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Von vorne LXXXIII

Von vorne LXXXIII,

„Schon vorher, am Vorabend dieser Ereignisse, hatte ich die sowjetischen Truppen vor einem Eingreifen gewarnt: „Keinen Schritt. Sie bleiben, wo Sie sind.“ Das sollten die Deutschen selbst entscheiden. Und sie haben es getan. Auf dem Weg zu tief greifenden Reformen innerhalb des Landes haben wir unser Bestes getan, um unseren Planeten von der Bedrohung durch einen nuklearen Massenmord zu befreien. Unsere wirklichen Schritte in Richtung Abrüstung, eine offene Veränderung von tiefer Feindschaft zu guter Nachbarschaft erregten zuerst Überraschung, brachten dann die gegenseitigen Schritte unserer Partner im internationalen Bereich. Allmählich setzte sich zum ersten Mal seit vielen Jahren Vertrauen in den zwischenstaatlichen Beziehungen durch. Es bestand die Hoffnung, dass die Menschen ohne Krieg in gegenseitigem Respekt zusammenleben könnten.“ (WELT.de)

Die Stimme Gorbis kommt wie aus einer versunkenen Welt. Welcher amtierende Staatschef der Gegenwart könnte solche überwältigenden Worte finden?

„Eine offene Veränderung von tiefer Feindschaft zu guter Nachbarschaft erregten zuerst Überraschung, brachten dann die gegenseitigen Schritte unserer Partner im internationalen Bereich. Allmählich setzte sich zum ersten Mal seit vielen Jahren Vertrauen in den zwischenstaatlichen Beziehungen durch.“

Diese Sätze müssen in Stein gehauen, die unverrückbaren Leitplanken einer globalen Friedenspolitik sein, der Voraussetzung jeder ökologischen Eintracht mit der Natur. Welcher lebende Machthaber könnte solche Worte aussprechen, ohne ins Stammeln und Zittern zu geraten?

Gemessen an diesen kategorischen Friedensmaßnahmen müssen alle gegenwärtigen Staatenlenker erbleichen. Auch die deutsche Kanzlerin, die dem Frieden folgt, wenn er angesagt ist und ihn durch Stummheit und Lauheit verrät, wenn er verfemt wird. Nie wäre sie – die bei jenseitigen Glaubensbekenntnissen keine Probleme hat –, in der Lage, sich zu einem solch vitalen irdischen Credo zu bekennen. Sie bleibt die 

 örtliche Haushälterin eines globalen Wettbewerbs, der die Menschheit klaftertief spaltet und die Natur in Stücke reißt.

Was hat Stefan Aust bewogen, mit Gorbatschow ein solch ausführliches und eindrucksvolles Interview zu führen? Hatte er es satt, in der WELT nur Aufforderungen zum Handeln zu lesen? Nicht zum friedlichen, sondern zum kriegsbereiten Handeln?

Handelt, tut was, werdet erwachsen, kann man permanent in hiesigen Gazetten lesen. Doch unter Handeln und Erwachsenwerden verstehen sie keine Leidenschaft zum Frieden, keinen Impuls zur Verständigung mit der Menschheit, sondern misstrauisch werden, aufrüsten, mit Waffen drohen, Hass und Feindschaft verbreiten.

Nach innen werden ihre Politiker nicht müde, vor Hass und Feindschaft zu warnen. Und wollen nicht wahrhaben, dass ihre eigene Völkerpolitik Verachtung und Hass in der Welt verbreitet. Auch ihre kapitalistische Innenpolitik ist kein System der Liebe.

Innenwelt ist ein Spiegel der Außenwelt. Außer inhaltslosem Warnen fällt Politikern nichts mehr ein. Jeder Erklärungsversuch könnte von Verächtern des Verstehens als Versuch gewertet werden, das verstandene Schlechte zu billigen.

Die zornigsten Vertreter des Verstehensverbots kommen aus dem Hause Springer. Will Aust seinem Vorgesetzten Döpfner eine neue menschenfreundlichere Politik aufnötigen? Wie er da neben Gorbatschow steht und ihn fast zu umarmen scheint – könnte man vermuten, dass Aust mit dem friedensverachtenden Kurs seiner Zeitung nicht mehr glücklich ist.

Vermutlich weit gefehlt. Es geht um die Demonstration liberalen Denkens. Die WELT steht oberhalb aller Meinungen. Warum nicht mal für den Frieden eintreten, wenn Weltstrategen wie Michael Stürmer oft genug zur Wehrertüchtigung trompeten dürfen? Die Bereitschaft zum Unfrieden kann sich ungemein großzügig geben. Weiß sie doch, dass alle Friedensschalmeien nichts bringen werden. Doch lasst sie, die „Naiven der schönen Träume“, wie Aust die kritische Nachfrage formulieren muss, sie werden schon sehen, wohin ihr kindisches Wesen sie treiben wird.

Erwachsen werden heißt hierzulande Zuschlagen können. Die Deutschen sollen sich von Amerika ausgerechnet dadurch emanzipieren, dass sie die trumpistische Chaospolitik des Kontinents unterstützen.

Ja, gewiss doch, alles nur sentimentale Nostalgie. Tempora mutantur, die Zeiten verändern sich und wir verändern uns mit ihnen. Jeder Augenblick gebiert eine neue Herausforderung, alte Verhaltensrezepte lösen sich in Wind auf. Überzeitiges gibt es nicht, wir müssen uns ständig neu sortieren.

Aust wollte sich Gorbatschow nur als jener vorstellen, der damals den TV-Kommentar sprechen durfte: „Heute Nacht ist der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen …“

Oder wollte er sich bei ihm bedanken für die besten Jahre der gesamtdeutschen Geschichte in Frieden und Einheit? Es gibt Jammerossis und Prahlhanswessis, die jetzt ins Jammern kommen, weil das Prahlen nicht mehr ankommt. Im Jammern sind Ost und West endlich vereint.

„Ich bin 73, Jahrgang 46 – gehöre aber wohl zur glücklichsten Generation, die es in Deutschland je gegeben hat. Im Frieden gezeugt und geboren, im wachsenden Wohlstand aufgewachsen, in Demokratie und Freiheit.“

Der Frieden Westdeutschlands war ein Geschenk der Befreier, der Frieden des geeinten Deutschlands ein Geschenk jenes Landes, das unter den Gewalttaten der deutschen Väter am meisten zu leiden hatte  – und die Völkermörder dennoch nicht hasste, sondern nur deren Führer.

Selbst Stalin soll gesagt haben: „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt“.

Es waren sowjetrussische Offiziere, die die Welt vor einer atomaren Verwüstung bewahrten. Und da sollten die heutigen Deutschen nicht alles tun, was in ihrer Macht steht, um jene Strömungen in Russland zu unterstützen, die sich Gorbis Perestroika zurück erobern wollen?

Wie weit wären wir heute in der Weltversöhnung, wenn jene Friedenspolitik die Lage der Völker hätte prägen können? Wie weit wäre die ökologische Befriedung vorangekommen, wenn die Menschheit am gemeinsamen Strang hätte ziehen können?

Vorbei. Trauer muss Elektra tragen – und dennoch das Vorbei niemals akzeptieren, sondern versuchen, dort anzuknüpfen, wo der Friedensfaden zerriss, weil der Westen es nicht gestattete, Gorbatschow als Friedensbringer in die Geschichte eingehen zu lassen.

Die christliche Auserwähltheit des Westens musste den Frieden zu ihrem Sieg über die Welt deklarieren. Das Reich des Bösen musste in der Versenkung verschwinden und durch gezielte Nadelstiche wieder zum Bösen gereizt werden. Zwei auserwählte Weltnationen kann es nicht geben. Also musste Gorbatschow als persona non grata in der Versenkung verschwinden.

„Ungeachtet all dessen, was uns trennt, leben wir auf demselben Planeten. Europa ist unser gemeinsames Haus. Ein Haus, kein Kriegsschauplatz.“

Dieses Credo an die Menschheit steht in Gorbatschows Buch: „Mein Manifest für die Erde“.

Unvorstellbar, dass eine deutsche Politikerin, die noch vor kurzem die mächtigste Politikerin der Welt sein wollte, zu solchen Grundsatzpositionen fähig wäre. Wahrlich, die Deutschen wollen keine Politiker, die etwas verändern. Sie wollen auf der Autobahn im Geschwindigkeitsrausch deutsch-trunkene Freiheit erleben.

Die hiesige Presse hat sich der amerikanischen Version gebeugt, dass Putins Regression ins Militante auf russischem Boden wuchs und keine Reaktion auf militärische Einkesselungspolitik des Westens sein kann. Dieselben Generationen, die noch vor wenigen Dezennien für Abrüstung kämpften, lassen heute unbewegt zu, wie Deutschland seinen Militärhaushalt erhöht und sich der amerikanischen Globalüberwachung unterstellt, die die Rivalität mit China als eskalierendes Finale um die Führung der Welt darstellen kann.

Eine Nebenbemerkung Gorbis wirft zudem ein unmissverständliches Licht auf die Bedeutung der Kunst:

„Was war es, das die Deutschen zur Wiedervereinigung getrieben hat? Mich hat in dem Zusammenhang Christa Wolfs Buch „Der geteilte Himmel“ sehr stark beeindruckt. Sie war wirklich eine engagierte Kämpferin für die Einheit. Sie hat im Grunde die These vertreten: Es kann nicht so bleiben. Und dann haben die Deutschen gezeigt, dass sie aus dem Krieg ihre Lehren gezogen hatten.“

Welchen Sinn hat Kunst? Dass sie die Welt verändert und nicht zu ihrem Nachteil. Das war der Sinn der Kunst in der athenischen Polis, als das Volk sich im Dionysostheater versammelte, um sich durch Darstellung des Tatsächlichen zum Nachdenken über das Erwünschte und Gesollte anregen zu lassen.

Durch Lektüre des Buches einer ostdeutschen Schriftstellerin ließ sich der mächtigste Mann der Sowjetunion bewegen, die Deutschen in Frieden fahren zu lassen.

Ganz anders die Stellungnahme des Schweizer Literaten Lukas Bärfuss, der in einem SPIEGEL-Interview seinen Befrager auffordert:

„“Fragen Sie mich gern, ob Peter Handke den Nobelpreis meiner Meinung nach verdient hat“, sagte Lukas Bärfuss, als ich ihm vor zwei Wochen auf dem Interviewpodium des SPIEGEL-Stands auf der Frankfurter Buchmesse gegenübersaß. Als ich das dann folgsam wissen wollte, antwortete er mit einem Gedankenspiel: Was denn passieren würde, wenn wir auf die Idee kämen, unsere Bücherregale von allen Werken zu säubern, deren Autoren irgendwann in ihrem Leben politisch fehlerhafte oder gar abstoßende Dinge geäußert hätten? „Da würden nur wenige Bücher übrig bleiben, die mir etwas bedeuten.“ Bestechend argumentiert.“ (SPIEGEL.de)

Geht es um Austilgung von Büchern mit kriegstreibender Gesinnung? Dann müsste man fast alle Bibliotheken der Welt schließen. Nein, es geht um die Frage, welche Bücher preiswürdig sind. Jene, deren stilistische Form besticht, deren Inhalt aber das Menschenunwürdige bewundert?

Ein preiswürdiger Schriftsteller muss alles schildern, das Willkommene und Unwillkommene. Doch das Böse darf er nicht bevorzugen und das Gute lächerlich machen. Dann wäre er vielleicht ein guter Stilist, aber kein Freund des Humanen.

Allein die Darstellung der Wirklichkeit, wie sie ist, ist bereits eine indirekte Rühmung des Humanen. Denn sie zeugt von jener Wahrheitsliebe, von der auch die Würde des Menschen abstammt. Da muss niemand predigen und dennoch fühlt jeder Leser: wer diese Dinge ungeschminkt zur Kenntnis nehmen kann, der sieht auch noch ganze andere Welten, zu denen der Mensch aufbrechen kann.

Wenn ein Mensch seine unbewusste Geschichte erinnern und erzählen kann, hat er sie bereits in hohem Maße bearbeitet. Das Wiedererinnern und Wahrnehmen der Realität ist eine therapeutische Fähigkeit.

Anamnese war der Kern des platonischen Lernens. Denn die ursprünglichste Erinnerung des Menschen ist nicht die Begegnung mit Schrecklichem, sondern mit der Wahrheit des freudig angenommenen Kindes.

Warum schreiben Historiker dicke Bücher über Vergangenheit? Damit ihre Leser, oh ja, daraus lernen: so schrecklich, wie es war, darf es nicht wieder werden.

Historiker mögen darüber denken, was sie wollen. Die meisten sind in den Historismus geflüchtet, um politischen Konsequenzen für ihre Gegenwart zu entgehen. Warum? Weil sie zu feige sind, für diese Folgerungen politisch einzutreten. Also verfielen sie dem Aberwitz, für jede Epoche eine eigene Moral zu reservieren.

Wäre der Historismus auch für Erforscher des Dritten Reiches verbindlich, müsste ihre Botschaft lauten: über die Moral der Berserker dürfen wir uns heute keine Meinung erlauben. Eine vergangene Welt auf dem Sofa „aus der Höhe der eigenen Moral“ zu verurteilen, sei makaber.

Historiker fühlen sich mächtig und kompetent, ihren Lesern vorschreiben zu dürfen, was sie zu denken haben. Merci vielmals.

Wenn artistische Sprachspiele ein gutes Buch ausmachen sollen, hat die Rhetorik endgültig über die Philosophie triumphiert. Oder die glitzernde Fassade über den Inhalt. Oder die Nachkommen sophistischer Wortverdreher über die Sucher der Wahrheit.

Es ist ein uralter Glaube an die Einheit des Menschen, dass das Innere dem Äußeren entspricht. Dass es keinen Gegensatz zwischen Form und Inhalt geben soll. Dass das Wahre nicht das Schlechte und Hässliche sein kann.

Galt Sokrates nicht als hässlicher Satyr? Für seine biologische Äußerlichkeit kann kein Mensch. Aber er kann sehr wohl dafür sorgen, dass seine erlernte Menschlichkeit die hässliche Hülle von innen verschönern kann.

„Alkibiades beginnt sein Porträt des Philosophen mit einem Vergleich: Äußerlich betrachtet kommt ihm Sokrates vor wie ein Silen oder wie der Satyr Marsyas – stupsnasige mythische Gestalten mit breiten Gesichtern und Stirnglatzen, die körperlich weit vom klassischen griechischen Schönheitsideal entfernt sind. Sein Inneres aber ist göttlich und golden: Dort sind Götterbilder zu sehen für den, dem er sich öffnet. Mit der Gewalt seiner Worte kann Sokrates Menschen so bezaubern wie Marsyas, ein hervorragender Flötenspieler, mit seinem Instrument.“

Das ist die Vorlage zur Bewertung der Kunst. Äußerlich mag sie die anziehende oder abstoßende Wirklichkeit schildern, wie sie will, innerlich aber ist sie schön, denn sie ist wahr. Sie hat die Kraft bewiesen, nichts zu überhöhen oder zu dämonisieren, sondern darzustellen, wie es ist. Diese Fähigkeit ist alles andere als distanziert und gleichgültig, unauffällig nimmt sie Anteil am Geschilderten.

Objektivität ist nie neutral, sondern nimmt Partei für eine Wirklichkeit, die es wert ist, wahrgenommen zu werden, sie mag äußerlich abstoßend sein, wie sie will. Es ist die Welt des Menschen, die er geschaffen hat und für die er verantwortlich ist. Er kann sich nicht ins Unverbindliche zurückziehen, als ob er mit seiner Geschichte nichts zu tun hätte.

Selbst in der medialen Sensationsformel „only bad news are good news“ lag eine ursprüngliche Wahrheit. Die Wahrheit jener Zeitbeobachter, die stolz waren, auch der schrecklichsten Realität standzuhalten und sie in wirksame Worte zu fassen. Das Gute verstand sich noch von selbst, das Böse aber musste besonders wahrgenommen und eingekreist werden, damit das Reich des Guten an den Rändern nicht wegbrach.

Das entsprach dem Selbstgefühl einer weithin intakten Wirklichkeit, für die der pädagogische Satz galt: Nichts gesagt ist auch gelobt. Das Gute musste nicht besonders erwähnt werden, sonst hätte es den Verdacht genährt, das Ganze sei bereits korrumpiert.

Heute, in Zeiten der Auflösung traditioneller Moral, versteht sich das Gute nicht mehr als alltägliche Norm. Weshalb die Spiegelung der Realität nicht mehr einseitig sein darf. Wenn alles Selbstverständliche und Gewisse zerbricht, weiß kein Mensch mehr, wie die Welt wirklich beschaffen ist.

In solchen Zeiten der Ungewissheit versteht sich nichts von selbst, weshalb es die Pflicht der Beobachter wäre, alle Elemente angemessen zu gewichten. Würde das Schlechte weiterhin als vorherrschend geschildert, müsste jeder Leser den Schluss ziehen: die Welt muss unrettbar im Argen liegen. Hat sie noch eine Chance, sich zu erneuern und zu humanisieren – oder müssen wir alle Hoffnung fahren lassen?

Die Einschätzung der Wirklichkeit hat enorme politische Folgen. Fühlt sich der Leser in Sicherheit, wird er eine Regierung bevorzugen, die das Schifflein gelassen durch die ruhige See steuert. Fühlt er sich gefährdet, wird er einen Kapitän bevorzugen, der riskante Gewaltmanöver durchführen will, um Wogen, Seeräubern oder sonstigen Gefahren zu begegnen.

Heute bewegt sich das deutsche Schiff in immer größeren Gefahren. Von allen Seiten schlagen politische und natürliche Brecher über Bord – und was treibt die mächtige Frau am Steuerrad? Fliegt in der Weltgeschichte umher und tut, als wäre nichts. Die Deutschen brauchen diese simulierte Gelassenheit, um von ihr auf die Wirklichkeit zu schließen. Oh wie schön ist Panama!

Doch die Kanzlerin hat‘s mit der Scheingelassenheit übertrieben. Die Rechten haben ihr Vertrauen in die mimische Darstellungsfähigkeit der Kanzlerin verloren. Je mehr jene verstummte, desto wütender wurden diese, weil sie Vertuschungsmanöver vermuteten.

Wie hässliche Menschen anziehend sein können, so können schöne Menschen abstoßend sein, weil sie ihre Umgebung mit Arroganz und Hochmut drangsalieren. Es gibt viele Tabus in dieser Gesellschaft. Eine der wirksamsten und rigidesten Tabus ist die ästhetische Beurteilung der Mächtigen.

Sind Kanzlerin und ihre Parteivorsitzende schön? Anziehend, charmant, offen wirkend, intelligent aussehend, vertrauenswürdig, nahbar? Hätte man sie gern als Freundin, ja als Geliebte? Jetzt wird’s gefährlich. Über solche Aspekte lästern Männerrunden, die sich unbelauscht fühlen. Sonst niemand.

Denn hier gilt das umgekehrte Prinzip wie in der Kunst. Dort gilt die Dominanz des Scheins über den Inhalt, hier die Dominanz des Inhalts über den ästhetischen Schein. Käme ein Kommentator auf die Idee, AKK bei einer Schönheitswahl keine Chance einzuräumen, in die engere Auswahl zu kommen, könnte er sich gleich bei Hartz4 anmelden.

Hier liegen verschiedene gesellschaftliche Konditionierungen miteinander im Clinch. Im Bereich des Konsums und der Werbung gilt ausnahmslos das Prinzip: der Schein – der verlockende, verführerische, anziehende – bestimmt den Inhalt, die Qualität des Produkts.

In der Politik aber gilt unausgesprochen das Gegenteil. Der lächerliche Bubi, der wichtigtuerische Heman, das karrieresüchtige Weib, die ansprechende Mutterfigur: solche Kriterien dürfen offiziell keine Rolle spielen. Wenn Trump mit seinem guten Aussehen prahlt, ist er auch hier der Durchbrecher aller Normen, die sich früher von selbst verstanden.

Wo Schönheit überhaupt keine Rolle spielen darf, ist – in der Natur. Im Mittelalter, als die christianisierte Abwertung der Natur immer mehr verinnerlicht wurde, galt die Natur als hexenartig abstoßend, hässlich und gefährlich. Es dauerte mehrere Jahrhunderte, bis sich die Natur wieder jenem Bild der Antike nähern durfte: die Natur als der vollendete Kosmos. Die schönen Skulpturen waren Abbilder der Natur, nicht unbedingt der realen, die auch schon mannigfach beschädigt war, sondern der idealisierten in der exakten Phantasie der Künstler.

Wie lange schon wird die Natur in der Moderne malträtiert und dennoch durfte die christliche Menschheit sich nicht auf ihren ästhetischen Sinn verlassen? Die Minderwertigkeit der gefallenen Natur hatte jeden ästhetischen Sinn der Menschen ramponiert. Wenn Natur ursprünglich nicht schön sein darf, warum sollte man sie nach schönen Kriterien beurteilen?

Die Verletzung des ästhetischen Sinns durch fortlaufende Verhässlichung der Natur hätte früh die Menschen alarmieren müssen. Doch ihre sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit wurde durch naturfeindliche Philosophen am Boden zerstört. Sinnliche Wahrnehmung würde nur den Schein sehen, der Schein aber trügt. Traut euren Augen und Ohren nicht, misstraut eurem Denkvermögen. Glaubt nur eurer Heiligen Schrift. Dort steht, was ihr wahrnehmen sollt: die hässliche Natur ist eine gefallene, zur Strafe müssen ihr alle Knochen gebrochen werden.

Ob die Natur eine gefährdete ist (für die Lebensgrundlagen der Menschen), ist heute ausschließlich die Sache einer naturwissenschaftlichen Bewertung. Sinnliches Wohlfühlen in der Natur oder dessen Abwesenheit wird als subjektive Nichtigkeit verworfen. Objektiv muss sinnenfeindlich und abstrakt sein. Am besten unterlegt mit Zahlen und mathematischen Gesetzen.

Ist das Frieden mit der Natur, wenn wir unseren Sinneseindrücken nicht mehr trauen dürfen? Wem ständig eingebläut wird, seine Sinne würden ihn trügen, der darf ihnen nicht mehr vertrauen. Der schaut immer auf seine Maschinen, die ihm sagen, was er zu sehen und zu hören hat, wo er sich befindet und wohin er steuern muss.

Seine natürlichen Fähigkeiten gelten als so ramponiert, dass sie tatsächlich nichts mehr taugen. Will er wissen, ob es ihm gut geht, lässt er sich Maschinen implantieren, die ihm sagen, ob er sich wohlfühlen darf.

Die natürlichen Empfindungsorgane sind nicht weniger beschädigt als das rationale Denken der Menschen, die sich sagen lassen müssen, dass sie von der Welt nichts verstehen. Die Welt sei zu komplex für ihre simplen Gehirnströme.

In Indien ließ sich die Kanzlerin als das feiern, was ihrem Selbstbild entspricht: als göttliche Königin. „Merkel in Indien – Von Gandhi lernen“ hieß eine Schlagzeile in der SZ. Das war diskriminierend: eine christliche Kanzlerin sollte sich von einem Heiden belehren lassen?

„Wie sie denn die Diskrepanz zwischen Lobpreisung in Delhi und der Kritik in Berlin empfinde, wird Merkel von einer Journalistin gefragt. Hier könnte Gandhi helfen. „Wir müssen stets auf die Kritik an unseren Fehlern und Unzulänglichkeiten hören, nie auf das Lob“, hat er gesagt.“ (Sueddeutsche.de)

Was dachte Merkel über die strenge Regel des legendären Indienbefreiers? „Sie freue sich, dass sie „auch in Deutschland für meine Arbeit sehr viel Unterstützung habe“. Ansonsten müsse man in einer Demokratie eben auch mit Kritik umgehen.“

Wie geht sie mit Kritik um? Sie nimmt sie nicht zur Kenntnis und lässt sich in aller Welt in den Himmel heben. Abschied von der Politik als Gottwerdung einer Unnahbaren.

Die Deutschen brauchen eine Mutterfigur, die sie bemitleiden können. Auf eine geplagte Mutter lassen sie nichts kommen. Die vaterlose Gesellschaft kann sich eine mutterlose nicht mehr leisten.

 

Fortsetzung folgt.