Kategorien
Tagesmail

Von vorne LXXIV

Von vorne LXXIV,

unvorstellbar, nie wieder, Alarmzeichen, keine funktionierende Polizei, keine Erklärung ihres Ausfalls, keine Entschuldigung von niemandem, weder von Seehofer, noch von Landes- und Stadtpolitikern, von Merkel schon gar nicht, die sich – wie gewöhnlich – in wortloses Mimikry flüchtete, keine Gesamtanalyse der Situation, keine Klärung des Begriffes Antisemitismus, kein klärendes Wort zur Problemverschlingung mit der Kritik an Israel, keine Diagnose zur gesellschaftlichen Wiederkehr des Unbearbeiteten, kein Ton zur Frage, ob Deutschland sein schreckliches Erbe aufgearbeitet hat, kein Generalplan, wie die deutsche Misere von Grund auf erklärt, verstanden und aufgearbeitet werden kann: das ist die deutsche Reaktion auf Halle, eine Nullreaktion mit viel Getöse um nichts.

Wo sind die Umfragen bei deutschen Eltern, wie sie ihren Kindern den Holocaust erklären? Wo sind die Überprüfungen der schulischen Lehrpläne, die Befragungen der SchülerInnen, wie sie die deutsch-jüdischen Beziehungen erleben? Wo sind die Stimmen der Wissenschaft? Hat sich die Erkenntnis von Ernst Benz herumgesprochen:

„“Es gibt keinen neuen Antisemitismus“, sagt der Historiker Wolfgang Benz, der viele Jahre das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin leitete. „Es ist die alte, monotone Judenfeindschaft mit denselben Unterstellungen und Vorurteilen.“ Der Hass gegenüber den Juden sei das „älteste Vorurteil“ der Welt.“ (SPIEGEL.de)

Die alte, monotone Judenfeindschaft ist eine religiöse Erfindung. Man müsste sich mit der abendländischen Religion auseinandersetzen, um dem Übel auf die Spur zu kommen. Das hieße Kritik am Christentum, an den christlichen Kirchen, die mit wachsweichen Deutungen dem glühenden Judenhass ihrer Vergangenheit entgehen wollen.

Morgen ist der Theaterdonner vorbei, die erkenntnislose Moment-Anteilnahme verschwunden, die Lippenbekenntnisse sind verhallt, die Kerzen abgebrannt, die

Blumen verdorrt. Nichts wird sich verändern, kein Ruck durch das Land gehen.

Ein Ruck geht nur durchs Land, wenn eine Maschinen-Armada droht, die Grenzen zu überschreiten, um das Land disruptiv in ihre Gewalt zu bringen. Die Modernen erfinden sich täglich neu, um Maschinen als neue Heilsbringer zu bejubeln – aber nicht, um ihre archaischen Defekte zu kurieren. Sie sind wandlungsfähig und anpassungsbereit, wenn es sich um neueste Modelle der Smartphones handelt – aber nicht, wenn es um moralische Einsicht geht. „Umerziehung“ – kommt nicht in Frage, das könnte nur Faschismus sein. Jede Erziehung müsste demnach als faschistischer Drill betrachtet werden.

Individuelle moralische Einsicht – wird als apolitisch verhöhnt, doch im Falle Antisemitismus soll plötzlich jeder vor der eigenen Tür kehren. Niemals wird das Problem Antisemitismus gelöst werden können, wenn auch nur ein einziger Einzelner seine Charakterdefekte mit hasserfüllten Taten gegen Juden lösen will.

Die am meisten gegen moralische Umkehr wüten, sind diejenigen, die sich als leidenschaftlichste Philosemiten dekorieren. Die am lautesten Schande schreien über eine bigotte Gesellschaft, sind diejenigen, die am unerbittlichsten eine Regierung verteidigen, die seit Jahr und Tag Völker- und Menschenrechte eines besetzten Landes missachten. Wer Menschenrechte für Juden einfordert, muss sie auch für Palästinenser fordern. Es gibt keine Menschen erster und zweiter Klasse. Es gibt nur Menschen.

Wer Russland, den Iran, China, die Türkei und viele andere wegen unmenschlicher Politik anklagt, der muss auch Israel anklagen und nicht jede Kritik mit dem inflationären Vorwurf des Antisemitismus niederknüppeln. Ein verwerfliches Spiel, Antisemitismus als Knüttel für einen fremden Zweck zu benutzen. Dabei geht es um eine qualitative Kritik, nicht um ein unbefugtes Gleichsetzen quantitativ unterschiedlicher Rechtsbrüche.

Das eine muss vom anderen scharf getrennt werden. Wenn nicht, verkommt der Vorwurf des Antisemitismus zur stumpfen Allzweckwaffe und notwendige Kritik an Jerusalem wird in blinder Loyalität geächtet. Ein multiples Desaster.

In diesen Fragen ist die deutsche Politelite seit Jahrzehnten ein Ausfall, Merkel ein Totalausfall.

Gerade an diesem neuralgischen Punkt wird offensichtlich, dass die Kanzlerin keine Politikerin ist, sondern eine subalterne Beamtin des göttlichen Weltgeistes, die bewegt, was sich ohnehin bewegt. Über Vorgänge der Zeit hat sie kein anderes Urteil als sich in Gottes unerforschlichen Willen zu schicken. Sie erklärt nichts und versteht nichts. Sollte sie im stillen Kämmerlein dennoch etwas verstehen, schweigt sie – und lässt ihren himmlischen Vater walten. Das Schicksal der Menschen menschlich zu gestalten, ist für sie Vermessenheit und Blasphemie. Die Kreatur muss bleiben, was sie ist: ein missgestalteter Bankrotteur.

In Halle machte sie sich unangreifbar, indem sie in der Schar der Opfer abtauchte. Den Rest überließ sie ihren Untergeordneten, die sich in phrasenhafter Ergriffenheit gegenseitig nicht genug übertreffen konnten.

Wie wirkten die eingeflogenen Staatsautoritäten auf die Opfer und Betroffenen?

„Niemand hat sich gemeldet. Niemand hat gefragt, wie es mir geht, ob ich mich sicher fühle oder nicht. Aber weißt du, wer mich angerufen und Hilfe angeboten hat? Ein Vertreter der israelischen Regierung. Und das ist doppelt bitter: Deutschland ist doch eigentlich meine Heimat!“ (BILD.de)

Ein Armutszeugnis, ein Zeugnis des Versagens. Hinter den Phraseologien der Repräsentanten – vermutlich von Hilfskräften suggeriert – verbirgt sich – Nichts. Nicht mal Floskeln natürlichen Mitgefühls.

Kohl verhöhnte den Mitleidstourismus, als Häuser in Flammen standen und türkische Mitbewohner zu Tode kamen. Hat sich seitdem irgendetwas getan in den höheren Sphären emotionsbereinigter Interessenpolitik?

Juden gewinnen den Eindruck, wenn sich jemand meldet, um spontane Hilfe anzubieten, dann wird es eher die israelische Regierung sein als die deutsche. Hier müsste man sich fragen: sind Juden in Deutschland wirklich angekommen und als gleichberechtigte Bürger anerkannt? Wen kann es verwundern, dass sie über Emigration nachzudenken beginnen?

Die Deutschen überschlagen sich zurzeit mit Heimatverklärung. Denken sie darüber nach, ob ihre großartige Heimat auch zur Heimat deutscher Juden werden konnte? Tragen sie selbst dazu bei, die Sünden ihrer Väter und Mütter an den Kindern der Opfer gut zu machen, sofern Gutmachen überhaupt möglich ist?

Wie ist das Verhältnis der Deutschen zu den Juden? Zwiegespalten.

Eine Minderheit stürzt sich in „Aktion Sühnezeichen“ und würde am liebsten selbst jüdisch werden. Die Mehrheit verbarrikadiert sich in empathieloser Korrektheit – und will nicht schuld daran sein, wenn erneut ein Kippaträger beschimpft oder eine Synagoge angegriffen wird. Selber schuld, die Juden, warum müssen sie auch mit ihrem Judesein in der Öffentlichkeit paradieren?

Heute morgen zeigte Moma den Bericht eines Reporters, der sich – na klar – auf Spurensuche begab, um das Wissen nichtjüdischer Zeitgenossen über Juden zu erforschen. Da war es schon bemerkenswert, wenn der Begriff Sabbath fiel. Nur eine Antwort war sachhaltiger: die Juden haben Jesus als Messias abgelehnt und warten noch heute auf den richtigen. War das eine Ursache des christlichen Antisemitismus? Die Frage hätte kommen müssen, kam aber nicht.

Und selbst, wenn das faktische Wissen größer wäre: Informationen ohne Verständnis ihrer Bedeutung sind Schall und Rauch. (Weshalb das Abfragen bloßer Informationen in den inflationären Quizsendungen der Kanäle an Dummheit nicht zu übertreffen ist.) Bloßes Wissen der Fakten oder Informationen bleibt hohl, wenn man sie nicht durchdrungen hat.

Auch die vielgerühmten Effekte beim Wahrnehmen der Fakten, wie der Besuch eines KZs, bleiben ohne Folgen, wenn man das Wahrgenommene nicht in seinem Zusammenhang versteht. (Weshalb KI-Maschinen, selbst wenn sie über alle Informationen der Welt verfügten, dumm wie Bohnenstroh blieben.)

Das Attentat in Halle könnte unübersehbare Folgen für Deutschland nach sich ziehen.

„Die Vertreter der in Deutschland lebenden Juden waren sich der Tatsache wohl bewusst, dass ihre bloße Existenz dem neuen Deutschland – sowohl im Westen wie auch im Osten – einen Koscher-Stempel aufdrückte. Es soll indessen nicht verkannt werden, dass gerade die Tatsache des Bestehens einer, wenn auch noch so kleinen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ein gewisses Alibi für die deutsche Demokratie darstellt, einer der Gründe der Kontroversen über die Existenzberechtigung des deutschen Judentums.“ (Sueddeutsche.de)

Die Deutschen konnten sich deshalb so schnell in den Kreis der Völker zurückkatapultieren, weil sie zwei Schutzmächte hatten: die militärisch-wirtschaftliche Schutzmacht der USA und die moralische präsenter deutscher Juden.

Gegenüber den staatsaufbauenden Zionisten der Nachkriegszeit hatten die deutschen Juden ein schlechtes Image. Nach Meinung der Israelis hätten sie das Land der Täter auf der Stelle verlassen müssen, um die Pioniere beim Aufbau des jungen Staates zu unterstützen. Stattdessen schlüpften sie bei den Massenmördern unter, um den Strapazen des Aufbaus zu entkommen.

Diesen Vorwurf gab es bis in die Gegenwart, weshalb die deutschen Juden ihre Anwesenheit im Land der Täter nur durch besonders strenge „Überwachung“ der deutschen Rehabilitation rechtfertigen konnten.

Die meisten Deutschen machten sich nicht klar, wie wichtig die Anwesenheit der Juden für ihre internationale Reintegration war. Kein Zufall, dass die Zahl antisemitischer Straftaten steil nach oben stieg, als die Deutschen ihrer globalen Bedeutung – vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht – sicher waren. Was wäre, wenn die deutschen Juden tatsächlich das Land in Richtung Jerusalem verließen? (Wie es in Frankreich schon in erhöhtem Maße geschah?) Was würde aus Deutschland?

Es sieht düster aus. Wenn Merkel geht, droht das Land auseinanderzubrechen. Die Pastorentochter ist keine Politikerin, aber eine geniale religiöse Machiavellistin, die über die Gabe verfügt, den Deutschen die Illusion störungsfreier Ruhe zu vermitteln. Sie gibt den Deutschen das Gefühl einer nicht bedrohten Zukunft – wenn sie ihrer Leitung widerstandslos folgen.

Durch eine ewige Groko gelang es Merkel, die Fata Morgana einer futurischen Sicherheit zu erwecken. Die Wirtschaft lief auf Hochtouren, bis vor kurzem war der Frieden ungefährdet, die Deutschen fühlten sich derart im Paradies, dass es einigen schon zu langweilig war und sich nach einem „Hauch von Abgrund“ sehnten.

Nach dem Fall der Mauer schien nichts mehr unmöglich. Gorbatschow träumte von einem geeinigten Europa von Lissabon bis Wladiwostok. Fukuyamas Traum einer demokratischen Welt schien realistisch. Utopieresistente Deutsche hassen Utopien, weshalb sie Fukuyama wegen Traumtänzerei schmähten.

Einflussreichen Bellizisten in Amerika, die von einer unbestrittenen Führerschaft der USA in der Welt träumten (solche Träume fallen nicht unter negatives Utopieverbot, weil der Menschheit Konkurrenz und Krieg noch immer ins kollektive Unbewusste eingegraben sind), gelang es, das internationale Friedensgesäusel auf allen Ebenen zu unterminieren. Sie verletzten die Zusage an Gorbatschow, die NATO-Grenzen nicht nach Osten zu verschieben. Putin setzte die Friedenspolitik Gorbatschows anfänglich fort. Erst, als er sich vom Westen hintergangen sah, ging er ebenfalls zum Unfrieden über.

Der kapitalistische Wettbewerb, zum neoliberalen hochgetrieben, wurde angeheizt; die atomare Abrüstung gestoppt, die Bedeutung des UN-Völkerparlaments beschädigt, die militärische Aufrüstung beschleunigt, die Silicon-Valley-Technologie kam wie ein Gottesgeschenk, um Amerikas Ruhm und Bedeutung zu festigen. Die Weltraumpläne gewisser Milliardäre vervollständigten den neuen Ruhm einer Supermacht unter besonderer Führung des Himmels.

Gleichzeitig aber expandierten konkurrierende Staaten in Asien, der globale Wirtschaftshandel verschärfte sich, sodass Amerikas bislang unbestrittene Führungsstellung zunehmend zerbrach.

Trumps Erfolg beruhte auf dem Versprechen, die Alphastellung von Gods own country wider alle falschen Freunde und bösen Feinde zu erneuern. Vor allem die Deutschen wurden von Trump als falsche Freunde entlarvt und an den Pranger gestellt. Allzu lange hatten sie auf Kosten des großen Bruders ihre Wirtschaftskraft erhöht und ihre militärischen Pflichten vernachlässigt. Die verlässlichste Schiene der Zusammenarbeit außerhalb der EU nahm erheblichen Schaden.

Unter Obama waltete noch der alte Geist gutmütiger Protektion über den Musterschüler, der seine schreckliche Vergangenheit vorbildlich aufzuarbeiten schien.

Es war ein Trugschluss. Seit den 68er Empörungs- und Debattenwellen gab es in Deutschland keine einzige geistige Regung, die das Land bewegt und demokratisch vorangebracht hätte. Fast widerstandslos wurde der Neoliberalismus Maggie Thatchers und Ronald Reagans importiert und zum Anlass genommen, das soziale Sicherungsnetz zu durchlöchern.

Zwar glaubten sie, in ökologischer Hinsicht eine führende Rolle in der Welt zu spielen. Doch die Grünenbewegung war noch ein Folgereflex der kollabierenden marxistischen Umstülpung aller Verhältnisse. Die geistigen Ursprünge der Ökobewegung lagen in England und in den USA.

Die Deutschen waren erneut nichts als brave Imitanten ihrer ehemaligen Besieger. Und nicht lange, so erlahmte auch das praktische Vorangehen und verfiel – unter Aufrechterhaltung falscher Fassaden – bis zum heutigen Tage.

Wie die jüngste deutsche Umweltpolitik wirklich aussah, beschreibt Bernd Ulrich in der ZEIT:

„Die Groko unterschreibt in Paris ein Klimaabkommen, das hierzulande tiefgreifende Veränderungen nach sich ziehen müsste. Und schweigt dann dazu, macht es auch nicht zum Thema des Wahlkampfs von 2017. Im Gegenteil: Es war die Union, die noch im vergangenen Winter gegen alle ihr unterkommenden ökologischen Vorschläge anschrie. Und es war die SPD, die noch bis in den Frühsommer hinein glaubte, den Kontakt zum Arbeiter durch möglichst drastische verbale Ausfälle gegen grüne Forderungen wiederherstellen zu können, Andrea Nahles tat das auf der Vorderbühne, Sigmar Gabriel auf vielen Hinterbühnen.“ (ZEIT.de)

Amerikas patriarchale Gutmütigkeit fiel ersatzlos weg. Unterdes gelang es Merkel, im Gestus der Bescheidenheit die Königin Europas und mächtigste Frau der Welt zu werden. Doch man gewinnt keine Sympathien, wenn man seine Macht autokratisch definiert, die den Instanzen- und Gesetzesweg ignoriert – und schwache Länder leiden lässt, wenn sie den Vorstellungen deutscher Ökonomen nicht genügen. Von einer der beliebtesten PolitikerInnen Europas wurde Merkel zu einer der gehasstesten.

Mit der allgemeinen Zerrüttung der Welt beginnt auch Deutschlands Vorrangstellung zu wanken. In dieser Weltkrise wird Merkel das sinkende Schiff verlassen. Das wird unübersehbare Folgen in Deutschland haben. Denn ein Politiker, eine Politikerin von ähnlichen Palliativkompetenzen wie die Kanzlerin ist weit und breit nicht zu sehen.

Mit Deutschland ging es schon die ganze Zeit abwärts, nur Merkel gelang es, das Schlimmste gefühlsmäßig zu verhindern – aber nicht die wirklichen Gründe des deutschen Verfalls anzusprechen und zu korrigieren.

a) Das Land der Dichter und Denker ist spätestens im Zweiten Weltkrieg untergegangen.

b) Die geistige Bedeutung Deutschlands in der Nachkriegszeit existierte nur als archivierte Bildungsnostalgie; der deutsche Geist war in hohem Maße an der Entstehung des Übels beteiligt. Zwar versuchten die Deutschen, die Ursachen des Bösen eng zu begrenzen, Safranski und die deutschen Gelehrten taten, als ob Goethe und Schiller demokratische Humanisten gewesen wären. Nicht mal Kant war astreiner Demokrat; trotz seiner Friedensschrift war für ihn das Übel in der Geschichte notwendig, um die Trägheit der Menschen zu überwinden und zum Fortschritt zu nötigen. Ab der Romantik begann das theokratische Elend manifest zu werden, das in der Vorstellung eines chiliastischen Endreiches gipfeln sollte.

Nicht die Deutschen hatten die Juden emanzipiert, sondern Napoleon. Solange Juden im beginnenden Wettbewerb der Nationen überragende Leistungen zeigten, waren sie – trotz klerikaler Vorbehalte – geduldet. Erst als im Ausgang des 19. Jahrhunderts die ersten Wachstumsschwierigkeiten auftraten, Amerika zur führenden Weltmacht wurde und England nicht daran dachte, sein untergehendes Empire widerstandslos aufzugeben, wurden die Deutschen in ihrem Vorwärtsrausch nervös – und begannen sich nach jenen umzuschauen, die an ihren Entwicklungsstörungen schuld sein könnten. Es waren – wie immer – die Juden.

Als der Erste Weltkrieg verloren ging und Deutschland mit ungeheuren Reparationszahlungen zum alleinigen Sündenbock erklärt wurde, eskalierte der Vorkriegs-Antisemitismus zur Vorstellung einer politisch-eschatologischen   Vernichtung des Judentums.

c) Trotz Niederlage war die Weimarer Republik noch immer eine führende Macht in der Welt: in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, gestützt von der Kreativität vieler jüdischer Gelehrter, die erst nach 1933 zu emigrieren begannen. Die letzten Überreste dieser Hoch-Zeit verhalf den Nachkriegsdeutschen – mit freundlicher Unterstützung der Sieger, die gegen Moskau eine stabile Front brauchten – erneut, zur wirtschaftlichen Weltmacht zu werden. Doch der Rest der Genialität war schnell aufgebraucht. Was blieb, war Routine, Akkuratesse im Kleinen, Korrektheit und Zuverlässigkeit, die alten preußischen Tugenden.

Der unverhoffte Höhenrausch verfiel, je wohlständiger die Nation wurde. Ungewohnt des Reichtums, begannen die altdeutschen Tugenden zu erodieren. Heute gelingt ihnen immer weniger. Die äußerlichen Strukturen verfallen, die sozialen Bande werden um des Aufstiegs willen zerschnitten, der Kitt der Gesellschaft bröckelt, jeder will ein Individuum sein, worunter die Neoliberalen verstehen: ein Windhund denkt vor allem an sich selbst. Das zoon politicon ging verloren, alles, was nach Gemeinschaft roch, wurde des Faschismus verdächtigt.

Die Familie wurde um der Hochkonjunktur willen verhackstückt. Die Menschen wurden durch Internet zu Reflexpuppen der Netzsensationen. Sie sind zu Untertanen eines globalen Fortschritts geworden. Wo sie noch Mensch sein können, wissen sie nicht mehr.

In alten Griechenland war das Auftreten seltsamer Denker die Basis der kommenden Polis. Weder wirtschaftliche noch militärische Überlegenheit waren die Ursachen, warum die Völker von Athen fasziniert waren, sondern geistige Freiheit und politische Selbstbestimmung der Menschen.

Heute ist durch die Dominanz der Wirtschaft die demokratische Kompetenz der Deutschen gesunken. Je satter die Deutschen wurden, je mehr verrieten sie ihre Erfolgstugenden, je lässiger, leichtsinniger und zynischer wurden sie. Die Kluft zwischen Reich und Arm wuchs und verstärkte den unzuverlässigen Snobismus der Eliten.

Der Ungeist der Vergangenheit, der unterschwellig stets präsent war, nutzte die zunehmende Über-Ich-Schwäche der Erfolgsverwöhnten und manifestierte sich in kriminellen Taten der Extremrechten, die man besser NS-Sympathisanten nennen sollte – in unterschiedlichen Verhärtungsgraden.

Kurz nach dem Kriegsende war das junge Deutschland begierig, Musterschüler amerikanischer Kapitalisten zu werden. Die 68er-Revoluzzer waren begierig, die Musterschüler der sowjetrussischen, ja, chinesischen und kubanischen Marxisten zu werden. Die deutsche Vergangenheit wurde in idealisierter Form archiviert und zur schulischen Bildung degradiert.

Alle Strömungen, die die Deutschen in Wallung brachten, kamen von außerhalb. Das war keine Bereicherung durch das Fremde, sondern Flucht vor dem Eigenen, das nicht mehr vorhanden war. Am Fremden kann man sich nur bereichern, wenn man es mit dem Eigenen konfrontiert. Wird das Eigene verleugnet, wird das Fremde zur Außenlenkung entwurzelter Existenzen.

Die deutsche Autoindustrie betrügt die ganze Welt, die Regierung lässt sie betrügen. Bahnen funktionieren nicht, Brücken drohen einzustürzen, Berlin wird zur Dauerbaustelle, nichts wird fertig, niemand tritt zurück, niemand trägt Verantwortung, die stumme Anonymität der Kanzlerin wird zum Vorbild aller Verantwortungsträger, die keine Verantwortung mehr tragen.

Aufstieg, Aufstieg, Aufstieg ist zur Religion geworden. Eine verspätete, völkerverbrecherische, sich an fremden Siegern orientierende, auf nichts Eigenem gründende Nation schafft es zur wirtschaftlichen Scheinblüte und zur führenden Exportnation. Seitdem die USA auseinanderfallen, Länder wie China, Indien an die Weltspitze drängen, wissen die Deutschen nicht mehr, woran sie sich orientieren sollen.

Gerade jetzt müssten sie lernen, auf eigenen Füßen zu stehen, was bedeuten würde: Remedur schaffen, den eigenen Werdegang aufarbeiten, alle Bilanzen offenlegen, sich mit Freunden auseinandersetzen und mit Feinden streiten. Dies alles auf friedlicher Basis. Denn wer nicht streiten kann, wird zur Gewalt greifen.

Würden in dieser prekären Lage auch noch die Juden das sinkende Schiff verlassen und den Koscher-Stempel mit sich nehmen, wäre Deutschland erneut in der Gefahr, bei den Völkern als faschistoide Nation in Verruf zu geraten. Die Aufarbeitung des Holocaust, um jüdisch-deutsche Beziehungen auf gleicher Augenhöhe herzustellen, wäre gescheitert. Ein Desaster für die Deutschen.  

Deutschland weiß nicht, wo es steht, von welchen geistigen Mächten es geprägt ist, woher es kam und wohin es gehen will. Ausländische Einflüsse imitieren, um die eigene Armut zu überdecken, wird nicht mehr ausreichen.

Bislang ging der Patient auf fremden Krücken, nun müsste er lernen, auf eigenen Beinen zu laufen.

Halle hat keine Zäsur geschafft. Potentiellen Judenmördern wird kein Einhalt geboten. Die Ursachen des Antisemitismus werden nicht erforscht. Eine gesellschaftliche Debatte findet nicht statt. Das Unheil schreitet voran.

Nur wer sich ahnungsweise kennt, kann im Dialog mit Anderen seinen Horizont erweitern, um sich zum homo globalis zu entwickeln.

 

Fortsetzung folgt.