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Von vorne VI,

Von vorne VI,

nach vorne bringen. Jeder Politiker will sein Land voran bringen. Wo liegt voran? Voran liegt nicht auf der Erde. Es ist ein Chamäleonwort, ein in allen Farben schillerndes Suizidalwort. Vorne ist der Beginn vom Ende. Vorne ist alles, was Hier und Jetzt vernichtet.

Vorne ist zurzeit: die atemberaubende Militarisierung der Welt.

„Die weltweiten Militärausgaben stiegen im vergangenen Jahr um 2,6 Prozent auf schätzungsweise rund 1,82 Billionen Dollar (umgerechnet etwa 1,64 Billionen Euro) und damit zum zweiten Mal in Folge.“ (SPIEGEL.de)

Bei Sozialkosten kommt die stereotype Frage: wer soll das erwirtschaften? Bei Militärkosten wird nicht gefragt. Schwachsinn und Idiotie – die Realwörter für Fortschritt und Militarismus – erwirtschaften sich von selbst.

Zur Militarisierung gehört die Mechanisierung der Gesellschaft oder ihre Digitalisierung, Roboterisierung. Die gesamte Nation ein smart home, das von Mächtigen mit leichtem Druck der Finger dirigiert werden kann.

Wenn soziale Kontakte überflüssig oder unmöglich werden, droht partielle Erleichterung umzuschlagen in ein despotisches Regiment über Monaden.

Monaden? Sind Menschen als „isolierte Substanzen, die vom Schöpfer, der göttlichen Monade, aufeinander abgestimmt sind.“ Woraus sich eine „prästabilierte Harmonie“ ergibt, auf Deutsch: eine vorprogrammierte Gesellschaftsmaschine. An die Stelle Gottes tritt eine totalitäre Macht oder eine durchprogrammierte völkische Einheit. Monaden auf der Straße erkennt man am abwesenden Blick nach unten und an der Verkabelung der Ohren, ihrer zuverlässigen Reiz- und Reaktionsverbindung zur Obrigkeit.

Estland klingt in vieler Hinsicht verlockend, doch direkt hinter Estland liegt – auf der neuen Weltkarte des Fortschritts – China. Wäre die neue Seidenstraße ein

… Wanderweg der Begegnung und Welterkundung: wunderbar. Doch sie ist nur eine gigantische Lieferkette, die China in einem letzten Kraftakt zur Zentrale der Welt machen soll.

Derweilen befindet sich die deutsche Regierung im sibirischen Permafrost. Die Kanzlerin, seit Wochen nicht zu sehen, dämmert ihrer finalen Heiligung durch sündloses Nichtstun entgegen. Wer nichts tut, kann nichts Falsches mehr tun. Je mehr sie sich dem Irdischen entfremdet, je beliebter ist sie beim Volk, das wild entschlossen ist, ihr nachzueifern und den Garten Eden in der Mitte Europas auszurufen. Das wäre kein horizontaler, sondern ein vertikaler Drexit.

Nachdem das Einstimmigkeitsprinzip in Brüssel aufgehoben werden soll, hat die Kanzlerin keine Chance mehr, den – ein Herz und eine Seele sein wollenden – Kontinent mit einem unscheinbaren Nein zu regieren, für den Fall, dass Aufsässige sich mehrheitlich gegen sie verbünden sollten.

Noch verheerender als der deutsche Kompromisszwang – der im Grunde keiner mehr ist: die Parteien haben keine konträren Meinungen mehr, sie denken in prästabilierter Harmonie –, ist der europäische Einstimmigkeitszwang, eine Übernahme des sozialistischen Einheitsdenkens. Wer es wagt, Nein zu sagen, wird hinter den Kulissen geächtet.            

Seitdem die Jungen für eine 2.0-Zukunft auf die Straße gehen (das Klima soll nicht mehr als 2 Grad steigen) und durch schulische Abwesenheit ihre digitale Wettbewerbsfähigkeit auf das Spiel setzen, ist die Regierung in präsenile Trotzstarre verfallen. Man könnte von einem Generalstreik der Eliten sprechen. Sie verkraften nicht, dass eine Generation heiliger Kinder, vor kurzem noch durch hinterlistige Apolitie getarnt, herangewachsen ist, um das Leben ihrer Erzeuger seelisch zu ruinieren.

Heilige Kinder darf es im Abendland nur mit religiösem Placet geben. Die Älteren unter uns werden sich dunkel an jenes merkwürdige Ereignis erinnern:

„Und da er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf gen Jerusalem nach der Gewohnheit des Festes. Und da die Tage vollendet waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb das Kind Jesus zu Jerusalem, und seine Eltern wußten’s nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Gefreunden und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wiederum gen Jerusalem und suchten ihn. Und es begab sich, nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel sitzen mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich seines Verstandes und seiner Antworten. Und da sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Seine Mutter aber sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Was ist’s, daß ihr mich gesucht habt? Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist? Und sie verstanden das Wort nicht, das er mit ihnen redete. Und er ging mit ihnen hinab und kam gen Nazareth und war ihnen untertan. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.“

So war‘s, so ist es heute. Eltern und Kultusminister verfließen in Selbstmitleid und verstehen nichts mehr. Ja, sie sind entsetzt über den blitzlebendigen Verstand ihrer Kinder. Hätte Maria nicht wissen müssen, dass sie einen Gott gezeugt hatte? Doch sie stellte sich dumm und behielt die Worte des Wunderkinds für sich.

Wenn Kinder es wagen, ihrem Ingenium, pardon, ihrem Bauchgefühl zu folgen, sind ihre Erzieher perplex. Stellt das doch alle natürliche Ordnung auf den Kopf. Können das noch Kinder nach dem Geschmack der deutschen Exportindustrie sein – oder sind das schon Dämonen im Aufstand gegen die gottgewollte Moderne?

Wäre Greta T. ein männlicher deutscher Spross: die Nation läge auf dem Bauch. Deutsche können ausländische Genies nicht leiden. Weswegen sie dieselben auf Knien bewundern, wie in den Anfängen von Silicon Valley. Am liebsten aber würden sie sie zum Teufel wünschen, wenn, ja wenn sie nicht fürchten müssten, ihre Nation nicht genug nach vorne zu bringen.

Die WELT kann – nach FDP-Lindner – die Greta T. am wenigsten leiden. Anhand des biografischen Buches ihrer Mutter ist es Peter Praschl gelungen, die dämonische Struktur der kleinen schwedischen Hexe in einer tiefgründigen Psychoanalyse freizulegen:

„Das ist die wahre Geschichte, die in „Szenen aus dem Herzen“ erzählt wird – die Geschichte einer Unterwerfung. Zwei Erwachsenen, überfordert von der Wucht ihrer Kinder, fällt nichts anderes ein, als ihnen ständig hinterherzukötern, mit der Jüngeren im Elektroauto von Stockholm für ein Popkonzert nach London zu fahren, die Ältere mit Gnocchi vor dem Hungertod zu retten, das Internet auf der Suche nach Erklärungen leerzulesen, ihr eigenes Leben zu opfern. Sie sind Geiseln einer Situation, die mächtiger ist als sie, und wie oft in solchen Konstellationen setzt irgendwann das Stockholm-Syndrom ein – die Identifikation mit jenen, die einen gefangen halten. Die Mutter sagt tatsächlich, Gretas Asperger und Beatas ADHS seien eine „Superkraft“. Wie alle Eltern überzeugt davon, ihr Kind sei eine reine Seele, kommt sie keine Sekunde auf die Idee, es könne sich um die Eröffnung eines Machtspiels handeln. Nichts sichert einem mehr Zuwendung und Bedeutung als der radikale Entschluss, sich selbst aufs Spiel zu setzen – Liebe duldet vieles, sofort kringeln sich alle um einen.“ (WELT.de)

Kinder sind Teufelchen, die eine reine Seele vorgaukeln, um mit Hilfe abgenötigter Liebe ihre Eltern bis aufs Blut zu sekkieren. Schamlos nutzen sie aus, dass ihre Eltern sich krumm legen, nur um ihre Früchtchen in den Himmel zu heben. Früher war es die Wucht der Autoritäten, heute ist es die der Kinder, die ihre wehrlosen Pädagogen platt machen. Eltern werden Opfer ihrer Kinder: das ist die umstürzende neue Psychoanalyse der WELT.

Praschl öffnet arglosen Eltern die Augen: Vorsicht vor begabten Kindern, sie haben‘s faustdick hinter den Ohren. Haben sie noch zusätzlich eine leckere Krankheit zu bieten, werden sie unangreifbar. Das hat Tradition: bekanntlich litt der 12-jährige Jesus anMessias“, einer unheilbaren Krankheit, die im Abendland nicht selten vorgekommen sein soll.

Nun verstehen wir die Moralaversion der WELT-Gruppe. Der Liebe als Inbegriff der Moral ist zu misstrauen. Solange nämlich die nationale Umgebung anständig bleibt, gibt es keinen Grund für Moralpredigten. Im Gegenteil: die Deutschen legen Wert auf einen gewissen amoralischen Charme, vorausgesetzt, die Welt bricht nicht auseinander. Ihr anarchischer Charme soll den Übermut derer spiegeln, die sich der Moral völlig sicher sind. Es sind Überreste pubertierender Kessheit gegen allzu heuchelnde Moralisten unter den Erwachsenen. Werden die anderen aber allzu dreist und beginnen es mit der Amoral zu übertreiben, entdecken die Bürschchen wieder die gute alte Moralpredigt. Wie Nikolaus Blome in BILD:

„Der Staat kann nicht allen Bürgern einzeln Moral und Anstand beibringen.“

Erwachsen werden ist eine Herausforderung, die kaum ein schlauer Frühzünder beherrscht. Was ist denn erwachsen werden? Man sollte meinen: Verantwortung übernehmen, Vernunft walten lassen.

Nicht so im Land der neugermanischen Vernunftverächter. Hier heißt die Pflichtaufgabe der pubertierenden Initiation: hallo Freunde, sollen wir nicht etwas ganz Verrücktes unternehmen? Den Regenbogen vom Himmel holen? Das erste eigene Auto zu Schrott fahren?

„Ein Auto zu Schrott zu fahren, wenn es endlich das eigene ist, hat seinen eigenen Reiz. Die Entlassung aus der Aufsicht der Erwachsenen bedeutet in gewisser Hinsicht den Eintritt in ein ganz neues Videospiel, dessen Programmierer unbekannt sind.“ (ZEIT.de)

Bemerkenswert: wer erwachsen wird, betritt nicht die Wirklichkeit, die er verantwortlich gestalten müsste. Die Wirklichkeit ist ein neues Videospiel, dessen Urheber unbekannt ist. Eine künstliche Welt löst die andere ab.

Wo aber beginnt das volle Leben, das von autonomer Vernunft durchdrungen werden müsste? Die gibt es nicht, oh Freund. Schlagt euch Vernunft aus dem Kopf, ihr Deutschen, wenn ihr die Welt der Erwachsenen betretet. Es geht um Kumpanei mit den Besetzern des neuen Videospiels, die sich von eindringenden Moralisten kein schlechtes Gewissen machen lassen wollen:

„Es ist wie beim Berufsanfang in einer Firma, als Erstes soll der junge Kollege lernen, Illusionen und moralische Skrupel über Bord zu werfen, die dem Geschäft schaden. Natürlich panzert sich die Firma dabei gegen alle Einwände mit eigenen sogenannten Werten – so wie sich auch unsere gegenwärtige Gesellschaft gegen jede grundsätzliche Kritik mit der Behauptung ihrer Werte panzert (dem Grundgesetz, dem Pluralismus, der Chancengleichheit und so weiter). Aber tatsächlich gibt es kein eingebautes Wohlwollen im gesellschaftlichen System, in diesem nicht und in keinem anderen. Und es hat keinen Sinn, irgendjemanden dafür im Besonderen anzuklagen – die Klage hat keine Adresse, niemand wird sich verantwortlich fühlen für die Verfehltheit des Großen und Ganzen. Es gibt keine andere Verantwortlichkeit als die eigene, sich irgendwie halbwegs anständig durch den Dschungel der Zumutungen und Verführungen zu schlängeln.“

Endlich verstehen wir, was Pubertät bedeutet: die Moral der Kindheit wird abgelegt, die Amoral der Erwachsenen beginnt. Nicht körperliche Vorgänge stehen im Mittelpunkt des biografischen Umbruchs, sondern die Zumutung, alle bisherigen Moralvorstellungen als falsch und blauäugig zu diffamieren, um die zynische Taufe der Erwachsenen zu ertragen, die über die Moral der Kinderstube nur höhnen können.

Das Abendland erlaubt sich, die eindeutige griechische Moral als illusionäre Kindermoral zu verheizen, um beim Eintritt ins wahre Leben alle Hüllen fallen zu lassen. Ab jetzt wird verhöhnt und verlacht, dass sich die Balken biegen.

Das Leben des Abendländers besteht aus zwei unvereinbaren Hälften. Den Erwachsenen gebietet es, ihren Kindern moralische Märchen beizubringen, die sie ihnen ab der Pubertät aus der Seele reißen.

Wenn die Schlechtmenschenfront moralisches Besserwissen anprangert, verkündet sie der Welt: wir sind erfolgreich erwachsen geworden. Wir haben es geschafft, die Taufe der Bigotterie zu bestehen und pfeifen auf die Reinheit der Kinderseelen.

Freilich: wenn die Welt da draußen böse ist zu uns, dann zeigen wir, dass unsere versteckte kindliche Seele noch immer existiert. Dann werden wir hochmoralisch – gegen feige Terroristen, christenhassende Muslime oder sonstiges Gesindel, das unsere abendländischen Grundwerte attackiert.

Plötzlich werden die Neomachiavellisten zu hochmoralischen Anklägern, die es unter Abscheu ablehnen, die Bösen zu verstehen. Wer sich den Luxus des Verstehens erlaubt, der will verzeihen. Deutsche Selbstgerechte verzeihen nicht. Aus amoralischen Kokettierern werden über Nacht Fallbeil-Scharfrichter.

Wer hat schuld am Ganzen? Niemand. Niemand ist verantwortlich für den Zustand der Welt. Niemand hat die Bigotterie der Erwachsenen verursacht. Die Welt ist vom Himmel gefallen, sie ist, wie sie ist. Es geht nur noch darum, sich „halbwegs anständig“ durchs Unterholz zu schlängeln.

Merkels Durchwursteln ist ein Freifahrtschein für amoralische Beliebigkeit mit gelegentlichen heiligen Ausreißern. Die Welt ist etwas, was Zeit und Zufall ist. Niemand wird sie verändern oder verbessern.

Was bleibt? Die Einführung von Robotern. Die Intelligenzbestien werden schaffen, was den Menschen nicht gelingt: die Humanisierung der Welt – oder? Ein Maschinenethiker will seinen Robotern Moral beibringen. Wie macht er das, wenn die Menschen schon an sich selbst scheitern, moralisch zu werden?

Ich habe keine Haltung. Als Maschinenethiker erforsche ich das Gute und das Böse gleichermaßen. Ich baue sogar unmoralische Maschinen, um sie zu erforschen. Was die vorhin genannten Beispiele betrifft, so geht es mir darum, solche Maschinen zu denken und zu bauen. Ich will herausfinden, was da möglich ist. Was tatsächlich als Produkt auf den Markt kommen wird, entscheidet letztlich der Verbraucher. Ich befürworte sogar, dass Maschinen mit einem Moralmenü ausgestattet werden. Dann kann jeder selber einstellen, nach welchen moralischen Regeln die Maschine agieren soll.“ (WELT.de)

Wer keine Haltung hat, kann sie leblosen Maschinen nicht einpflanzen. Er hält sich raus, programmiert wie Gott, Gutes und Böses, überlässt am Ende alles den Maschinen. Die Genesis beginnt von vorne – mit Sündenfall, Erlösung und Gericht. Wir müssen es mit einem Komiker zu tun haben. Er will die Maschinen ethisieren – und lässt sie, wie sind: gut oder böse.

Bis jetzt gab es die Front: sündige Erwachsenen – gegen reine Kinderwelt. Kinder mussten lernen, dass sie eines Tages den Sündenfall begehen würden. Ein Tor, wer glaubte, in kindlicher Reinheit durchs ganze Leben zu wandeln.

Doch seit Greta T. beginnen sich die Fronten zu vertauschen. Die Erwachsenen sind die Guten – selbst, wenn sie schlecht sein müssen. Das Schlechtsein tragen sie in auftrumpfender Angriffslust. Die Kinder sind die Bösen hinter der Maske der Reinen.

Die kindliche Wahrnehmung dreht sich allein ums Ich. Was nicht zur Befindlichkeit passt, wird mit Schreien und Toben quittiert. Im Reden von „denen da oben“ und „dem kleine Mann“ ganz unten schwingt etwas von der kindlichen Ohnmacht den Eltern gegenüber mit. Eine „erwachsene“ Vorstellung von Gesellschaft ist die von der Koexistenz unterschiedlicher Vorstellungen als wesentliches Merkmal der Demokratie. Ebenso wie eine Debattenkultur, in der Kompromissbereitschaft herrscht und Fehler und Niederlagen konstruktiv genutzt werden. In der Widersprüche ausgehalten werden, statt dem Drang einer kindlichen Vereindeutlichung der Welt nachzugeben. Kurz: Verantwortung zu übernehmen für sich und sein Umfeld. Das ist eine mühsame und nie endende Aufgabe. Aber es hat auch nie jemand gesagt, dass Erwachsenwerden einfach ist.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Da sind sie, die geplagten Erwachsenen, die in Würde ihre „Widersprüche“ ertragen müssen. Man könnte von doppelter Moral sprechen. Die Bigotterie muss nicht abgestellt, als eherner Bestandteil des Menschen muss sie hingenommen werden. Kinder hingegen sind wie Robespierre, der aller Welt seine Moral verpassen wollte, wenn nicht gütlich, dann eben mit der Guillotine.

Als Trump an die Regierung kam, diagnostizierten die Experten den Narzissmus eines Jünglings, der sich in sein Ebenbild verliebte – und gar nicht wusste, dass es sein eigenes Konterfei im Wasser war –, mit dem er sich als Ertrinkender vereinen wollte. Trump hätte sich längst im Wasser ertränken müssen, um nur die geringste Ähnlichkeit mit dem Griechen aufzuweisen.

Nach der Narziss-Diagnose kam die Kritik, der Präsident sei ein bösartiges Kind, das die Welt in Stücke schlägt. Kinder, die ihr Zimmer in Chaos verwandeln, gibt es. Jedes Kind zerlegt seine Welt, um sie von Grund auf kennen zu lernen und von vorne zu beginnen. Das wusste bereits Hegel. Doch Kinder unterscheiden ihre Spielwelten sehr wohl von der realen Welt. Wenn Mutter ausbleibt, Vater die Familie verlässt, geht für sie die reale Welt unter.

Nachdem im „Jahrhundert des Kindes“ die Kinder von der christlichen Erbsünde befreit wurden, beginnt heute das regressive Spiel von vorn. Die Erwachsenen werden religiös, ihre Kinder verwandeln sie in Satansbraten. Sie selbst sind die Tapferen, die die Amoral der Welt in Gleichmut dulden. An Verbesserung der Welt ist nicht zu denken.

Erwachsene müssen die antinomische Freiheit ertragen, indem sie sich von moralischer Klarheit verabschieden. Die Kinder aber seien unfähig zur Freiheit, sie lebten in „Furcht vor der Freiheit“, wie Erich Fromm das Phänomen der Erwachsenen nannte, die aus Furcht vor demokratischer Freiheit in Despotien zurückfielen.

„Eine „erwachsene“ Vorstellung von Gesellschaft ist die von der Koexistenz unterschiedlicher Vorstellungen als wesentliches Merkmal der Demokratie. Ebenso wie eine Debattenkultur, in der Kompromissbereitschaft herrscht und Fehler und Niederlagen konstruktiv genutzt werden. In der Widersprüche ausgehalten werden, statt dem Drang einer kindlichen Vereinheitlichung der Welt nachzugeben. Kurz: Verantwortung zu übernehmen für sich und sein Umfeld. Das ist eine mühsame und nie endende Aufgabe. Aber es hat auch nie jemand gesagt, dass Erwachsenwerden einfach ist.“

Es ist aberwitzig. Nachdem der Verfasser sich auf Kants kategorischen Imperativ beruft, der von allen Menschen moralisches Verhalten fordert, vergisst er im nächsten Satz die unbedingte Moral und erlaubt alle Mischungen von gut und böse. Zwar müssen solche Widersprüche praktisch toleriert werden,  theoretisch aber darf man sie nicht akzeptieren.

Der moralische Mensch muss Amoral mit aller Strenge bekämpfen. Nicht mit Strategien, die selbst amoralisch sind, sondern mit überzeugender, ansteckender Vorbildlichkeit. Wie sonst sollte ewiger Frieden entstehen, wenn Unfrieden als aufregende Uneindeutigkeit akzeptiert werden muss?

Kant wollte die Welt in „kindlichem Sinne“ moralisch vereinheitlichen. Das wollten auch Sokrates und seine Schüler in der Antike. Moralische Vereinheitlichung ist keine totalitäre Uniformierung. Beides miteinander zu vermengen, ist ein deutscher Fluch.

Demokratie ist ein moralisches Gesellschaftsmodell, in dem alle Demokraten versuchen, ihre Moral der Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit gemeinsam einzuüben. Unter Wahrung demokratischer Spielregeln, als da sind: logisches Argumentieren, Einheit von Reden und Tun.

Den Jungen wird vorgeworfen, sie würden die Freiheit nicht ertragen, just in dem Moment, als sie sich aus ihrer anerzogenen Unmündigkeit befreien und ihre Freiheit nutzen, um der ganzen Welt ihre Meinung zu sagen. Besonders den Mächtigen, die ihre Freiheit und Macht nicht anders nutzen, als die Welt vor die Hunde gehen zu lassen.

Mündigkeit ist Kampf gegen Inhumanität, ein anderer Begriff für Amoralismus. Demokratie kennt keinen Unterschied zwischen privater und politischer Moral. Privates wird immer politisch, denn das Verhalten des privaten Individuums hat stets politische Folgen. Umgekehrt ohnehin. Wer eine amoralische Politik verfolgt, darf sich über amoralische Folgen in der Gesellschaft nicht wundern. Wenn ein Vorstandsvorsitzender von den Aktionären die rote Karte erhält und dennoch mit erhöhten Boni auf seinem Platz bleibt, dann haben wir einen amoralischen Kapitalismus.

Eine moralisch ausgelaugte Bevölkerung wählt am liebsten eine spiegelbildliche Regierung. Dann weiß sie, dass die Regierung sie nicht in Haftung nimmt, wenn sie Schlechtes treibt. Auch die Regierung darf wohlig im Sumpfe dümpeln. Weiß sie doch, dass ihr niemand die Seelenruhe rauben wird. In diesem symmetrischen Machen lassen, Sündigen lassen, wäscht eine bigotte Hand die andere. Das ist der moralische Wärmetod der Gesellschaft.

Eine Gesellschaft braucht Streit und Kompromiss. Der theoretische Streit aber kann nur in kompromissloser Radikalität geführt werden. Erst, wenn man sich nicht einigen kann, folgt der praktische Kompromiss – als vorläufige Notlösung. Der Streit hat ununterbrochen weiterzugehen: in theoretischer Kompromisslosigkeit und mit praktischen Zugeständnissen. Jedes Tolerieren von Amoral geht achtlos an Menschen vorüber, die zum Opfer dieser Amoral wurden.

Ziel des Streits ist die friedliche und gerechte Utopie, in der jeder Mensch nach eigener Facon sein Leben führen kann. Vorausgesetzt, er kommt anderen nicht in die Quere. Freiheit ohne Rücksicht auf andere ist ein Darwin‘scher Überlebenskampf mit Hauen und Stechen.

Verantwortung übernehmen ist kein Absegnen inhumaner Zustände, sondern unablässiges Eintreten für eine bessere Gesellschaft. Alles andere wäre eine Verletzung der Würde des Einzelnen. Die Würde des Einzelnen gilt nicht nur für die Starken und Erfolgreichen, sondern für alle Mitglieder der Gesellschaft.

Jede Gesellschaft soll nach vorne gebracht werden. Solange dies nicht bedeutet: humanisieren und moralisch verbessern, solange es bedeutet, die Gesellschaft immer mehr in eine wirtschaftliche und waffenstarrende Gesamtmaschine zu verschandeln, solange ist vorne ein Synonym für abwärts. Für Verfall. Für Selbstvernichtung.

Alle inhaltslosen Chamäleonwörter wie vorne-hinten, neu-alt, fortschrittlich-rückschrittlich, modern-veraltet, links-rechts müssen ersatzlos gestrichen werden. Es gibt nur eine Frage, die wir einhellig beantworten müssen: wollen wir eine moralische Gesellschaft? Dann müssen wir jede amoralische bekämpfen. Ein Drittes gibt es nicht. Wer in moralischen Dingen die Farbe grau liebt, wird – Grauen erhalten.

 

Fortsetzung folgt.