Kategorien
Tagesmail

Von vorne LXXVI

Von vorne LXXVI,

„Dann sprach er vom „Schluchzen eines Kindes„, das sei für ihn ein Wert. „Die Augen der Menschen sind ein Wert, die Blicke, die Augen. Und nicht die europäischen Werte.“ Pause. „Arschlöcher.““ (WELT.de)

„“Niemand darf überleben.“ Seine Einheit habe das Dorf mit einer Kanone beschossen, Häuser durchkämmt und in Brand gesetzt und 15 unbewaffnete Zivilisten in einem Bauernhof zusammengetrieben, schilderte er. Die Frauen, Kinder und älteren Männer hätten jede Verbindung zur sogenannten Kosovo-Befreiungsarmee (UCK) lebhaft bestritten. Dennoch habe sein Feldwebel ihm und etwa zehn anderen Soldaten befohlen, die Leute auf der Stelle zu erschießen. Dies hätten sie getan, räumte der Zeuge ein. „Ich erinnere mich noch lebhaft des Babys. Es wurde von drei Kugeln getroffen und schrie unglaublich laut„.“ (SPIEGEL.de)

Kindliches Schluchzen allein genügt nicht, um die Empfindsamkeit des Dichters zu erregen. (Pardon, die „Neoempfindsamkeit“. Ohne Neo… dürfen Begriffe heute nicht mehr verwendet werden, wenn sie nicht alt aussehen wollen.) Das Kind muss vom Kairos der richtigen Volkszugehörigkeit geküsst sein.

Rechten Kairos kann man nicht definieren, man muss ihn ahnen und empfinden. Ach geh, an der Hautfarbe liegt es nicht. Selbst Kinder von Zulukaffern können wahre Empfindungen auslösen:

„Ich glaube, auch bei den Zulu-Kaffern, entschuldigen Sie das Wort, da machen die Kinder ein herrliches Geräusch, wenn sie Hüpfschritte machen, sogar auf dem Asphalt, vielleicht sogar besser auf Asphalt. Oder was auch immer.“

Sollte das Kind jedoch zur falschen Seite gehören, kann es – wenn es füsiliert wird – so laut brüllen, wie es will: es wird dem Schreihals nichts nützen. Der Quälgeist muss weg.

Wundersame Jagdszenen aus der Befreiung des Abendlands von

seinen Werten. Herr, es ist Zeit, die Gleisnerei war sehr hoch. Leg Deinen Schrecken auf die Rolexuhren und auf den Fluren lass die Verwüstung los.

Nichts kommt unvorbereitet, die Menschen können sich als Schlafwandler stellen, wie sie wollen. Nichts fällt vom Himmel, alles hat seine Brut- und Gebärzeit. Freilich, wer das Schluchzen des auserwählten, das Gebrüll des verdammten Kindes nicht hören will, der wird auch nicht mitkriegen, wann die Kriegssirenen zu heulen beginnen.

Die beiden Brüder im Geiste haben den Nobelpreis verdient – den Nobelpreis für rückhaltlose Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und unverstellte Offenheit. Oder für die Ausrottung des Alten. Die Beiden halten dem Westen den Spiegel vor und zeigen in Wort und Tat, was hinter dem ganzen Werte-Schleim steckt: Hass und Herrschenwollen, Prassen und Vergeuden, Pflanzen und Tiere ausrotten, Menschen verelenden und verrecken lassen.

Kurz: das Bemühen, die Erde von der Menschheit zu befreien. Der Planet wird es ihnen ewig zu danken wissen.

Im Weißen Haus und in der poetischen Klause ertragen die Beiden nicht, wie die Menschheit blind ihrem Verhängnis entgegentaumelt. Kann man sich vorstellen, die klügste Gattung der Evolution müsste Abschied nehmen für immer – und niemand hätte geahnt, warum?

Deshalb sind die Beiden so notwendig für die Selbsterkenntnis der Menschen. Sie zertrümmern alle Fassaden, zerreißen alle Tugendkostüme und zeigen dem Menschen, wie er wirklich ist: von allen Tugendphrasen und abendländischen Werten befreit, in illusionsloser Unfähigkeit, menschlich zu sein.

Der eine verrichtet die Herakles-Arbeit gegen die Diktatur der Guten im Augiasstall der Kunst, der andere im Augiasstall der Politik. Nein, Erfinder dieser planetarischen Säuberung sind sie nicht. Sie könnten auf alte Traditionen verweisen, in deren Spuren sie laufen. Doch sie legen Wert auf Unvergleichlichkeit. Sie sind nicht nur die Größten, sie sind auch die Einmaligen.

Dabei handeln sie nicht auf eigene Faust. Ihr Auftrumpfen täuscht, ihre Hybris ist eine Art Bescheidenheit. Viele wollen es nicht wahrhaben, doch die Beiden – dienen. Sie sind einem Höheren verpflichtet als sie selber sind. Damit gehen sie freilich nicht hausieren. Selten gewähren sie Einblick ins Allerheiligste.

Der eine fühlt sich als von Gott Erwählter, um den Ruhm seines Volkes in aller Welt zu verbreiten.

Der andere gewährt – nach längerem Fragen – einen verblüffenden Blick in sein Inneres:

„Man kann es nur streifen. Wenn jemand nur sagt, er sei religiös, geht mir das auf die Nerven. Wenn er nicht erzählt, was das ist. Das Erzählen ist das Entscheidende. Wenn ich an der heiligen Messe teilnehme, ist das für mich ein Reinigungsmoment sondergleichen. Wenn ich die Worte der Heiligen Schrift höre, die Lesung, die Apostelbriefe, die Evangelien, die Wandlung miterlebe, die Kommunion und den Segen am Schluss „Gehet hin in Frieden!“, dann denke ich, dass ich an den Gottesdienst glaube. Ich weiß nicht, ob ich an Gott glaube, aber an den Gottesdienst glaube ich. Die Eucharistie ist für mich spannender, die Tränen, die Freude, die man dabei empfindet, sind wahrhaftiger als die offizielle Religion. Ich weiß, ich habe, wenn ich das sage, eine Schattenlinie übersprungen, aber dazu stehe ich.“ (ZEIT.de)

Vor der Welt geben sie sich auftrumpfend, dreist und obszön, vor dem Himmel sind sie lammfromm und untertänig. Die amerikanischen Gläubigen sind stolz auf den Mut ihres Rädelsführers, der ganzen Welt Paroli zu bieten.

Die katholische Kirche seiner österreichischen Heimat rühmt seinen Kampf gegen politische Korrektheit und demokratische Heuchelei:

„Die Ehrung sei „mehr als verdient“ und sei jenseits einer überzogenen political correctness der literarischen Qualität des Schriftstellers geschuldet, nahm Tück Bezug auf die umstrittene Haltung Handkes zur serbischen Politik im Gefolge des Ex-Jugoslawien-Krieges. Das Oeuvre Handkes sei zutiefst von dessen katholischer Sozialisation geprägt, es fänden sich in den Romanen und Stücken zahlreiche biblische und auch liturgische Anspielungen und Verfremdungen. Schon im Schauspiel „Publikumsbeschimpfung“ von 1966 lautet Handkes Anweisung an die Darsteller, sich bei der Aufführung an katholischen Litaneien zu orientieren. Wer versucht zu glauben, dem hat Handke einiges zu sagen, erinnerte Tück als Beispiel an einen Satz des Poeten, der einen Kontrapunkt zur heute oft allzu auf Anklage und Leid ausgerichtete Gottesrede setze: „Warum bist DU nicht da?“, lautet nach den Worten Handkes die Frage Gottes in ihm.“ (Ein katholischer Theologe) (kath.net)

Weil er Gott vermisst, braucht er den Gottesdienst mit dem Wunder der Wandlung. Gelegentlich braucht er noch mehr.

Beide Athleten der Ehrlichkeit halten nicht viel von Frauen – doch nordkoreanische Diktatoren oder sonstige Faschisten wärmen ihnen das Herz.

Der Heros des Schreibens ist einer,

„der sich äußerst abfällig über Frauen und #MeToo äußerte, ein Autor, der zugegeben hat, einen Kritiker geschlagen zu haben. Ein Autor, der in einem Gespräch sagte, er fühle sich „dem Hitler als Mensch“ gelegentlich „sehr nahe“, er fühle außerdem manchmal eine „tiefe, perverse Sympathie für die faschistische Gewalt, die aus der Verzweiflung kommt“. Und ein Autor, der auf der Trauerfeier für einen Diktator eine Rede hielt.“ (SPIEGEL.de)

Höchste Zeit, den abendländischen Augiasstall von 1000-jähriger Bigotterie zu reinigen. Die Mächtigen sind stolz auf abendländische Werte – und prämiieren einen Literaten, der Werteprediger für Arschlöcher hält. Ist das nicht Doppelmoral in Vollendung?

Der ganze Westen predigt Menschen- und Völkerrechte. Doch mit Ländern, die auf diesen Werten herumtrampeln, treiben sie muntere Geschäfte, machen sich von ihnen abhängig, hofieren sie um die Wette, unterwerfen sich in bedingungsloser Loyalität.

Was aber ist political correctness? Durch viele Nuancen hindurch hat sich die Grundbedeutung herausgemendelt:

„Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz erklärte, unter dem Deckmantel der politischen Korrektheit werde „die Meinung an die Moral gebunden“ und die Gesellschaft zum Opfer eines politisch motivierten „Tugendterrors“. (Wiki)

Der Begriff setzt sich zusammen aus Moralismus und Heuchelei, aus Sprachhygiene und Sozialkitsch. Man könnte es kürzer sagen: alles, was keine machiavellistische Interessenpolitik ist, muss moralische Heuchelei sein.

Ist Moral an sich schon eine Heuchelei? Das wird heute von herkulischen Moralbefreiern behauptet. Bislang galt Nichtübereinstimmung von Wort und Tat als Heuchelei. Da moralische Forderungen zumeist radikal daherkommen, ist es einfach, Moralisten als Heuchler zu bezeichnen. Denn es gibt niemanden, der seine eigenen Forderungen vollständig erfüllen könnte.

Schon hier müssten wir unterscheiden zwischen jenen, die aus ihrer Unvollkommenheit kein Hehl machen und ihre Defekte selbstkritisch zur Kenntnis nehmen. Was sie nicht daran hindert, ihre moralischen Fähigkeiten ständig zu verbessern. Für Selbstkritische sind nur jene Heuchler, die den Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit, Wort und Tat hartnäckig leugnen.

Wie aber sind Christen zu bezeichnen, die maximale Forderungen stellen, selbst aber unfähig sind, ihre Maßstäbe zu erfüllen – und dennoch der Meinung sind, sie seien perfekt. Weil Gott selbst das Wollen und Vollbringen bei ihnen zustande bringe. Sie seien dazu nicht in der Lage. Gottes stellvertretendes Tun dürfe man aber nicht missverstehen. Auch der beste Christ bleibe ein Sünder. Dennoch sei er ein Vollkommener: simul justus et peccator, gerecht und Sünder zugleich.

Wer den Christen an den Karren fahren will, kann sie für göttlich abgesegnete Heuchler halten. Zwischen Reden und Tun klafft ein riesiger Abstand, den sie durchaus nicht verringern müssen, auch nicht können – um sich dennoch in Gottes Schoß vollkommen zu fühlen. Der Welt predigen sie unerreichbare Forderungen, ihre Lebenspraxis hingegen erscheint wie das pure Gegenteil.

Dies ist der Grund, warum der christliche Westen in aller Welt als Heuchelkultur abgelehnt wird. Spuren imperialer Christianisierung versuchen die einstigen Kolonialstaaten zu tilgen, um ihre früheren Wurzeln auszugraben. Der Westen erscheint dem Rest der Welt als Club der Bigotten.

Wirtschaft und Technik des Westens werden von ihnen aus Erfolgsgründen übernommen, alles andere wird zurückgewiesen. Menschen- und Völkerrechte – die von der Kirche als ihre Erfindungen ausgegeben werden – werden abgelehnt, um den Einfluss des Westens zurückzudrängen.

Wie konnte es so weit kommen, dass der Westen zu einem riesigen, dominanten Heuchelclub verkam?

Solange die Völker im Mythos ihrer Götter lebten, gab es keine Moral, die das Gute vom Bösen unterscheiden konnte. Götter tun, was sie tun – und alles ist perfekt. Erst als die Menschen spürten, dass göttliche Vollkommenheit ins Verderben führte, weil Ununterschiedenheit von Gut und Böse ihre Welt zerstörte, begannen sie, sich von ihren Göttern zu befreien und ihre eigene Moral zu entwickeln. Das war in Griechenland der Übergang vom Mythos zum Logos.

Bei Bauerndichter Hesiod wimmelt es noch von Göttern, doch zunehmend werden sie von menschlichen Moralauffassungen unter die Lupe genommen.

„Die scharfe Hervorhebung der sittlichen Werte, die für das Handeln von Göttern und Menschen als Maßstab dienen und damit zu weltbeherrschender Bedeutung erhoben werden, ist ein charakteristisches Merkmal von Hesiods Dichtung. Er hat den festen Gauben an eine sittliche Weltordnung, die von den Menschen verwirklicht werden soll. Durch das Rechtsgefühl, mit dem das sittliche Gefühl aufs engste verschwistert ist, unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Darum soll unter den Menschen nicht das Recht des Stärkeren herrschen (siehe die Fabel vom Habicht und der Nachtigall), das in Wirklichkeit Unrecht ist, sondern Recht und Gesetz. Die Vermeidung von Gewalt muss daher den obersten Grundsatz bilden. Nicht durch Bedrückung der Schwachen soll man zu Wohlstand gelangen, sondern durch redlichen Fleiß.“ (Nestle, Griechische Geistesgeschichte)

Das war der Anfang der Moral, die als öffentliches Recht zur politischen Realität wurde. Das Entstehen der Polis ist ohne Moral und Gesetz undenkbar.

Die griechischen Anfänge sind heute gefährdet. Wir sind dabei, zurückzufallen in den Mythos recht- und moralfreier Götter. Die Aversion gegen Moral auf allen Gebieten des Lebens ist mittlerweilen so weit vorangeschritten, dass moralisches Wollen an sich schon als bigott betrachtet wird. Der moralische Mensch wolle sich über den unmoralischen erheben, um ihn als minderwertigen zu verachten.

Das zeigt sich an der Ächtung der jugendlichen Klimademonstranten:

„Den Aktivisten um Neubauer ist die Demokratie zu langsam und ineffizient. Hier schwingt ein dichotomes Weltbild mit, unterkomplex, leider auch gefährlich: Diejenigen, die Neubauer unterstützen, haben es verstanden, die anderen nicht. Und wer es nicht verstehen will, der muss notfalls mit anderen Mitteln überzeugt werden – das ist der Ursprung von politischem Extremismus und außerdem eine Initialzündung für Militanz. „Richtig“ und „falsch“ sind in der Politik Kategorien, die sich in der Regel erst als Ergebnis des Konfliktaustrags herausstellen. In einem pluralistischen Gemeinwesen kann kein Interesse für sich beanspruchen, richtigzuliegen, da damit alle anderen Interessen falsch wären. Ein Diskurs wäre damit überflüssig. Das Gemeinwohl stellt sich aber erst im Nachhinein heraus. Die Forderung ist unterkomplex. Sie impliziert, jedes Individuum wüsste, wann es sich gegen entsprechende Standards entscheidet, das kann in einer globalisierten Welt niemand mehr vollständig überblicken.“ (WELT.de)

Dichotomie (Zweiteilung) der Moral in Gut und Böse, die große Errungenschaft der Griechen nach dem Abkoppeln von Göttern (als die Starken ihre Dominanz verloren), ist nach zweieinhalb Jahrtausenden gefährdet. Moralhasser kennen nicht den Unterschied zwischen religiösem Gut und Böse, wo sich Gott und Teufel gegenüberstehen – und der Autonomie der Menschen, die ihr privates und politisches Leben auf festen Regeln und Gesinnungen gründen. Wie es ohne Gut und Böse weder Recht noch Gesetz geben kann, so auch keine Moral ohne Entweder-Oder. Was moralische Zwischentöne nicht ausschließt – die sich bewerten lassen müssen am kompromisslosen Entweder-Oder.

In der Moderne wird alles getrennt, was zusammengehört und alles verknotet, was nicht vereinbar ist. Warum ist die Lage der Justiz in der BRD zum Schlamassel geworden? Weil niemand es für nötig hält, das Recht durch Volkes Stimme regelmäßig überprüfen und korrigieren zu lassen. Das Volk, Subjekt der Demokratie, soll sich aus allem raushalten. Arbeitsteilige Experten und eng blickende, selbsternannte Wissende haben das Kommando übernommen.

Der theologische Dualismus aus Gut und Böse führt in den Himmel oder in die Hölle. Mit dem Gut und Böse der Demokraten hat er nicht das Geringste zu tun.

In einer freien Gesellschaft gibt es keine Normen von Oben. Jeder ist angehalten, seine Meinung in öffentlichen Debatten überprüfen zu lassen. Das Volk entscheidet – durch Wahlen, Abstimmungen und moralische Sitten –, was gelten soll. Kein Volk befördert jemanden in den Himmel oder in die Hölle.

Zur demokratischen Kompetenz gehört methodisches Streiten, die Fähigkeit, sich mit Argumenten durchzusetzen, ohne hochmütig zu werden – und zu verlieren, ohne das Gesicht zu verlieren. Stattdessen ist jeder gefordert, seinen Irrtum einzusehen und sich erneut auf die Suche nach der Wahrheit zu machen.

Griechisch-römisches Recht hat die Grundlagen des europäischen Rechts geliefert, griechische Moral die römischen Eliten beeinflusst. Leider zu wenig. Die idealen Forderungen kollidierten mit der wachsenden Gewaltpolitik des Imperiums. Durch das Auseinanderklaffen von Moral und politischer Realität kollabierte das Riesenreich.

Auftrat und siegte die christliche Erlösungsreligion, die alles, was dem Menschen misslang, in jenseitiger Vollendung verhieß – wenn die Menschen sich den Vertretern des Himmels beugten.

Erst in den Epochen der Renaissance und Aufklärung avancierte die Moral der Polis zum Verhalten der Gebildeten. Die Gründung moderner Demokratien wäre ohne Wiederkehr des „Naturrechts der Schwachen“ nicht möglich gewesen.

Der totalitäre Druck der Christenmoral auf die europäischen Völker hatte einen derartigen Widerwillen gegen jederlei Art von Moral erzeugt, dass heute niemand mehr autonome Moral von religiöser Despotie unterscheiden kann. An dieser Stelle stehen wir.

Der Kampf gegen die moralische Zucht der Kirchenprediger begann schon im Mittelalter, als die Europäer mit griechischer Kultur immer mehr vertraut wurden.

Das Ergebnis war die Exstirpation der Moral aus allen Kulturbereichen. Aus Wissenschaft, Politik und Kunst wurde Moral herausgeschnitten, um das Tun des Menschen auf wissenschaftliche Objektivität, ästhetische Reinheit und politische Machtinteressen zu stellen.

Naturwissenschaften befreiten sich von der Moral mit Rekurs auf die Naturgesetze.

Geisteswissenschaften folgten der Magie der Naturwissenschaften und befreiten sich von jeglicher Moral.

Weder Kapitalismus noch Marxismus duldeten moralische Überlegungen in ihren berechenbaren Natur- und Geschichtswissenschaften.

Seit Machiavelli begann die Politik sich zu jenen Grundsätzen zu bekennen, denen sie zwar seit jeher gefolgt war, zu denen sie sich aber nie klar und deutlich bekannt hatte. Als die Kirche noch den Staat beherrschte, legte sie Wert auf christliche Regierungsmaximen. Als aber die civitas dei ins Glied zurücktreten musste, begann die civitas diaboli, mit dem uralten „Naturrecht der Starken“ zu regieren. Den Kirchen blieb, bis zum heutigen Tag, nur die Funktion, mit Drohreden den Pöbel still zu halten. Die Oberen – Könige, Adel und Klerus – hausten in moralfreiem Saus und Braus. Aus ihnen wurde inzwischen die globale Elite der Superreichen, die sich alle Demokratien unter den Nagel gerissen haben.

Bleibt noch die Kunst, die sich seit der Französischen Revolution von aller moralischen Bevormundung frei machte. Aus der Bühne als moralische Anstalt wurde ein Hexensabbat verbotener Triebe. Die Darstellung des kollektiven Es wäre sinnvoll, wenn sie der befreienden Bewusstseinsbildung diente. Genau das aber darf sie nicht sein. Kunst als moralisches Therapeutikum? Da schüttelt es die Granden der Kunst, die unumschränkte Alleinherrscher in ihrem Reich sein wollen. Beim Begriff Moral wird jeder Künstler zum Zyniker. Moral ist für ihn nichts anderes als Kastration seiner überschäumenden Phantasie.

Bei den Griechen war noch alles eine Einheit. Die Tragödie zeigte das Leid der Menschen, damit sie daraus lernen. „Leidend lernen wir“. Euripides wollte durch Darstellung des Bösen und Vorbildlichen die Menschen belehren. Aischylos gar wollte das Böse auf der Bühne verbergen: „denn für Kinder ist es der Lehrer, der Weisungen gibt, für die Erwachsenen aber die Dichter.“

Warum hat Marx nicht den antiken Kapitalismus erkannt? Weil moderner Hochmut alles Erfolgreiche selbst erfunden haben will, sowohl das gute wie das böse. Da alles wissenschaftlich sein muss, erkannte Marx nicht den moralisch umkämpften Kapitalismus der Griechen, mit denen er doch sonst so vorzüglich vertraut war.

„Zwar wusste der Adel die Anfänge des Kapitalismus zu nutzen, um dank seiner Überlegenheit den eigenen Grundbesitz auf Kosten der freien Bauern zu vermehren und diese zu Zinsbauern oder gar zu Leibeigenen herabzudrücken. Dadurch schuf er eine Not und eine Erbitterung, die zu den radikalsten Forderungen führte.“ (Pohlenz, Staatsgedanke und Staatslehre der Griechen)

Solon kurierte die ersten kapitalistischen Auswüchse mit – moralisch-politischen Eingriffen:

„Sein Begriff „Tüchtigkeit“ (arete) war, wie der Hesiods, ausgesprochen moralisch und von dem der Rechtlichkeit unzertrennlich, die ihn bei seinem großen Versöhnungswerk als unerschütterlicher Grundsatz leitete.“ (Nestle)

Kapitalismus ist keine natürlichen Gesetzen folgende neutrale Maschine, sondern eine moralische Fehlentwicklung der Gesellschaft – für die großkotzige Moderne ein unwissenschaftlicher Simplizismus.

Wozu hat Nobel seine Preise gestiftet?

„… ein Teil an denjenigen, der am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt hat“ (Wiki)

Nirgendwo in der Debatte um den Nobelpreis wird das Kernproblem definiert: müssen Kunst und Moral sich hassen? Oder hat nicht alles, was ausgezeichnet werden will, die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, seinen Beitrag zum Wohl des Menschen beizutragen? Im SPIEGEL versackt Weidermann in hilflosem Kannitverstan:

„Und dann sah ich Stanišić, diese pathosfreie und dabei umso wuchtigere Rede. Sah, wie wirksam Wörter sind, was für ein Irrsinn es war von Peter Handke, mit seinem übersteigerten Riesen-Ich in den Krieg zu ziehen, Opfer zu verhöhnen, Tatsachen zu leugnen, Täter nach Gefühl freizusprechen. Und dafür seine ganze Sprachkraft zu nutzen. Unverzeihlich eigentlich. Und doch bin ich als Leser innerlich zerrissen.“ (SPIEGEL.de)

Wenn einer seine geniale Kunst als amoralisch versteht: warum begehrt er einen Preis, der für Friedenstifter vorbehalten ist? Literatur, die auf das Niveau hasserfüllter Sprachspiele – mit hintergründig-religiöser Unfehlbarkeit – sinkt, ist eines moralischen Preises nicht würdig.

 

Fortsetzung folgt.