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Von vorne II

Von vorne II,

an Karfreitag, dem höchsten Fest des leidenden Erlösers, der sich in drei Tagen zum Herrn des Universums erheben, die Menschheit richten, die Welt vernichten, die Massen ewig peinigen, foltern und die Seinen für immer selig machen wird, werden Natur, mündiger Mensch und seine universellen Rechte ans Kreuz genagelt.

Regelmäßig an Karfreitag wird der Westen mit pia fraus, einem frommen Betrug, zum christlichen Abendland verfälscht.

Demokratie und Menschenrechte entstammen nicht dem Christentum, sondern der griechischen Philosophie. Jahrhundertelang unterdrückte die Kirche alle Bestrebungen, die Autonomie des Menschen zur politischen Realität werden zu lassen.

Inzwischen haben sich die Kleriker mit dem Geist der selbstbestimmten Würde eingelassen. Sie folgen ihrem uralten Herrschaftsinstinkt: was wir nicht unterdrücken können, verfälschen wir zur eigenen Erfindung und setzen uns an die Spitze der Bewegung. Seitdem sollen Freiheit, Gleichheit und Humanität auf dem Boden der Gottebenbildlichkeit des Menschen gewachsen sein.

Der Gott der Christen ist kein Demokrat, sondern ein allmächtiger Despot. Wer ihm ähnlich oder ebenbildlich sein will, muss von Allmachtswünschen besessen sein.

Demokratie beruht auf dem Prinzip der Gewaltenteilung und der Auseinandersetzung der Menschen auf gleicher Augenhöhe. Omnipotenz und Herrschaft des Volkes schließen sich aus.

In Erlöserreligionen ist der Mensch ein Nichts, der nur durch unverdiente Gnade zu einem Etwas werden kann. Wer sich nicht der Allmacht ergibt, erfährt keine grenzenlose Liebe, sondern endlose Pein.

Die überwiegende Zahl der Christen folgt nicht mehr dem Ungeist eines Rachegottes, sondern der irdischen Vernunft, die jeden Menschen auszeichnet – auch wenn

sie durch eine lieb- und vernunftlose Gesellschaft allzu oft beschädigt wird.

Obgleich diese Christen, gemessen an der Glaubenslehre der Kirchen, keine mehr sind, halten sie daran fest, dass ihre heidnische Philosophie in den heiligen Schriften ihrer Religion enthalten sei.

Das hat zwei Gründe. a) Sie kennen ihre Schriften nicht mehr. b) Die Theologen der Kirchen scheuen keine Mühe, um die Originalaussagen mit trickreichen Umdeutungen dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen.

Das Wort ist für sie zum Wünschdirwas geworden, dem sie alles entlocken können, was sie für ihre ständig wechselnde Reputation benötigen. Die Schrift wurde zum Kompendium, mit dem man Alles oder Nichts rechtfertigen, Alles oder Nichts verfluchen kann. So wurde Sprache, das Instrument rationaler Verständigung, zur Wunderwaffe von Offenbarungsempfängern, die nie irren können.

Einst war nur der Papst unfehlbar, dann wurde es eine ganze Schrift, dann alle Priester und Gläubigen. Heute ist die ganze westliche Zivilisation mit endlosem Fortschritt und Macht über die Natur unfehlbar geworden. Da jeder Einzelne seine eigene, unvergleichliche Wahrheit besitzt, sind alle Einzelnen zu Päpsten geworden.

Zu den Priestern gesellten sich Techniker, die zwar nichts über die Welt wissen, aber geniale Maschinen erfinden, mit denen sie das Bewährte vernichten und das Brandgefährliche als Zukunft propagieren. Ohne Risiko geht nichts, sagen die Vorherbestimmten. Niemand weiß, ob er zur Seligkeit oder zum ewigen Fluch vorprogrammiert wurde. Dennoch müsse er leben, als ob er es wüsste – und alles auf die göttliche Karte setzen. Ein Leben ohne Risiko ist möglich, aber sinnlos.

Die Frau ist gleichberechtigt? Also muss sie auch in der Schrift gleichberechtigt sein.

Homosexualität ist nicht mehr verboten? Also darf sie auch in der Schrift nicht verboten sein.

Die Natur muss geschützt werden? Also muss die Bewahrung einer sogenannten Schöpfung zur Grundlage der Ökologie werden.

Das Abendland ist Kampfplatz zweier Urelemente, die endlose, aber unverträgliche Kompromisse geschlossen haben: hier die Selbstbestimmung der Vernunft, dort die Fremdbestimmung des Himmels.

Die Menschen müssen sich der Unverträglichkeit klar werden und entscheiden, welchem Element sie folgen wollen: der Gängelung von Oben und der Vernichtung der Welt – oder einem selbstbestimmtes Leben im Einklang mit der Natur. Noch sträuben sie sich mit aller Gewalt, sich das Problem bewusst zu machen.

Die Folgen dieser Problemverdrängung sind die Ursachen der gegenwärtigen Krise des Westens. Was sie mit der linken Hand aufbauen, reißen sie mit der rechten nieder. Sie blinken links und biegen nach rechts. Die Zuverlässigkeit der Sprache ist beschädigt, die Logik ramponiert. Verständigung soll es nicht geben. Wie soll man sich verständigen, wenn jeder Mensch seine eigene unwiderlegliche Wahrheit besitzt, über die er gar nicht streiten kann? Emanzipatorischer Individualismus ist zum Autismus unüberprüfbarer Ichs geworden.

Eine Gesellschaft, die sich christlich nennt, aber nicht christlich denkt, ist schizophren. Handelt sie human, verwechselt sie Humanität mit Nächstenliebe, die keine Probleme hat, den Großteil der Menschheit ins Verderben zu schicken.

Fahrlässig geht sie das Risiko ein, dass Fundamentalisten, die sich auf den ursprünglichen Text der Schrift berufen können, im Namen des Christentums Hass und Terror über die Welt bringen. Fahrlässig gibt sie der Kirche die Legitimation, als ungewählte Macht die Politik aus dem Hintergrund mitzubestimmen. Wann immer die säkulare Welt ins Schlingern kommt, stehen Klerus & Co bereit, sie an die Hand zu nehmen – und ihr in altbekannter Weise die Leviten zu lesen.

„Der Karfreitag sei als christlicher Feiertag dem Gedenken an das Leiden und die Kreuzigung Jesu Christi gewidmet. „Dies verträgt sich nicht mit lautem und ausgelassenem Feiern“, argumentierte der Kirchendezernent. Der CDU-Politiker machte deutlich, dass er nichts davon hält, das christliche Wertegerüst zu lockern. „Wir können nicht bei jeder Gelegenheit diese Ankerpunkte unserer Gesellschaft lösen und uns dann wundern und beklagen, wenn unser Wertegerüst Schaden nimmt.“ Der Verzicht auf lautes Feiern stelle „eine wichtige Geste“ dar, die von Respekt gegenüber den Mitmenschen zeuge.“ (Frankfurter -Rundschau.de)

Der Ton wird barscher und unduldsamer. Gibt es eine Toleranz der Kirchen gegen die Mehrheit der Ungläubigen und Andersgläubigen? Wie ist zu erklären, dass die öffentlich-rechtlichen Verteidiger des christlichen Abendlands (natürlich mit Ausnahme des Bayerischen Rundfunks) keine einzige Karfreitagssendung ausstrahlen? Antwort: aus Toleranz gegenüber Muslimen und Juden. Wurden Juden nicht von den Christen als Mörder Christi angeklagt? War es nicht der selbsternannte Sohn Gottes, der sein Volk als Heuchelvolk verwarf: „Ihr blinden Führer, die ihr die Mücke seiht, das Kamel aber verschluckt?

Wäre es nicht notwendig, an Karfreitag die kurzen Röckchen der Frauen, die liederlichen Sexsendungen mancher Kanäle und das – obligatorische Lachen zu verbieten? „Wehe euch, die ihr jetzt lacht, denn ihr werdet trauern und weinen.“

Was müsste alles verboten werden, damit das Wertegerüst der christlichen Gesellschaft nicht zu Schaden kommt?

Das Sattsein: „Wehe euch, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern“.

Dass alle Menschen gut über die Erwählten reden: „Wehe, wenn alle Menschen gut von euch reden. Denn ebenso taten ihre Väter den falschen Propheten.“

Was hingegen müsste angeordnet werden? Wohlstand und konsumierende Völlerei müssten sofort verboten werden: „Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden.“

Die Fröhlichen und Glücklichen müssen auf offener Straße verhaftet und neu ernannten Inquisitoren vorgeführt werden. Auf Erden muss Trauer herrschen, erst im Drüben darf gelacht werden. „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.“

Es geht nicht um ein bisschen Tanzen an Karfreitag, es geht um eine Verfälschung des Abendlandes in historischer Dimension. Welche Prinzipien werden sich durchsetzen? Der bewusste oder unbewusste Glaube an eine unvermeidliche Apokalypse – oder die Klima-Warnungen der Wissenschaft, die ein selbstverschuldetes Debakel mit allen Kräften verhindern wollen?

Die einst gottlose Proletenpartei schnurrt völlig auf der Melodie der Kirchen. Und die Grünen und Linken? Halten sich raus. Das nennt man eine GAGROKO auf christlich-abendländischer Basis.

Juso-Chef Kühnert fordert die Abschaffung des Tanzverbots an Karfreitag. Wolfgang Thierse kritisiert den Vorstoß ungewöhnlich scharf: „Bisher wusste ich nicht, dass die SPD eine Spaßpartei ist. Ich bin in die SPD eingetreten, weil sie für Gerechtigkeit und Solidarität eintritt und nicht für die Interessen einer im übrigen höchst erfolgreichen Klubkultur.“ „Thierse ist Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken.“ (WELT.de)

Wehe, wenn sie lachen, die Genossen und Genossinnen. Welche Partei war es nochmal, die barsch einen Arbeitskreis der Nichtchristen verbot?

Eine Partei wird dafür gewählt, dass sie Trübsal bläst, nicht, dass sie Spaß hat an ihrem politischen Einsatz. Der Mensch ist kein fröhliches zoon politicon, er ist ein missmutiger Arbeiter im Weinberg des Herrn, pardon, im irdischen Reich des Teufels. Politik ist Gottesdienst, kein Dienst am Menschen.

Seltsam nur, dass im Neuen Testament die Reichen verflucht und die Armen selig gesprochen werden – im christlichen Abendland aber die Armen verflucht und die Reichen zu Errettern der ältesten und zweitältesten Töchternationen der Kirche ernannt werden. „Wehe euch, ihr Reichen, denn ihr habt euren Lohn dahin. Selig die Armen, denn euer ist das Reich Gottes.“

Die Armen sind nur instrumentell arm – um einst zu ewigen Superreichen zu werden. Die Reichen sind vor allem dumm, denn sie sind reich ohne Aussicht auf ewigen Lohn.

Notre Dame bringt es an den Tag, wes Geistes Kinder die Menschen sind. Die Reichen stehen Schlange, um der nationalen Kultur Gutes zu tun. Die Armen? Können vor Neid nicht aus den Augen schauen, sind unfähig, die überragende Gutmenschenrolle der Reichen zu würdigen.

Wo bleibt die deutsche Schlechtmenschenfront, um die französischen Bestmenschen zu deklassieren? Über Nacht hat sie die Fronten gewechselt und bewundert die Freigebigkeit der Reichen. Notre Dame hat das Zeug, einen neuen Religionskrieg zu entfachen. Sind es doch die Reichen, die schon reden wie der Herr persönlich:

„Für den Ökonomen ist es bedrückend, dass es den Gelbwesten derzeit in Frankreich gelinge, einen Fortschrittsbegriff zu propagieren, der auf einer sehr engen materialistischen Sichtweise beruhe. „Wir wären alle noch in der Steinzeit, wenn wir anderen nie Reichtum gegönnt hätten“, so Cette. Reichtum, wie ihn letztlich auch – für die ganze Gesellschaft – Notre-Dame symbolisiere.“ „ Die Argumente der Gelbwesten und Gewerkschaften sind absurd. Soziale Not gibt es immer. Aber das kann nicht bedeuten, dass wir für die Kunst nichts mehr ausgeben.“ (SPIEGEL.de)

„Soziale Not gibt es immer“ klingt auf neutestamentlich: „Die Armen habt ihr allezeit. Mich aber habt ihr nicht allezeit.“ Luxus ist das Vorrecht des Herrn, schließlich ist er nur kurze Zeit an Deck. Die Armen sind Altlasten der Menschheit, die nie entsorgt werden können. Seligpreisungen sind Verstöße gegen die lutherische Rechtfertigung allein durch Gnade. Wenn Armut selig macht, ist sola gratia überflüssig.

Die Reichen stürzen sich auf Notre Dame, um ihre Macht mit Hilfe religiöser Kultur gegen die drohende Weltrevolution zu sichern. Wenn Eliten zu zittern beginnen, suchen sie die Nähe der Kirche. Wenn Gottesmänner zu zittern beginnen, suchen sie die Nähe der Reichen und Gewaltigen.

Kultur, schon immer auf den Knochen der Schwachen errichtet, muss herhalten, um die Schwachen durch Genialität in Schach zu halten. Die wahre Genialität aber bestünde darin, allen Menschen ein würdiges Leben zu bieten – dann Kunst als Ingenium der Menschheit.

Die griechisch-christlichen Kompromisse beruhen nicht auf rationalem Entgegenkommen, sondern sind Zwischenmeldungen eines untergründigen, ineinander verbissenen Gefechts um Leben und Tod.

Der Inhalt der gegenwärtigen Politik der Moderne ist christlich. Sie wird begleitet vom christlichen Bewusstsein der Amerikaner – und vom mangelnden christlichen Bewusstsein der Deutschen.

Christlich ist Gehorsam sein gegen die Heilsgeschichte, die Nötigung zum Fortschritt, der Glaube an die Zerstörung der Natur, die apokalyptische Vernichtung des Alten und der unverwüstliche Glaube an das Ende alles Irdischen: leidenschaftlich und bewusst betrieben von Amerikanern; in plagiierendem Gehorsam gegen die amerikanische Vormundschaft betrieben von Deutschen in der schizophrenen Pose aufgeklärt sein wollender Machiavellisten.

Die Menschheit muss sich von machtgierigen und welthassenden Religionen befreien. Sonst wird es ihr nicht gelingen, mit sich und der Natur in Einklang zu kommen. Der jetzige Rückfall in die Heilsreligion zwingt die Völker, andere zu hassen, um gehasst zu werden, schlecht über andere zu reden, damit andere schlecht über sie reden.

„Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch ausschliessen und schmähen und euren Namen als bösen achten.“

Sich gegenseitig ausschließen und schmähen: das ist der gegenwärtige Rekurs des Westens auf nationalen Egoismus. Amerika zuerst, die Fortschrittlichen und Reichen zuerst, die Erwählten zuerst. Übersetzt in philosophische Begriffe: der Universalismus der vorbildlichen Nachkriegsjahre unter dem Banner der UN wird geschreddert und ersetzt durch nationale und religiöse Partikularismen.

Wir sind die Besten, wir sind die Erfolgreichsten, wir werden den Wettbewerb um die finale Weltherrschaft gewinnen. Wer unterliegt, muss weichen. Entweder bedeutungslos werden oder völlig die Platte putzen.

„Du wirst gegeißelt und mit Dorn gekrönet, ins Angesicht geschlagen und verhöhnet. Du wirst mit Essig und mit Gall getränket, ans Kreuz gehenket.
Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen? Ach, meine Sünden haben dich geschlagen! Ach, mein Herr Jesu, ich hab dies verschuldet, was du erduldet.“ (Johann Heermann 1630)

„Du hangst am Kreuze sterbend hier, und doch erbebt die Welt vor dir; der Geist der Kraft geht aus von dir, die stolze Welt erblaßt vor dir.“ (Calvisius 1594)

Der Tod am Kreuz ist der absolute Triumph des Christus über Mensch und Natur. Hier zeigt sich in paradoxaler Verhöhnung weltlicher Macht die wahre Allmacht eines Gottessohnes. Das Leben der Menschen deklariert er zum Sündeninferno, von dem nur Er befreien kann – wenn die Kreaturen sich vor Ihm in den Staub werfen.

Den Menschen wird jede Autonomie abgesprochen. Sofern sie sich untereinander schuldig machen, haben sie sich an IHM schuldig gemacht. Sofern sie Böses taten, haben sie Ihm Böses getan. Sofern sie Gutes tun, haben sie Ihm Gutes getan. Der Mitmensch wird zur Attrappe oder zum bloßen Mittel, um mit Ihm in Berührung zu kommen.

Die Liebe des Menschen zum Menschen gilt nicht dem Menschen, sondern dem Herrn. Der Hass des Menschen gegen den Menschen gilt nicht dem Menschen, sondern dem Erlöser. Was immer der Mensch tut und lässt: alles bezieht sich nur auf den Herrn. Das Leben des Menschen wird zur Schuldorgie an einem Trugbild. Selbstbestimmte Lebensgestaltung? Vergiss es! Ein freudiges Leben inmitten solidarischer Menschen? Ein Wahn!

Jesus ist ein zweiter Sokrates. Der athenische Menschenverführer erlitt seinen Tod in unbeirrbarer Treue zur Demokratie und zur Vernunft des Menschen. So außerordentlich war der Ruf dieses Kämpfers für die Würde des Menschen, dass er in alle Länder des von Alexander eroberten Riesenreichs drang.

Selbst die Kinder Israels konnten sich der Anziehungskraft dieses Mannes nicht entziehen. Sie übernahmen die wichtigsten Lehren des Menschenverführers, münzten sie aber um in Lehren einer übernatürlichen Offenbarung und verfluchten alle menschliche Autonomie als Blasphemie gegen Gott.

„Sorge für die Seele, dass sie so gut wie möglich werde. Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun. Ich werde dem Gotte mehr gehorchen als euch. Unrechttun und Ungehorsam gegen das Bessere, sei es ein Gott, sei es ein Mensch, ist ein Übel und böse.“ (Sokrates)

Auf den ersten Blick gibt es verblüffende Ähnlichkeiten zwischen der sokratischen und jesuanischen Lehre: „Widerstehet nicht dem Bösen. Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, was habt ihr für einen Lohn? Und wenn ihr nur eure Brüder grüsst, was tut ihr Besonderes? Tun nicht die Heiden dasselbe? Ihr aber sollt vollkommen sein, wie euer Vater vollkommen ist.“

Jesus will Sokrates übertreffen. Und wirklich, es gibt keinen sinnvolleren Wettbewerb als den um Wahrheit und moralisches Handeln. Doch die Voraussetzungen der beiden Wettkämpfer sind nicht dieselben. Sokrates handelt nach eigener Erkenntnis, Jesus empfängt himmlische Offenbarungen. Der autonome Demokrat will die Welt humanisieren, das Tun der Christen bleibt folgenlos auf Erden. Es dient nur dem Punktesammeln für die eigene Seligkeit. Die Welt bleibt unreformierbar und hoffnungslos.

Sokrates will den Menschen einen elektrischen Schlag versetzen, um sie wachzurütteln „Er will die Menschen zum Nachdenken bringen, das ist sein Gottesdienst. So wird er zum Unruhestifter, der die Menschen nicht in Ruhe lässt und ihnen aufdringlich ist wie die Bremse einem edeln, aber trägen Pferd. Wer mit ihm umging, empfand den unerbittlichen Wahrheitsernst, mit dem er bis ins Innerste der Seele vordrang, wie den Biss einer Otter. Das Schmerzhafte, was die Leute empfanden, bestand darin, dass Sokrates ihnen die Gedankenlosigkeit ihres bisherigen Lebens bewusst machte. Für ihn waren falsche Güter die materiellen wie Reichtum und Ehre, zu den richtigen gehörten Wahrheit und Besonnenheit.“ (Nestle, Griechische Geistesgeschichte)

Heute wäre Sokrates eine Lachnummer, ein nerviger Besserwisser, ein überheblicher Moralist.

Jesus, der die Menschen mit übernatürlichen Wundern und seinem Kreuzestod beeindrucken und überfluten will, denkt gar nicht daran, alle für seine Botschaft gewinnen zu wollen. Sein Ruf will nur die Seinen aufrütteln: „Nicht für die Welt bitte ich, sondern für die, die du mir gegeben hast.“

Sokrates wendet sich an die Erkenntnisfähigkeit aller Menschen, um sie zur Ausübung ihrer Vernunft zu animieren. Er selektiert nicht, wählt nicht die einen aus und verwirft die anderen. Aus der Anerkennung der universellen Vernunft und Gleichwertigkeit aller Menschen erwuchs die Lehre von den Menschenrechten, die zur Gründung der modernen Demokratien führte. Der regredierende religiöse Partikularismus der Gegenwart unterminiert alle Menschenrechte. Internationale Politik wird zur militärischen und wirtschaftlichen Bedrohungspolitik.

Auch Jesus betont die Wahrheit seiner Botschaft. Doch sie beruht nicht auf eigener Erkenntnis, sondern auf Unterwerfung unter eine göttliche Stimme. Auch er wollte das Gute, aber nicht um des Guten, sondern um ewigen Lohnes willen. Wo Sokrates den Menschen zeigt, dass sie auf Erden ein glückliches Leben führen können, wenn sie der Stimme ihrer Vernunft folgen, verbreitet Jesus eine Hasslehre gegen die Welt:

„Wer sein Leben liebt, verliert es und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es ins ewige Leben bewahren.“

Sokrates will die Menschen zur moralischen Autonomie ermuntern, damit sie ihre irdische Polis retten können.

Das Neue Testament denkt nicht an das Leben auf Erden, sondern an die Stadt im Himmel: „Denn hier haben wir keine bleibende Polis, sondern die zukünftige suchen wir.“

Natur ist für Jesus nur eine teuflische Versuchung. Wenn sie ihm nicht zu Diensten steht, wie ers gerade braucht, verflucht er sie:

„Und des anderen Tages, da sie von Bethanien gingen, hungerte ihn. Und er sah einen Feigenbaum von ferne, der Blätter hatte; da trat er hinzu, ob er etwas darauf fände, und da er hinzukam, fand er nichts denn nur Blätter, denn es war noch nicht Zeit, daß Feigen sein sollten. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Nun esse von dir niemand ewiglich! Und seine Jünger hörten das. Und am Morgen gingen sie vorüber und sahen den Feigenbaum, daß er verdorrt war bis auf die Wurzel. Und Petrus gedachte daran und sprach zu ihm: Rabbi, siehe, der Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt.“

So bewahrt der Herr die Schöpfung, wenn sie ihm nicht sklavisch zur Verfügung steht. So zerstören seine Jünger die Natur, weil sie ihre endlose Gier nicht auf der Stelle befriedigt.

Griechen glaubten an die Harmonie des Menschen mit der Natur. Nach dem Tode des Sokrates, als die Demokratie unrettbar schien, erfand sein Schüler Platon nicht nur die faschistische Zwangsbeglückung durch weise Eliten, sondern einen ersten Dualismus zwischen vollkommener Ideenwelt und unvollkommener Sinnenwelt. Doch beide Welten gehörten zusammen und ergänzten einander.

Der christliche Dualismus zwischen Gott und Welt aber schnitt alles entzwei, er wurde zum unerbittlichen Entweder-Oder. Das Göttliche wurde zum Verhängnis des Natürlichen. Der apokalyptische Untergang der sündigen Natur wurde unwiderruflich. Wie kann man eine Schöpfung bewahren, die Gott selbst vernichten wird?

Die gegenwärtige Politik leidet an philosophischer Totalamnesie. Wir müssen wieder ins Denken kommen, um unsere Weltpolis zu retten.

Sokratische Autonomie und jesuanische Heteronomie schließen sich kategorisch aus. Eine christlich-griechische Synthese gibt es nicht. Das Abendland birst vor innerer Unverträglichkeit seiner Elemente.

 

Fortsetzung folgt.