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Von vorne LXXXII

Von vorne LXXXII,

Künstler sind ästhetische Tiefenpsychologen. Wie ein Therapeut das untergründige Reich des Grauens eines Klienten in Augenschein nehmen muss, so macht sich der Schriftsteller auf den Weg, das verborgene Es seiner Gegenwart zu erkunden, um es eindringlich zu protokollieren.

Hier enden bereits die Gemeinsamkeiten – wenn man der herrschenden Kunsttheorie folgt. Denn während der Therapeut der bewusstwerdenden Devise folgt: wo Es war, soll Ich werden, um die Selbstheilung des Patienten anzuregen, will der Literat mit seinem Schreiben – welchem Zweck dienen?

Folgt man Jens Jessen in der ZEIT, darf Kunst keinem anderen Zweck dienen als – Kunst zu sein. Oder, wie die Franzosen seit Beginn des 19. Jahrhunderts deklarieren: Kunst muss l’art pour l’art, um ihrer selber willen sein:

„Die Pointe besteht darin, dass gerade die Abweichung von der Norm die Werke inspiriert und ihnen oft erst den Stachel und das Beunruhigende gibt, das es erlaubt, überhaupt von Kunst zu sprechen (im Unterschied zu einem Leitartikel oder einem Parteiprogramm). Die Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft nicht zu teilen ist Voraussetzung dafür, ihr etwas zu erzählen, was sie noch nicht weiß oder nicht wissen will. Auch reiner Amoralismus kann eine Qualität von Literatur sein. Warum? Nun, gerade weil sich die Gesellschaft keinen Amoralismus leisten kann und der Mensch in ihr nur als gezähmtes, beaufsichtigtes und gefesseltes Wesen vorkommen darf. Von dessen Freisetzung – sozusagen der Auswilderung – kann nur die Literatur erzählen. Es geht immer darum, ein Jenseits der alltäglichen Vorstellungen zu erobern. Die romantisch exaltierte Suche nach dem wahren Wort und der wahren Substanz der Dinge, die dem Normalmenschen verschlossen bleiben und sich nur dem Dichter-Seher erschließen, muss einem nicht sympathisch sein.“ (ZEIT.de)

Pardauz, schon ist die l’art pour l’art vom Tisch. Jessens Kunst folgt einem außerästhetischen Imperativ. Dem Imperativ, der Gesellschaft etwas 

 zu erzählen, „was sie noch nicht weiß oder wissen will“. Warum muss die Gesellschaft etwas wissen, was sie nicht wissen will? Ist das keine Moral, der Gesellschaft vorzuschreiben, was sie wissen soll, damit sie ihrer Borniertheit entkommt? 

Die Gesellschaft befindet sich in einem beklagenswerten Zustand. Sie ist „ein gezähmtes, beaufsichtigtes und gefesseltes Wesen“. Par bleu, welcher Hulk hat die arme Gesellschaft derart zugerichtet? Überflüssige Frage, scheint Handkes kunstliebenden Verteidiger nicht zu interessieren.

Die Gesellschaft ist moralisch abgerichtet, sie geht in Fesseln übermäßiger Vorschriften. Da kommt der Literat wie ein Befreier, der die Türen zum Verließ aufbricht, die Gefangenen von den Fesseln befreit, um ihnen den Weg in die Freiheit zu bahnen. Da hören wir schon den Jubel des Gefangenenchors beim Anblick der so lange vermissten heimatlichen Gefilde:

„O welche Lust, in freier Luft, Den Atem leicht zu heben!
Nur hier, nur hier ist Leben, Der Kerker eine Gruft.“

Kunst wäre, was Platon (kein Freund der Kunst) Philosophie oder Paideia nennt, die Erziehung des Menschen zu einem wahren und besonnenen Gemeinschaftswesen, das sich aus seiner Höhle befreit und den Aufgang zur Sonne, der Metapher für Weisheit, antritt.

Sokrates: „Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde.“ (Staat, siebentes Buch)

Erst im Licht der Sonne kann man die Dinge der Welt erkennen, wie sie sind. Ein befreiender, aber mühsamer Prozess. Die Höhlenbewohner hatten sich an Dunkelheit, Schmerzen und eine verkehrte Realität gewöhnt. Nun müssen sie sich eingestehen, dass sie eine unwahre Welt kannten. An die wahre müssen sie sich erst gewöhnen. Das ist der Sinn der Erziehung oder eines denkenden Menschwerdens.

Moralischer also kann keine Philosophie sein als Jessens Kunst – und dennoch darf sie keine Moral sein? Wir stehen vor einem Rätsel.

Wäre Moral ein Kriterium der Kunst, dürften selbst große Schriftsteller nicht als Künstler anerkannt werden:

„Also auch Goethe verwerfen? Aber dann gerechterweise nicht nur ihn, sondern gleich viele aus der ersten Garde der Weltliteratur – wegen Unzucht mit Minderjährigen (Goethe), Verharmlosung von Prostitution (Zola, Houellebecq), Demokratieverachtung (Flaubert, auch der späte Heine, erst recht die kommunistischen Dichter), wegen mangelnden Sinns für die Lage der arbeitenden Massen.“

Kunst ist, nach Jessen, „Freisetzung“, ja „Auswilderung“. Freiheit wäre demnach die Lizenz zum Verwildern. Klingt nach Platon? Nein, klingt nach Hayeks Neoliberalismus, für den Freiheit ungezügeltes Wirtschaften und Beutemachen ist. Leben nach demokratischen Regeln ist für Hayek Freiheitsentzug, nur Abwerfen der Regeln wahre Freiheit.

Unvermutet stehen wir vor dem Naturrecht der Starken, den Rechtsvorstellungen jener Vornehmen, Reichen und Adligen, die die Gleichheitsregeln der neuen Demokratie als bedrückenden Freiheitsentzug erlebten und – dagegen wüteten.

Demokratie, so die Eliten, hasse jede Form von Überlegenheit an Macht, Besitz oder Bildung. Es sei nur zu begreiflich, „dass vornehme, kraftvolle und geistig hochstehende Persönlichkeiten diese Massenherrschaft als ein drückendes Joch empfänden, das sie abzuschütteln suchten. Die ganze Staatsverfassung sei auf den Vorteil der schlechten Leute eingestellt, die sich auf Kosten der rechten, geistig überlegenen Leute amüsierten.“ (Wilhelm Nestle)

Erst, wenn die Fesseln dieser Plebejermoral abgeschüttelt wären, öffnete sich der Blick auf das „Jenseits der alltäglichen Vorstellungen“. Dann würde man das „wahre Wort und die wahre Substanz der Dinge“ erkennen. Die wahre Welt wäre jenseits des moralischen Käfigs der Mittelmäßigen und Spießer.

„Wahre Welt“ ist platonisch, Chaos und Anarchie sind antiplatonisch. Nach Platon, der hier sokratisch denkt, ist Freiheit identisch mit einem Leben in selbstauferlegtem Recht und Gesetz. Denn Freiheit ist nicht der unbegrenzte Spielraum überlegener Einzelner, sondern die Freiheit des Einen, identisch mit der Freiheit des Anderen. Freiheit ist das Miteinander der Gleichen und Gleichwertigen.

Eine autonome Moral scheint Jessen nicht zu kennen. Alles, was nach Verbot und Einschränkung aussieht, ist für ihn des Teufels. Auch der Unterschied zwischen heteronomer und selbstbestimmter Moral ist ihm unbekannt.

Ein Dichter muss Seher oder Prophet sein, darunter macht es Jessen nicht. Woher kommen Jessens amoralische Moralvorstellungen? Aus der Heiligen Schrift, wo das Transzendente die antinomische Freiheit Gottes ist. Jessen, Befürworter anarchischer Regellosigkeit des Künstlers, steht auf heiligem Boden.

Ezra Pound, Anhänger Mussolinis, wird flugs zum Grenzfall oder zur Ausnahme erklärt, der die Regel bestätigt. Mit welchem Argument? Mit keinem.

Hier verrät ein Edelschreiber unfreiwillig seine elitäre Zugehörigkeit. Unterhalb der Etage der Besten waltet der Pöbel, dessen „prüde Plüschwelt des 19. Jahrhunderts … derzeit zurückkommt, insofern auch die gegenwärtige Kunstaufsicht eher von der Gesellschaft ausgeht als vom Staat. Selbstverständlich ist es der Gesellschaft erlaubt, sich über einen Dichter das Maul zu zerfetzen. Nur ist dies kein Beweis für die Nichtswürdigkeit eines Künstlers als Künstler. Es ist einzig und allein ein Beweis dafür, dass die Gesellschaft tut, was sie immer schon getan hat – Außenseiter und Abweichler als Sünder zu behandeln. Dass die Gesellschaft dabei als Sachwalterin einer höheren Moral auftritt, zeigt nur, dass sie sich heute wie ehedem aus Pharisäern und Philistern zusammensetzt, aus Menschen kurzum, die keine andere Idee von sich entwickeln können als die, im Recht zu sein.“

Das ist das Glaubensbekenntnis eines Herausgehobenen, dessen Stärke nur in der dünnen Luft einer totalen Anarchie – oder auf einer göttlichen Hochebene – existieren kann. Das ist zugleich die Hochebene des Übermenschen à la Nietzsche:

„Nietzsche redet nicht ohne Grund soviel von dünner Luft, da er nur noch in den Höhen der Schweizerberge existieren konnte, weil er die dichtere Luft der deutschen Ebene, wo das Rad der Weltgeschichte rollt, nicht mehr ertragen konnte.“ (R. Krümmel)

Nicht Eliten haben die Moral des Pöbels erfunden, es ist der Pöbel, dem es gelungen ist, die Starken an die Ketten einer schäbigen Philister-Moral zu legen. Die normierte Gesellschaft erträgt die Heroen des Geistes (und Mammons) nicht. Alles muss sie auf ihr niedriges Niveau herabziehen, weil sie es nicht erträgt, den Kopf nach oben zu richten und Menschen in ihrer Freiheit und Ungebundenheit wahrzunehmen.

Kunst ist das einzige Areal, in der die Normierten und Nivellierten jene letzten Übermenschen sehen, an denen sie das Jenseitige und Prophetische wahrnehmen könnten. Das einzige Areal?

Jessen täuscht sich. Er vergisst die Übermenschen des technischen und wirtschaftlichen Triumphs. Seine Kollegen aus dem Wirtschaftsressort werden nicht müde, den Sozialneid der Zukurzgekommenen gegen die Tycoons zu missbilligen. Kapitalismuskritiker sind unfähig, die Sonderklasse der vom Himmel Geküssten neidlos und bewundernd anzuerkennen. Alles Außerordentliche ziehen sie auf ihr erbärmliches Niveau herunter.

Die demokratische Gesellschaft muss alles, was sie in den Schatten stellt, als Ketzer und Sünder, Außenseiter und Abweichler, an den Pranger stellen. Wehe denen, die sich über das Mittelmaß erheben.

Jessens Verachtung des neiderfüllten, keine wahre Größe anerkennenden, niederen Plebs ist keine Ausnahme. Sie ist exemplarisch für die Nachkriegseliten, die die Geistlosigkeit der jungen Demokratie nicht mehr ertragen. Zu feige für einen Angriff mit offenem Visier, bevorzugen sie Attacken aus verdeckten Richtungen. Zumeist unter dem Deckmantel überlegener Amoral. Demokratie wird zur Herrschaft eines moralisierenden Pöbels, der sich über alle Amoralisten erhaben fühlt.

Setzt man Moral mit Humanität gleich, gilt der Angriff der Amoralisten auch den Humanisten:

„Helmut Plessner ein Hauptvertreter der Philosophischen Anthropologie, kritisierte am „Wertekonstrukt“ des Humanismus, dass es die „überhebliche Auffassung“ impliziere, andere Kulturen zu missionieren und „Menschlichkeit erst beibringen“ zu wollen. Damit knüpft Plessner implizit an die Kritik Jesu von Nazaret an der Selbstgerechtigkeit der „Pharisäer“ an. Zu beachten ist nämlich, dass nach christlicher Auffassung alle Menschen „Sünder“ sind. Folgerichtig mahnt Jesus der Bibel zufolge: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

In seinem berühmten Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner kritisiert Jesus die moralische Überheblichkeit der Pharisäer und rühmt das zerknirschte Sündenbewusstsein des Zöllners:

„Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“

Bis heute brüsten sich Christen ihrer Demut, um sich den hochmütigen Pharisäern, Inbegriff gesetzestreuer Juden, überlegen zu fühlen. Hier überschlägt sich das Prinzip der Überlegenheit, indem die tonangebende Überlegenheit durch die neue Überlegenheit der Demütigen ad absurdum geführt wird.

Das ist es, was Nietzsche mit der Umwertung aller Werte gemeint hatte: der Stolz der Heiden und Juden auf ihr jeweiliges Wohlverhalten wurde übertroffen vom christlichen Stolz der Selbsterniedrigung. Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich erniedrigt, wird erhöht. Keine Rede, dass der Wettbewerb um die beste Moral durch die eitle Demut der Christen beendet werden sollte. Dabei wird nicht der Inhalt der konkurrierenden Moralen verglichen, sondern nur die Tatsache, dass die eigene Moral die fremde übertreffen und beschämen soll.

Im heidnischen Griechenland galt das Prinzip des Agons, des offenen Wettbewerbs: „Immer der Erste zu sein und voranzustreben den anderen.“

Das Kräftemessen galt nicht nur kriegerischen und sportlichen Disziplinen, sondern wurde auf alles ausgedehnt, was miteinander konkurrieren kann. Politisches Streiten führte zur Volksversammlung, in der jeder eine Stimme hatte, führte zur öffentlichen Gerichtsverhandlung, in der die Parteien ihre unterschiedlichen Meinungen vortragen konnten – und zum Dialog auf dem Marktplatz, wo die besseren Argumente siegen sollten.

Pharisäer den Zöllner hätten ein offenes Streitgespräch über die beste Moral führen sollen. Stattdessen gehen sie in Verachtung aneinander vorbei und machen alles in einsamer Eitelkeit vor Gott aus. Da Gott eine wunscherfüllende Projektion ist, kann sich jeder vor Gott als Sieger fühlen. Vor Gott sind alle, die ihn erfunden haben, stets die Ersten. Weshalb sie ihn ja erfunden haben.

Wäre all dies nur die Eitelkeit rivalisierender Religionen, dürften wir uns freundlich verabschieden. Denn das könnten die Erleuchteten unter sich ausmachen. Wenn‘s aber ans Politische geht, wird’s brisant.

Wenn demokratische Humanisten nicht mehr den Mut haben – wie zunehmend deutsche Regierungsmitglieder in autoritären Staaten –, Verletzungen humaner Menschenrechte anzusprechen und sich für Regimegegner einzusetzen, ist es mit der moralischen Überlegenheit des Westens vorbei.

Richtig gelesen: es gibt eine moralische Überlegenheit. Um sie muss gestritten werden. Nicht mit Schwatzen und Plappern, sondern mit vorbildlicher Tat. Die Völker sollen dann beurteilen, welcher Moral sie anhängen wollen.

Woher kommt es, dass rund um den Globus die Bevölkerungen auf die Straße gehen, um ihren desaströsen Eliten die rote Karte zu zeigen? Weil sie ein humanes Leben führen wollen. In Freiheit und gleicher Würde. In Chile, im Libanon, in Algerien und Marokko, im Irak stehen sie auf gegen ihre Unterdrücker und fordern ihre Menschenrechte.

Seltsam, sie haben keine Probleme, ihre Rechte für die besten zu halten. Sie sind so arrogant, ihre Menschenrechte für besser zu halten als die Rechte angeblicher Eliten, die ihre Völker übers Ohr hauen.

In allen Dingen gibt es Rankings, nur nicht in den wichtigsten: Welche Moral ist die humanste? Welche Politik die freieste und gerechteste? Welche Verfassung die menschen-würdigste?

Wer ist der Schnellste, der Reichste, der Risikovernarrteste, der Erste auf dem Mars, der Unverschämteste, Pädophilste, der Mörderischste, der Gierigste, der frechste Lügner, der unberechenbarste Amokläufer, der schmierigste Frauenverächter, die Demütigste, die sich erniedrigt, um erhöht zu werden?

Die Völker müssen streiten, welcher Moral sie folgen wollen. Sie wollen ihre Moral selbst bestimmen, nicht länger den Kommandos ihrer Regimes oder diverser Götter und Priester folgen.

Macht doch mal eine terrestrische Umfrage, die ihr sonst alles von den Menschen wissen wollt, nur nicht das Entscheidendste. Fragt, welche Moral die humanste ist, die Mensch und Natur in Frieden miteinander leben lässt. Über jeden Unsinn habt ihr endlose Zahlenkolonnen gesammelt, nur nicht über die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens und Überlebens.

Als der Versailler Vertrag noch nicht verkündet war, waren die Deutschen noch guter Dinge beim Übergang von Kaiser Willem zur Demokratie. Im SPIEGEL erklärt ein Historiker die hoffnungsvolle deutsche Mentalität der ersten Stunde – die bald ins Gegenteil umkippen sollte:

„Sozialdemokraten und andere Republikaner wollten der Welt ein Beispiel dafür geben, wie Demokratie mit sozialer Wohlfahrt einhergehen könnte. Das Erbe von Goethe und Schiller, das deutsche Bildungsgut, sollte sich mit politischer Teilhabe und Sozialstaat verbinden.“ (SPIEGEL.de)

Wie meinen? Deutsches Bildungsgut? War die geistige Atmosphäre in Deutschland demokratie- und humanitätsfreundlich? Waren deutsche Denker und Dichter Moralisten, Befürworter eines gleichberechtigten Volkes? Wer denkt bei Weimarer Republik nicht an die Weimarer Klassik?

Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.

Heil den unbekannten
Höhern Wesen,
Die wir ahnen!
Ihnen gleiche der Mensch!
Sein Beispiel lehr uns
Jene glauben.

Denn unfühlend
Ist die Natur:
Es leuchtet die Sonne
Über Bös und Gute,
Und dem Verbrecher
Glänzen wie dem Besten
Der Mond und die Sterne.

Da war der Meister aller Meister noch erfüllt von glühender Menschenliebe – oder? Was aber soll das für eine Menschenliebe sein, die höhern Wesen – die wir nicht kennen und nur ahnen – gleichen soll? Der Mensch soll unbekannten Wesen nacheifern, damit man, bestärkt durch sein moralisches Vorbild, an jene glauben kann? Verrückter und verdrehter geht’s nicht.

Von der Autonomie der Aufklärer hat Goethe nichts verstanden. Moral hat bei ihm nicht den Zweck, das irdische Leben human zu gestalten, sondern das überflüssige Götterproblem zu lösen. Am Schluss der Knaller. Der Mensch hat gut zu sein, um sich abzusetzen von der bösen Natur, die die Sonne scheinen lässt über Gute und Böse. Genau so definierten die Christen ihren Erlösergott. Wie arrogant, sich Gott und Natur moralisch überlegen zu fühlen.

Es gibt kein moralisches Bildungsgut in Deutschland. In seinem Buch „Die deutsche Katastrophe“ des Historikers Friedrich Meinecke versucht der Autor, Rechenschaft abzulegen über die Gründe des deutschen Desasters. Er konstatiert einen jahrhundertealten Massenmachiavellismus in Deutschland. Deutschland hätte den in der „Welt gefährlichsten Massenmachiavellismus in Gestalt des Hitlermenschentums produziert.“

In seinem Buch „Die Idee der Staatsraison“ hat Meinecke die Ausbreitung des Machiavellismus in Europa penibel aufgeschrieben. Bei Goethe wurde generelles Menschenrechtsdenken ersetzt durch die überlegenen Rechte des singulären Genies. Die Geschichte, Schauplatz der Politik, empfand Goethe als Natur und Schauplatz des Bösen, wo man nur überleben kann, wenn man selbst zum Bösen bereit war. Nach der italienischen Reise war er in einer Stimmung, die Meinecke so beschreibt: „Wer mit ihm fortan so dachte, konnte nie mehr wieder zurückfallen in die Methode der Aufklärung und des Naturrechts, das Individuelle zu messen mit dem von außen angelegten Maßstab eingebildeter stabiler Vernunftwahrheiten.“ (Die Entstehung des Historismus)

Ja, bestimmt würde eines Tages die Humanität obsiegen. Dann werde die Welt „zu gleicher Zeit ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter.“ „Damit verstärkte Goethe den herderschen Zweifel am absoluten Werte des Humanitätsideals.“

Mit den universellen Werten der Französischen Revolution konnte er „sich innerlich nicht befreunden.“

1812 bekannte er unmissverständlich: „Ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht, ist mir einerlei. Ich wäre ein Tor, mich darum zu kümmern.“

„Es liegt nun mal in meiner Natur: Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung zu ertragen.“

Bei einem Gespräch mit Kanzler Müller rechtfertigte er das Zugreifen Preußens bei der polnischen Teilung, verwarf das Urteil der „gewöhnlichen platten moralischen Politiker“ und erklärte: „Kein König hält Wort, kann es nicht halten, muss stets den gebieterischen Umständen nachgeben… Für uns arme Philister ist die entgegengesetzte Handlungsweise Pflicht, nicht für die Mächtigen der Erde.“

Goethe war kein Außenseiter mit seiner elitären Amoral. Wie er dachten fast alle großen Dichter und Denker. Das also ist die gefühlige Moral, in der die Deutschen versanken.

Machiavelli war der machtpolitische Stern der deutschen Intellektuellen der Neuzeit. Nachdem sie lange genug Spielball anderer Mächte waren, wollten sie nichts mehr anbrennen lassen.

Im Zeichen ästhetischer Moralbereinigung wird Machiavelli heute schon wieder vom Bösen freigesprochen. Herfried Münkler ist nicht der einzige Entschärfer des bedingungslosen Machtstrategen:

Dirk Hoeges geht davon aus, dass die Kritik Machiavelli verfehlt. „Das gilt für die Rezeption durch die Jahrhunderte, durch Aufklärer wie Voltaire und Friedrich den Großen, der vor lauter Moral und Rechthaberei den literarischen Verstand verlor; das gilt für den Faschismus in der Person Mussolinis und für manchen selbstgerechten Demokraten. Eifern, Geifern, borniertes Moralisieren, billige Empörung, Textgestocher, Usurpation und Blütenlese auf allen Seiten; dabei ist vom Schriftsteller, Dichter und Virtuosen in Sprache und Stil nirgends die Rede. Von Machiavellis Leiden an seiner Zeit ganz zu schweigen. Die Geschichte seines Werks ist die Geschichte seiner Ausbeutung.“ (Wiki)

Der Therapeut benutzt das Aufklären des Unbewussten, um den Patienten von der Repression amoralischer Triebregungen zu befreien. Sein Verstehen des Es ist keine Billigung. Im Gegenteil. Die Ich-Vernunft soll gestärkt werden, damit die irrationalen Es-Triebe kontrolliert werden können.

Auch der Schriftsteller will das Verdrängte und Verdunkelte der Zeit aufhellen. Doch jetzt entscheidet es sich. Soll sein Verstehen ein moralfreies Billigen sein? Darf Kunst nichts beitragen zur Humanisierung der Menschheit? (Was allerdings auch ein moralischer Akt wäre: ein Billigen der Amoral.) Oder soll die ästhetische Leistung ein Beitrag sein zur Stabilisierung der Gesellschaft durch Selbsterkenntnis?

In einer Demokratie gibt es viele Berufe und Arbeitsteilungen. Doch was immer die Einzelnen tun mögen, im Nebenberuf bleibt jeder ein zoon politicon. Selbst, wenn Künstler sich als Künstler mit Moral nicht beflecken wollten: als Demokraten müssten sie ihren politischen Pflichten nachkommen – wenn sie nicht als verantwortungslose Mitläufer oder gar ästhetisch verbrämte Gegner der Demokratie gelten wollten. Schriftsteller haben dasselbe Problem wie Journalisten. Schreiben, was ist, genügt nicht. Wer keine Stellung bezieht, segnet ab, was ist. Wer das Aufkommen des Nationalsozialismus kommentarlos beschrieben hätte, wäre Mitläufer oder heimlicher Sympathisant gewesen.

Derselbe Friedrich Meinecke, der das Machtdenken des großen Olympiers beschrieb, gab den Nachkriegsdeutschen – welchen Rat, um ihr machiavellistisches „Bildungs-Gut“ zu überwinden? Allerorten sollten sie „Goethegemeinden“ einrichten.

„Den Goethegemeinden würde die Aufgabe zufallen, die lebendigsten Zeugnisse des großen deutschen Geistes durch den Klang der Stimme den Hörern ins Herz zu tragen. Goethegemeinden sollten zur festen Einrichtung werden. Etwa wöchentlich zu einer späten Sonntagsnachmittagsstunde – und wo es irgend möglich wird, sogar in einer Kirche.“

 

Fortsetzung folgt.