelt zu überliefern.

Besonders die „Apologie“, die Verteidigungsrede des Sokrates vor dem athenischen Volksgericht, wurde zu einem der wirkungsvollsten Bücher der Weltgeschichte. Die Anklagepunkte gegen ihn waren: er habe die Jugend verführt und neue Götter einführen wollen.

Sokrates, kein Freund der Demut, wies beide Vorwürfe zurück und beharrte auf seiner Unschuld. Nicht nur, dass er der Polis keinen Schaden zugefügt habe, er habe ihr so viel genützt, dass er eher eine öffentliche Ehrung verdient hätte. Solange er durch bessere Argumente nicht widerlegt werde, bleibe er bei seiner Meinung.

Um die Demokratie zu stärken, habe er durch Gespräche auf dem Marktplatz und durch persönliches Vorbild die Menschen besser und glücklicher machen wollen. Glück sei nichts anderes als Einsicht, Einsicht in das Wesen des Guten, die zur Moral führt.

Hochtrabende Theorien über Natur und das Sein hatte er nicht zu bieten. Sondern nur schlichte und einfache Wahrheiten:

„Die Philosophie sagt immer dasselbe, nämlich die Wahrheit, dass es nur ein wirkliches Unglück gibt, schlecht oder ungerecht zu handeln, und nur ein wirkliches Glück (eudaimonia), gut und gerecht zu handeln. Diese Überzeugung ist nicht nur eine Erkenntnis, sondern auch eine Kraft: der gute Mensch ist stärker als der böse. Dieser kann jenem keinen wirklichen Schaden zufügen. Eine unerschütterliche seelische Haltung ist ein höherer Wert als alle äußeren Güter, das Leben eingeschlossen. Das ist für Sokrates unbedingte Wahrheit und bedingungslose Norm, die völlig unabhängig davon gültig sind, ob es ein jenseitiges Leben gibt oder nicht: eine Frage, die Sokrates offen lässt. Seine Ethik blieb von jeder Art des Unsterblichkeitsglaubens unabhängig und rein diesseitig orientiert. Seine Ethik beruht auf den beiden Pfeilern der Autonomie und Autarkie. Es geht nicht um göttliche Gebote, die befolgt werden müssen, sondern um selbstbestimmte, aus dem Wesen und der Erfahrung des Menschen folgenden Moral. Wer ihr folgt, der ist ein wahrhaft starker, freier und tapferer Mensch, der nichts fürchtet, selbst den Tod nicht. Er bleibt unabhängig von allen Dingen und steht fest und sicher im Sturm des Lebens. Was er zu sagen hatte, das lebte er auch in Übereinstimmung von Denken und Handeln, in Bedürfnislosigkeit ohne asketische Eitelkeit, in Rechtschaffenheit ohne Pathos, in Gelassenheit vor dem Tod.“ (Nestle)

Weil Sokrates von einem demokratischen Gericht zum Tode verurteilt wurde, vertreten viele deutsche Gelehrte den Standpunkt, Sokrates sei Gegner der Demokratie gewesen. Das Gegenteil ist richtig, Sokrates wollte die Kompetenz der Demokraten überprüfen, um die Demokratie zu stärken.

Sein Gerichtsverfahren zeigt tatsächlich eine Grenzsituation. Da die Mehrheit des Volksgerichts gegen ihn entschied: hätte er die Mehrheitsmeinung nicht als blanke Wahrheit akzeptieren müssen?

Mehrheiten entscheiden nur über die pragmatische Wahrheit politischer Entscheidungen, nicht über Wahrheiten an sich. Ob eins und eins zwei sind, kann von keiner Mehrheit widerlegt werden.

Pragmatische Wahrheiten leben vom unterschwelligen Versprechen, sich über viele Kompromisse hinweg einer utopischen Wahrheit zu nähern. Mehrheitswahrheiten intakter Demokratien sind Lernkurven, die ihre Kompromisse als Stufenleiter zur Utopie benutzen. Tun sie es nicht, zerfallen die Demokratien in hasserfüllte Klassenkämpfe.

Sokrates‘ Verteidigung bestand aus zwei Hauptelementen: a) dem Glauben an die Vernünftigkeit besserer Argumente, den man keiner feigen Mitläuferei opfern darf, und b) dem, was man heute zivilen Ungehorsam nennt.

Wenn‘s ans Eingemachte geht, gibt es keine Kompromisse mehr. Dann heißt es unbedingten Widerstand gegen Unwahrheit und Inhumanität zu leisten – wie ihn auch die Mitglieder der Weißen Rose in vorbildlicher Weise zeigten. Wer gewalttätige Revolten ablehnt, dem bleibt nur der geistige Widerstand in zivilem Ungehorsam.

Sokrates hatte das Pech, Vertretern eines Volkes gegenüberzustehen, das gerade der tyrannischen „Herrschaft der Dreißig“ entkommen war und alles Ungewöhnliche misstrauisch als Demokratiefeindschaft empfand.

Der sokratische Glaube an eine moralische Vernunft hat im Grunde alle Aufklärungsbewegungen in Europa angestoßen. Ihm gelang es, die Theokratie der Kirchen zurückzudrängen – aber nicht zu überwinden. Momentan fährt der abendländische Zug mit Dampf zurück in eine moralverachtende, religiöse Machtpolitik.

Das jesuanische Drama ist die Transformation der sokratischen Tragödie in den Rahmen einer Erlösungsreligion, die alle Ursprungsmomente ins Gegenteil verkehrt. Jesus verwandelt den unterlegenen Sokrates in eine nur unterlegen scheinende, tatsächlich aber unüberwindbare himmlische Figur, die ihren Tod nur zum Schein erleidet, um per Wunder eines Gottes zum Pantokrator, zum Herrn des Universums, aufzusteigen.

Jesu Bitte „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, verrät noch den sokratischen Ursprungsgeist. Die Quelle der Tugend ist für Sokrates das Wissen des Guten. Wer das Gute weiß, kann nicht umhin, selbst gut zu werden.

Wissen ist weder Quizwissen, noch oberflächliche Information, sondern selbsterworbene tiefe Einsicht. Zwischen vernünftiger Einsicht und praktischem Willen gibt es keine Feindschaft. Was der Mensch „weiß“, das will und tut er auch. Noch ist der Mensch eine weitgehende Einheit aus Vernunft, Gefühl und Wille.

Bei Platon wird diese Einheit zerrissen, das Gute muss durch Gewalt erzwungen werden. Platon verlor – vermutlich durch das Schockerlebnis des zum Tode verurteilten Lehrers – den Glauben an die Kraft der Einsicht. Zum Guten muss bei ihm der Mensch durch einen faschistischen Beglückungsstaat gezwungen werden.

Aristoteles missfiel der philosophische Zwangsstaat seines Lehrers, weshalb er eine Mischform der Verfassungen bevorzugte, die Vorwegnahme der Gewaltenteilung Montesquieus, ohne die heute keine Demokratie denkbar wäre.

Jesus bittet für seine Häscher. Hätten sie gewusst, was sie taten, wären sie zur bösen Tat nicht fähig gewesen. Jesus scheint noch an den wissenden Menschen zu glauben.

Im Gegensatz zu Paulus, der die Erbsünde ernst nimmt und den Menschen zum moralischen Krüppel erklärt: was ich will, das tue ich nicht, was ich nicht will, das tue ich. Vernünftige Einsicht ist vor Gott eine Torheit. Der Wille hat keine Verbindung zum Denken.

Das war das komplette Gegenteil zu Sokrates. Die Einheit des Menschen wird durch Sünde zerrüttet, die sich durch Einsicht nicht wiederherstellen lässt. Sie ist total verdorben und kann nur durch Gottes Gnade erlöst werden.

Auch Jesus muss vor ein Gericht, aber nicht des Volkes, sondern der Hohenpriester.

„Die Hohenpriester aber und die Ältesten und der ganze Rat suchten falsch Zeugnis gegen Jesus, auf daß sie ihn töteten, und fanden keins. Und wiewohl viel falsche Zeugen herzutraten, fanden sie doch keins. Zuletzt traten herzu zwei falsche Zeugen und sprachen: Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in drei Tagen ihn bauen. Und der Hohepriester stand auf und sprach zu ihm: Antwortest du nichts zu dem, was diese wider dich zeugen? Aber Jesus schwieg still. Und der Hohepriester antwortete und sprach zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, daß du uns sagest, ob du seist Christus, der Sohn Gottes. Jesus sprach zu ihm: Du sagst es. Doch ich sage euch: Von nun an wird’s geschehen, daß ihr werdet sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels.“

Im Gegensatz zum athenischen Volk, das, wenn es auch daneben lag, an die Möglichkeit der Wahrheitsfindung glaubte, wollten die Hohenpriester Jesus absichtlich mit falschen Beschuldigen an den Pranger stellen. Endlich waren zwei Zeugen bereit, etwas gegen den „Messias“ auszusagen: In drei Tagen – habe er behauptet – könne er den zerstörten Tempel wieder aufbauen. Logen die Zeugen? War Jesus tatsächlich ein aufgeblasener Angeber?

Hier kommt der entscheidende Unterschied zu Sokrates zutage, der in einer fulminanten Verteidigungsrede das Volk ernst nahm und es mit Argumenten zu überzeugen versuchte. Jesus glaubt weder an Volk noch an Argumente: er schwieg. Sein Schweigen (jede Ähnlichkeit mit lebenden Pastorentöchtern wäre zufällig) war eine dröhnende Vernichtung des Menschen und seiner moralischen Vernunft, eine Misstrauenserklärung an jeden demokratischen Diskurs. Seine Ankläger bestraft er mit schweigender Missbilligung, die von Dialog und Streitgespräch nichts wissen will. Weiß er doch: wenn er mit dem Tode bestraft wird, wird sein himmlischer Vater ihn wiederauferstehen und im Triumph gen Himmel fahren lassen.

Tatsächlich logen die Zeugen nicht. Als Jesus die Wechsler und Händler mit Stricken aus dem Tempel jagte, hatte er als Zeichen seiner göttlichen Überlegenheit verkündet:

„Brechet diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn wieder erstehen lassen.“

Später wird man erkennen, dass er mit „Tempel“ seine eigene Person gemeint hatte, die drei Tage nach dem Tod auferstehen wird.

Sokrates nahm mit seinem zivilen Ungehorsam das Risiko des Todes auf sich – ohne Unterstützung einer jenseitigen Allmacht. Der Held einer Allmachtsreligion konnte sich dieses Risiko nicht leisten. Er musste zu einem Sohn Gottes stilisiert werden, der von Anfang an wusste, dass Tod und Höllenfahrt nur Scheinerlebnisse sein werden – die mit Unterstützung seines himmlischen Vaters in kosmischer Erhöhung enden würden.

Warum sind Faschismen böser als Diktaturen? Weil Alleinherrscher ohne Beglückungsideologie sich keinen Deut um Gut und Böse scheren. Was immer sie tun, tun sie nur, weil es ihnen Spaß macht. Wie es ihren Untertanen ergeht, ist ihnen gleichgültig. Da ihre Gewalttätigkeit sich nur selbst gefallen will, ist sie „ehrlich“ und leicht zu durchschauen. Gut ist sie, wenn sie gut, böse, wenn sie böse sein will. Vorhang zu und alle Fragen beantwortet.

Faschisten hingegen wollen nicht böse, sondern gut sein. Ja, sie wollen die besten Menschheitsbeglücker auf Erden sein. Sollten nicht alle Menschen versuchen, die Moralischsten und Besten zu sein? Wäre nicht schlecht, wenn die Menschheit den Wettbewerb im Wirtschaftlichen, Technischen, im Mehr-haben und Mächtiger werden endlich ad acta legte – und den Wettbewerb in Menschlichkeit beginnen würde.

Das Teuflische aber ist, dass es kein absichtlich Teuflisches gibt. Dass Gutseinwollen unabsichtlich zum Bösen greifen muss, wenn es nicht an Vernunft und Einsichtsfähigkeit des Menschen glaubt. In angemaßter Gottähnlichkeit sollen die Menschen zu ihrem Glück mit Gewalt gezwungen werden.

Das Gute, das zum Bösen greift, um als Böses zu glauben, das vollendete Gute zu sein: dieses Gut-Böse ist die Antinomie eines allmächtigen Gottes. Wer andere zu ihrem Glück zwingen will, handelt in bester Absicht – will aber nicht sehen, dass jeder Mensch sein Leben in Eigenregie gestalten will.

Im Rahmen der Demokratie kann man versuchen, andere Menschen anzusprechen, mit ihnen zu streiten, sie mit Argumenten zu überzeugen. Letztlich aber muss jeder nach eigener Fasson, in subjektiver Einsicht und freiem Willen entscheiden, wie er sein Leben gestalten will: das ist das Experiment der Demokratie.  

In Deutschland gelten alle Moralisten automatisch als faschismusverdächtige Menschheitsbeglücker. Zwischen Argumentieren und Zwingen kann man hierzulande nicht unterscheiden.

Streiten, Debattieren, sich Auseinandersetzen, sich beackern, den andern für verbohrt halten: all das ist erlaubt. Doch seinen freien Willen brechen, ihn zu etwas zwingen oder nötigen wollen, was er nicht will: das ist schlechterdings verboten.

Den Selbstbestimmungswillen des Menschen mit Hilfe klarer Freiheits-Rechte zu bewahren: das ist die unbedingte Voraussetzung jeder Mündigkeit. Voraussetzung dieser Kompetenz zur Mündigkeit ist das Vertrauen in die Kraft menschlicher Vernunft.

Im Totalitarismus wird der Mensch zum Spielball überlegener Mächte, die sich einbilden, ihre Gottähnlichkeit könne Menschen mit Zwang zum Glücke erziehen. Menschen werden zu Drahtpuppen, die man nach Willkür und Laune erniedrigen, beschädigen und vernichten kann. Und dies alles unter dem Vorzeichen, sie zu besseren und glücklicheren Menschen zu machen. Widerstand und Kritik am faschistischen Staat werden als Gotteslästerung geahndet.

Vorbild des totalitären Herrschers ist – Gott. Der Gott, der seinen Kreaturen Gebote des Guten und Bösen gibt, steht selbst jenseits all seiner Gebote. Was immer er will und tut: es ist das unvergleichlich Gute – auch wenn es sich „böser“ Mittel bedient. Ein unfehlbarer Gott kann nie böse sein. ER steht außerhalb aller Gut-Böse-Alternativen.

Als die NS-Schergen Böses taten, waren sie vollständig überzeugt, das Gute, ja, das Beste zum Wohle der Menschheit zu tun. Was taten sie anderes, als jenes Böse zu vernichten, das überall Mensch und Natur bedrohte? Zwangsbeglücker glauben, die Wohltäter der Menschheit zu sein.

Platon verlor den Glauben seines Lehrers an die Lern- und Vernunftfähigkeit des Menschen. Also entwarf er einen idealen Staat, der von perfekten Weisen regiert wird, die allen Menschen en détail vorschreiben konnten, was sie zu tun und zu lassen hatten. Er erfand den philosophischen Urfaschismus, der vom Urchristentum übernommen und zur totalitären Theokratie ausgebaut wurde.

Aus den Weisen wurden Priester, Diener eines allmächtigen Gottes, der seinen Geschöpfen moralische Gebote erteilte, selbst aber jenseits aller Gut-Böse-Gebote blieb. Was immer er tat, auch wenn es noch so diabolisch erschien: es war das Gute an sich.

Seine Gläubigen übernahmen die antinomische Freiheit und durften nach Belieben sündigen – wenn sie nur glaubten oder Gott liebten. Gute Taten waren nicht gut, böse Taten nicht böse, weil sie gut oder böse waren, sondern weil über ihre Taten allein die richtige Gesinnung entschied. War die Gesinnung dem Himmel ergeben, konnte es kein Halten mehr geben. Feuer frei: versengt Mensch und Natur, Gott freut sich seiner Sünder – die zur Sünde unfähig geworden waren (non posse peccare).

Als Max Weber die Gesinnungsethik zugunsten der Verantwortungsethik verabschiedete, mochte bei ihm der Groll gegen diese totalitäre Gesinnung eine Rolle spielen. Doch er übersah, dass gottähnliche Gesinnung eine innerliche Zensorin äußerlicher Taten war, nicht die Taten selber.

Weber wollte Taten ausschließen: gute, friedensliebende, „idealistische“ Taten. Im Gegensatz zu interessen-gesteuerten machiavellistischen Taten. Das führte zur Haltung fast aller deutschen Gelehrten, die bis heute glauben, sich von aller moralischen Politik distanzieren zu müssen.

Seitdem Trump die bislang geltende Kritik an der völkerrechtswidrigen israelischen Besatzungspolitik verwarf, hat er vor aller Welt sein biblisches Gesicht gezeigt: das Gesicht eines Mannes, der sich gottähnlich anmaßt, über allen Gesetzen zu stehen. Vor allem über den Gesetzen der Humanität, die in der UN-Charta niedergelegt wurden. Damit hat er sich als totalitärer Theokrat entlarvt.

Das Gleiche gilt für Netanjahu, der sich seine faschistische Anmaßung von ultraorthodoxen Rabbinern absegnen lässt. Eine amerikanisch-israelische Allianz hat sich entschieden, den menschenrechtlichen Grundlagen des Westens den Todesstoß zu versetzen und sich eine totalitäre Antinomie anzumaßen.

Der bislang geschlossene Block des Westens liegt damit in Trümmern. Galt der Westen schon lange als bigottes Gebilde, weil sein demokratisches Pathos durch undemokratische Taten widerlegt wurde, ist er jetzt endgültig dabei, sich von seinem hohen Ross zu verabschieden.

In gefährlicher Annäherung an seine faschistischen Weltrivalen ist das amerikanisch-israelische Bündnis aus dem Block der Humanisten ausgeschieden und zu theokratischen Faschisten geworden.

Netanjahu sprach von Wahrheit und Gerechtigkeit, die durch Trumps Revision zum Siege gekommen seien. Er meinte nicht die Werte einer universellen Vernunft, sondern die partikulare Gerechtigkeit und Wahrheit einer Religion, die der Welt ihre unfehlbare Sicht der Dinge diktieren will.

Trump & Netanjahu ernannten sich zu Zwangsbeglückern der Welt. Was bislang Recht war, wurde über Nacht zu Unrecht. Was Inhumanität war, wurde Humanität. Was religiöser Menschenhass war, wurde Menschenliebe.

Zwei einzelne Nationen erkühnen sich, sich über geltende Menschen- und Völkerrechte zu erheben. Liberale Juden in Amerika protestieren. Die emotionale Geschlossenheit der Juden nach dem Kriege ist zerbrochen.

In Deutschland appelliert Springer-Chef Mathias Döpfner an die universellen Menschenrechte – und lässt ungerührt zu, dass BILD die totalitäre Wende enthusiastisch begrüßt. Der Historiker Wolffsohn, seit Jahrzehnten dabei, den Glauben der Deutschen an die Völkerrechte zu unterminieren, darf triumphieren. Wo habe das Völkerrecht je Frieden gebracht? Wer so dumm sei, weiterhin an es zu glauben, werde gegen die Wand laufen. Hier spricht Gott selbst durch die hochintelligente Stimme seines Knechts Wolffsohn.

„Idealen Werten“ wird in Deutschland kurzer Prozess gemacht.

Haben sie die Welt ideal gemacht? Also weg mit ihnen.

Demokratie? Gibt es nicht in der Bourgeoisie. Also weg mit ihr.

Menschenrechte? Werden nur scheinbar vertreten in der Welt. Weg mit ihnen.

Moral? Gibt es keine in einer interessengeleiteten Welt. Also weg mit ihr.

Humanität? Eine Lachplatte. Weg mit ihr.

Friedenspolitik? Die Phantasmen Schwachsinniger. Schluss damit.

Vernunft? Die Welt ist eine irrationale Kloake. Weg mit Besonnenheit und Verständigungspolitik. Es lebe die Stärke der eigenen Nation, die ihren Konkurrenten zeigt, wo es lang geht.

Ideale werden unter dem Aspekt Alles oder Nichts betrachtet. Dass sie Leitlinien und Zielsetzungen sind, um das bestehende Schlechte zu verbessern, wird ignoriert.

Die Sicht selbstkritischer Israelis ist in deutschen Medien ein Tabu:

„Der Staat Israel weigert sich, seine arabischen Bürger zu berücksichtigen. Der jüdische Staat hat einen Großteil ihres Landes konfisziert, viele ihrer Rechte mit den Füßen getreten und ihnen keine echte Gleichberechtigung zugestanden. Verloren ging die Balance zwischen Nationalismus und Universalismus. Verloren ging die säkulare Gegenposition zu Diaspora und Religion. Die Gefahr, der sich Israel gegenübersieht, ist die Gefahr einer auflösenden Identität. Semifaschistische Ideen, die in den Dreißigerjahren den rechten Flügel angezogen hatten, werden heut von führenden Politikern der herrschenden Parteien propagiert. Der israelische Geist, der hier einst herrschte, ist im Grunde nicht mehr existent.“ (Ari Shavit)

China und andere totalitäre Regimes können triumphieren. Den Kampf gegen den arroganten Westen haben sie gewonnen. Die Zukunft der Menschheit liegt in den Händen der Starken und Mächtigen. Demokratie ist passé. Ohnehin wird eine globale Ökodiktatur nicht zu vermeiden sein, wenn es nicht bald gelingt, die Klimagefahren gemeinsam in den Griff zu kriegen.

„In Zeiten der Krise wird nicht mehr gequasselt über drohende Ökodiktatur und eingeschränkte Konsumfreiheit. Es wird gehandelt, und zwar autoritär.“ (TAZ.de)

Zwangsbeglücker werden die Menschheit auf ihrem letzten Gang fürsorglich begleiten.

 

Fortsetzung folgt.