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Von vorne C

Von vorne C,

England und Amerika, die frühesten Demokratien der Neuzeit, waren gefestigt genug, um totalitäre Antidemokratien wie das Dritte Reich mit Waffengewalt zu besiegen und eine Demokratisierung vieler Völker in der Nachkriegszeit anzuregen.

Heute sind sie nicht mehr demokratisch genug, um den Weltproblemen in resoluter Geschlossenheit zu begegnen.

Gegen klar erkennbare Feinde konnten sie sich zusammenschließen, interne Differenzen überspielen und mit geballter Macht die pestilenzische Gefahr der Menschheitsfeinde überwinden. Heute scheint die Weltsituation unübersichtlich und die Demokratien unterlassen nichts, um sich selbst zu zerlegen.

Auch den Kalten Krieg konnten sie als nominelle Sieger beenden, weil die Welt vom Geist der Freiheit hinlänglich durchdrungen war und sich dem Westen mehr zugeneigt hatte als den Beglückungszwängen des totalitären Ostens.

Englands Urspaltung verläuft zwischen Reichen und Armen, Industrie und Proletariat, Amerikas Urspaltung zwischen Erwählten und Verdammten, die sich identisch fühlen mit Reichen und Armen. In England gibt es keine Klasse, die sich als prinzipielle Feindin der Demokratie bezeichnen würde.

In Amerika haben die Frommen die Demokratie ursprünglich als Anmaßung abgelehnt, in Zeiten weltlichen Erfolgs aber ihre antidemokratischen Reflexe beiseitegelegt, überwältigt vom sichtbaren Segen des Herrn. Ein halbes Jahrhundert lang war Amerika die führende Macht der Welt, für Deutschland ein souveräner Erzieher zu demokratischen Prinzipien.

Je mehr der Glanz der amerikanischen Kultur verblasste, ihre wirtschaftliche Überlegenheit schwand, umso mehr drangen die unterschwelligen Spaltelemente wieder ans Licht. Die Frommen erinnerten sich ihrer Feindschaft gegen selbstherrliche Demokratien, die Armen beklagten ihre Verelendung in einem Staat, der, getreu

dem Matthäusprinzip, denen gab, die hatten und jenen nahm, die nichts hatten.

England, gefangen in Träumen seines einstigen Empires, versucht seiner versunkenen Weltgeltung wieder gerecht zu werden durch Ablösung von Europa, Rückzug in insulare Isolierung und Wahl eines starken Mannes, der in vieler Hinsicht als Kopie des starken Mannes der amerikanischen Vettern gelten könnte. Wenn schon jedes Land für sich zu schwach ist, um an glanzvolle Zeiten der Vergangenheit zu erinnern, könnte vielleicht die Wiederbelebung der angelsächsischen Gemeinsamkeit die Bedeutung der beiden calvinistischen Bruderstaaten zurückbringen.

Der Sieg der Torys erscheint als verzweifelter Versuch Englands, durch Wahl eines starken Mannes, der sich ungestraft über gemeinsame Regeln hinwegsetzen darf, an die alte Stärke des Weltreiches anzuschließen. Sozialistische Verteilungsprobleme des Mangels passten da nicht ins Bild.

Obgleich alle westlichen Demokratien sich als religiöse Abendländer verstehen, ist der christliche Charakter Amerikas am ausgeprägtesten. In Europa war die Macht der religionskritischen Aufklärung am stärksten, während die christlichen Einwanderungswellen in Amerika vom Geist der Aufklärung am wenigsten beeinflusst waren.

Die Gründerväter, eine winzige Clique, bestand aus aufgeklärten, gebildeten Gentlemen aus der englischen Oberklasse. Die in den Kontinent strömenden Volksmassen waren zumeist wiedergeborene Christen, die vom griechischen Geist der Demokratie noch nie etwas gehört hatten. Das hat sich bis heute nur geringfügig geändert.

Unregelmäßig sich übers Land verbreitende Erweckungsbewegungen sorgten dafür, dass der demokratische Geist in Washington ein Zentrum des Antichrists und die UNO ein Parlament vor allem ungläubiger Nationen blieb.

Als nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Fall der Mauer die Vision eines globalen Weltfriedens den Planeten zu erfassen schien, war es aus mit der Geduld der Frommen, die den Frieden als Werk Gottes, nicht als dreistes Machwerk der Gottlosen betrachteten.

Fukuyamas „Ende der Geschichte“, eine weltpolitische Friedensperspektive, war allen Sündern in Amerika ein Gräuel. Selbst im aufgeklärten Deutschland erregen sich Abgeklärte regelmäßig über den Wahn einer durch Menschenverstand herbeigeführten friedlichen Weltgemeinschaft.

Der Rückfall in Religion war unvermeidlich. In Amerika kooperierten christliche Fundamentalisten mit ultraorthodoxen Juden, um den Vernunftwahn eines Völkerfriedens vom Tisch zu fegen. Das zur Demokratie konvertierte Sowjetreich unter Führung des singulären Gorbatschows musste entzaubert und relativiert werden, damit der bellizistische Kontrast eines Reichs des Bösen nicht abhanden kam. Selbst Obama, anfänglich wie ein Messias der Völker auftretend, degradierte Russland zur regionalen Bedeutungslosigkeit. Die neuen Oststaaten wurden in die NATO gelockt, deren Raketen und Truppen sich immer mehr den Grenzen Russlands näherten.

Der infame Plan ging auf. Putin, der als Gorbis Jünger begann und friedliche Perspektiven im Bundestag verkünden durfte, begann ins alte Freund-Feind-Denken zu regredieren – mit voller Unterstützung der orthodoxen Popen, die überall dabei sind, wo es im Namen der Religion um Mord und Totschlag geht.

Der dominierende Einfluss der drei rivalisierenden Erlöserreligionen in Amerika, Russland, Israel, der Türkei und diversen muslimischen Staaten erzeugte den zunehmend militaristischen Ungeist der jetzigen Situation. Erlöserreligionen sind unfehlbar, absolut intolerant und bedrohen jeden anderen Glauben mit finaler Vernichtung.

Der Zweikampf zwischen autonomer Vernunft und fremdgeleitetem Glauben erlebt eine neue Phase. Die Nachkriegszeit war eine Epoche praktischer Aufklärung, nicht zuletzt ein Akt reuiger Selbstbesinnung nach den Schrecken der Weltkriege.

Leider fehlte der Praxis das Fundament einer parallelen theoretischen Aufklärung. Die amerikanische Mischung aus elitärer Demokratie und – vorübergehend neutralisierter – Religion der Basis bestimmte die Reeducation der Deutschen zur Demokratie.

Die deutschen Kirchen entledigten sich ihrer NS-Verstrickungen mit hermeneutischen   Fälschungskünsten. Eben noch glühende Hitlerianer, wurden sie über Nacht zu Erfindern der Demokratie, der Menschenrechte – und der Bewahrung der Schöpfung. Ein dreifacher Geniestreich im Namen des Herrn.

Vom Überschwemmtwerden durch den englisch-amerikanischen Neoliberalismus geschwächt, schien Deutschland wie prädestiniert für die Machtergreifung einer Pastorentochter aus dem Sozialismus. Wer im Namen des Herrn den atheistischen Materialismus – den Merkels Familie für gottseliger hielt als das westliche Ausbeutersystem – besiegen konnte, war auch fähig, den Kapitalismus in den Griff zu kriegen.

Nein, sie war keine Gegnerin des Staatssozialismus gewesen, sondern dessen Nutznießerin. Sie war keine rebellische Bürgerrechtlerin, die Risiken einging. Sie wartete, bis der Herr der Geschichte den roten Teppich bis an die Sauna ausgerollt hatte, in der die Erwählte auf den Wink von Oben wartete.

Deutschlands Männereliten kränkelten bereits durch ihre Unfähigkeit, dem Neoliberalismus etwas robust entgegenzusetzen oder ihn mit fundierter Überzeugung zu rechtfertigen. Was geschah? Was immer geschieht, wenn der Geist des Fortschritts „über uns kommt“. Nichts wird debattiert, alles mit erkenntnisloser Emphase adoptiert. Kam doch die neue Wunderbotschaft aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Da bleibt nur das erlösende: Ja, Herr, wir wollen.

Die Medien übertrumpften sich in prophetischer Erregung. Wer nicht auf der Stelle zur Erleuchtung kam, wurde aussortiert. Eine aufgestiegene SPD-Männerhorde hatte bewiesen, dass Proleten macht-kompatibel sein können.

Den traditionellen Wirtschaftslenkern zeigten sie, wo Bartels den Most holt. Ihrer Basis erzählten sie den Schmarrn, sie hätten den Kapitalismus im letzten Moment vor dem Absaufen gerettet, indem sie – unter heimlichen Tränen – ihrer eigenen Klientel den vorletzten Groschen aus dem Geldbeutel entwendeten – und jenen übergaben, die laut Vorsehung Arbeitsplätze zu schaffen und den Wirtschaftsweltrekord zu verteidigen haben.

Sie predigten heilige Worte: Genossen und Genossinnen, noch weint ihr, doch balde werdet ihr das Lichtlein sehen: die Letzten werden die Ersten sein. Wen Gott liebt, den fordert und fördert er. Wer nicht arbeiten will, der soll verrecken. Nehmt Geduld an, vertraut uns.

Die aufgestiegene Männerriege hat die SPD bis zum heutigen Tag ruiniert und den gierigen Wildwuchs der Wirtschaft abgesegnet. Das Proletariat wurde zum Lumpenproletariat in die Gosse gestoßen. Der Begriff Gerechtigkeit wurde postmodern füsiliert: ach, wissen Sie, Herr Pleitgen, unter Gerechtigkeit versteht jeder was anderes. Das Wirkliche aber ist das Vernünftige, so oder so ähnlich, wie unser bester deutscher Denker schon vor 250 Jahren zu sagen pflegte.

Heutige Medien halten es für richtig, die gesamte uralte SPD-Männerriege aus dem Altersheim zu entführen, damit sie ihr Entsetzen über die jetzige SPD ins Mikrophon emittieren kann. Diese undankbaren Nachkommen haben nichts Besseres zu tun, als das neoliberal aufgeputschte Erbe der zur Weltelite aufgerückten Esspedee nostalgisch zu verplempern. Erhard Eppler, standhafter Protestant – und Unterstützer Gerhard Schröders – wusste, warum er kurz vor dem Äußersten den Abflug ins Jenseits machte.

Christen kennen nur eine Gerechtigkeit: die Gerechtigkeit Gottes. Mit dem Menschen hat der Begriff nichts zu tun.

Warum hat Jeremy Corbyn die Wahlen verloren? Laut SPIEGEL hat der „Unsympath“ verloren, weil die Wähler ihn „noch schlimmer fanden“ als den Chaoten Johnson.

„Auch dessen alt-linke Botschaften von Re-Privatisierung und Umverteilung nach dem Gießkannenprinzip kamen bei vielen Wählern offenkundig nicht allzu gut an. So mancher Partei jenseits der britischen Inseln dürfte das eine Warnung sein. Ja, liebe SPD, du bist gemeint.“ (SPIEGEL.de)

Gerechtigkeit ist läppische Umverteilung auf Kosten der Reichen, während die Reichen ungehindert den größten Teil des Profits in ihre Tresore lenken. Von primärer Umverteilung des gemeinsam erwirtschafteten Profits zu Lasten der Abhängigen haben weltkundige Journalisten noch nie gehört.

Umverteilung beginnt bereits mit der Definition der Leistungsfähigkeit. Wer viel leistet, verdient viel oder vive versa: wer viel verdient, hat viel geleistet. Sonst wäre er doch, mit Gottes Hilfe, gar nicht so reich geworden, oddr?

Ungerechtigkeit beginnt nicht bei den Penunzen. Sondern in jenem Bereich, den die rechnende Moderne hasst: im Reich der Begriffe. Dort wird geschoben und betrogen, dass sich die Balken biegen. Wenn geistliche Begriffe nach Bedarf gestaucht und gedehnt werden dürfen, dann mit Sicherheit auch die weltlichen. Hat es doch seinen tiefen Grund, warum Worte und Begriffe zu blubbernden Blasen wurden: nach Unten sollen sie für heilige Nebelbildung, nach Oben für das Licht der Erleuchtung sorgen.

„Der geschäftliche Erfolg, die Ideale des Unternehmertums, die Mentalität des „get-rich-quick“ entwickelten sich zu einer Art Nationalreligion, und wer dagegen aufbegehrte, geriet in den Verdacht, aus Neid zu argumentieren oder aus Enttäuschung, aus Unfähigkeit, „to make good“ wie die Erfolgreichen. Es sei an der Zeit, dass ein anständiger Mann auch einen anständigen Profit einstecken dürfe. (Ein Mann! Keine Frau, die unter Schmerzen Kinder gebären soll). Business und Christentum sind nahe verwandt, verkündete Bruce Barton in einer Schrift, die zum amerikanischen Sachbuch avancierte. Barton war Chef einer Werbeagentur, als er auf die Idee kam, Jesus Christus als den erfolgreichsten Geschäftsmann seiner Zeit zu interpretieren. War er nicht einer von Unten, ein Werbegenie, das mit 12 Mann ein weltweites Unternehmen aufgezogen hatte? (Gerd Raeithel, Geschichte der nordamerikanischen Kultur)

Von Anfang an war Kapitalismus eine gottgewollte Angelegenheit. Für den Prediger John Winthrop war Amerika ein Land brüderlicher Nächstenliebe – in Form einer antagonistischen Klassengesellschaft:

„Christliche Nächstenliebe hatte keine egalitären Züge. Soziale Unterschiede waren für Winthrop und seine Zeitgenossen eine gottgewollte Sache: „Gott der Allmächtige hat in seiner allerheiligsten und klugen Vorsehung über die Befindlichkeit des Menschen entschieden, dass zu allen Zeiten manche reich und manche arm sein müssen, manche mit einem hohen Maß an Macht und Würde, andere niedrig und in Unterwerfung. Die Armen und Bedürftigen würden verhungern und erfrieren, wären da nicht die Wohlhabenden, die sie nähren und wärmen. Wenn Gott Arme und Reich gemacht hat, wie können dann die Reichen böse sein? Vom sozialen und wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, schloss im Puritanismus christliche Nächstenliebe eine soziale Stratifizierung nicht aus. Die Macht sollte bei den Gebildeten und Besitzenden liegen, die von den Ungebildeten und Besitzlosen Gehorsam fordern konnten.“ (ebenda)

So alt sind die Lügenmärchen, pardon, die Framingtechniken des Kapitalismus. Damit die Ungebildeten ungebildet bleiben, suggerieren die Medien täglich: zu komplex für euch, ihr Schwachköpfe. Gott hat die Reichen erfunden, damit sie die Armen – die sie zuvor durch Ausbeutung produzieren mussten – knapp über Wasser halten.

Ach, da fehlt noch was: die gleichen Bildungschancen, die gottlob nie gleich sein können, weil Bildung mit der sozialen Herkunft zusammenhängt, die kein Mensch ändern will. Wilhelm Humboldt würde sich im Grabe umdrehen, wenn er erleben müsste, dass weltlicher Erfolg das Zeichen der Bildung sein soll.

Gerhard Schröder wurde schon von Cotton Mather um die Wende zum 18. Jahrhundert vorweggenommen:

„Bei Armen, die arbeiten können und nicht wollen, besteht die beste Freigebigkeit darin, sie zu zwingen.“ (ebenda)

Die Reichen sind die wahren Glücksbringer der Gesellschaft. „Ungehorsame Dienstboten verstießen gegen das fünfte Gebot (Du sollst nicht töten!). Cotton Mather siedelte sie zwischen Menschen und Gegenständen an: „Ihr seid die belebten, separaten, aktiven Werkzeuge anderer Menschen.“ (ebenda)

Für Aristoteles ist der Sklave ein beseeltes und belebtes Werkzeug. Wundert es, dass die Amerikaner so lange Sklaverei hatten, wenn es dem Willen des Herrn entspricht?

Das hat eine weitreichende Bedeutung. Die digitale Menschheit ist just dabei, sich vollends in eine Gesellschaft von Sklaven zu verwandeln. Denn sie wollen beseelte Werkzeuge ihrer Maschinen werden.

Die Erfindung ihrer KI-Maschinen hat keinen anderen Zweck, als die Erfinder zu Sklaven ihrer Maschinen zu machen. Sie müssen lauschen, was die Maschinen berechnet haben, um ihnen zu Diensten zu sein. Sagt ihnen die Maschine, dass ihr Puls zu hoch ist: Ruhe! Dass ihre Diabeteswerte steigen: weg mit den Trauben zwischen den Mahlzeiten. Sagen chinesische Computer, dass sich jemand nicht an die staatlichen Regeln hält: weg mit ihm ins Lager der Uiguren.

Was die Chinesen mit Maschinen bewerkstelligen, haben fromme Amerikaner ihrem Gott zugewiesen, weshalb es ihnen nicht schwerfiel, solche Rundumüberwacher in Silicon Valley zu entwickeln.

Bei der Romanautorin Ayn Rand, der Kultschreiberin der amerikanischen Geldeliten, heißt es in einem ihrer Werke:

„Die Tugend der Selbstsucht verlangt Unterwerfung unter das Moralgesetz des Stärkeren. Kultur ist der Prozess, den Menschen von anderen Menschen zu befreien, weshalb der Staat nur noch polizeiliche und militärische Aufgaben hat, keine sozialen. Ragnar Danneskjöld, eine Hauptfigur, streicht wie ein verkehrter Robin Hood durch die Lande, beraubt die Armen und beschenkt die Reichen. Leider hätten die Bettler, Schmarotzer und Erbschleicher die alten amerikanischen Tugenden ausgehöhlt. Das Grunddogma in der Millionärskolonie lautet: kein Mitleid zeigen.“

Ayn Rand war unter Studenten besonders beliebt. Alan Greenspan, ihr Bewunderer, war Wirtschaftsberater von Richard Nixon und unter Reagan Chef der Bundesreservebank. „Die moralische Mehrheit und die Neokonservativen haben Ayn Rand für sich wiederentdeckt.“

Bereits Eisenhower hatte erklärt, die Zeit des „schleichenden Sozialismus“ (er meinte den New Deal Roosevelts) sei jetzt vorüber. „Der aus Österreich stammende Hauptbegründer des Neoliberalismus Friedrich von Hayek hatte in seinem Buch „Der Weg zur Knechtschaft“ den New Deal und die NS-Ideologie aus denselben Wurzeln sprießen sehen.“

„Im „Readers Digest“ schrieb ein Pastor im Jahre 1953: „Lasst die Kirchen für den Kapitalismus eintreten.“ So entstand ein Erfolgsevangelium, das auf die individuelle Leistungsfähigkeit baute und wenig von solidarischer Aktion hielt.“ (ebenda)

Wer besteht noch immer darauf, Trumps Neobrutalismo als seine persönliche Erfindung anzusehen? Ohne christliche Fundamentierung wäre kein Neoliberalismus möglich gewesen. In entscheidenden Punkten zitiert Hayek die Heilige Schrift.

Während der amerikanische Kapitalismus von christlichem Geist durchsäuert ist, predigen deutsche Kirchen die Seligkeit der Armen – im Himmelreich. Sie verlieren kein Wort über ihre frommen Brüder in den USA, die die Seligkeit und Erwähltheit der Reichen – im Diesseits preisen. Ist ja nur das genaue Gegenteil.

Die Christentümer dieser Welt sorgen für Vielfalt ihres geistlichen Angebots. Und sie halten sich an Goethe: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Oh wisset Geschwister: Urquelle des postmodernen Schillerns ist das Heilige.

Deutsche Christen rümpfen über ihre amerikanischen Gesinnungsverwandten nur die Nase. Apokalyptische Hektik ist ihnen genauso zuwider wie der frömmliche Reichenkult peinlich.

In der deutschen Debatte geht alles wissenschaftlich zu. Zwar verkündet jeder Ökonom der Industrieverbände das Gegenteil seiner Kollegen im Dienst der Gewerkschaft. Doch wer sagte, dass Wissenschaft sich durch Eindeutigkeit auszeichnen müsse?

Bei jeder sozialen Nachjustierung der Regierung darf Dorothee Siems in der WELT klagen: Und wer soll das erwirtschaften? Womit klar ist, dass sie im Kielwasser amerikanischer Profit-Prediger schwimmt. Bettler und Obdachlose werden wissen, warum sie Flaschen aus dem Müll puhlen: wären sie gottesfürchtiger, könnten sie entspannt auf andere Loser herabschauen.

Warum geht es bergab mit der SPD? Weil sie es unterlässt, ihre Hauptbegriffe zu klären. Ihre Alphamänner werfen sich an den Neoliberalismus ran, doch die Basis erinnert sich noch dunkel an ganz andere Begriffe aus ihrem Programm. Den Aufgestiegenen stinkt es, dass ihre Genossen ein so jämmerliches Bild abgeben, sie schämen sich ihrer wie Reiche ihrer buckligen Verwandtschaft.

Schon im Godesberger Programm wimmelt es von Begriffsverwirrungen:

„Der demokratische Sozialismus, der in Europa in christlicher Ethik, im Humanismus und in der klassischen Philosophie verwurzelt ist, will keine letzten Wahrheiten verkünden – nicht aus Verständnislosigkeit und nicht aus Gleichgültigkeit gegenüber den Weltanschauungen oder religiösen Wahrheiten, sondern aus der Achtung vor den Glaubensentscheidungen des Menschen, über deren Inhalt weder eine politische Partei noch der Staat zu bestimmen haben.“

Christliche Ethik und klassische Philosophie sind unvereinbar. Gerechtigkeit der Polis ist nicht die Gerechtigkeit Gottes. Was bitte sind letzte Wahrheiten? Glaubensentscheidungen? Glaubensentscheidungen sind private Belanglosigkeiten, die in der Politik nichts zu suchen haben. Mischen sie sich dennoch ein, werden sie nicht als „letzte Wahrheiten“ charmiert, sondern kommen genau so unter die Lupe wie alle „vorletzten“ oder weltlichen Begriffe.

In vorauseilendem Gehorsam haben die Genossen die Böckenfördedoktrin vorweggenommen. Alles Irdische ist vorläufig, das eigentlich Wahre ist jenseits von schnöder Vernunft und ordinärer Demokratie. Im Programm stehen Begriffe, mit denen kein Bottroper Ortsverein etwas anfangen kann. Wen interessierts? Auch Schröder, Clement und Müntefering werden sich nicht darum reißen, den Kumpels eine Rede über die ollen Griechen zu halten. Abendländisches Talmi als Basis einer Partei, die eine Volkspartei sein will. Über die Bibel wird überhaupt nicht gesprochen.

Räumt aus eure Hütte und überlegt, was wirklich hinein darf – oder rigoros entsorgt werden muss.

Was kann die SPD von der Niederlage Corbyns lernen? Vielleicht dies, was Antisemitismus ist? Corbyn soll Antisemit sein, behauptet BILD unentwegt. Doch stimmt das? Eine englische Ökonomin widerspricht:

„Während des Wahlkampfes wurden der Labour Party Antisemitismus und Rassismus vorgeworfen. Viele Leute haben Jeremy Corbyn beschuldigt, Antisemit zu sein – was nicht wahr ist.“ (jetzt.de)

Kann es sein, dass dieser Punkt seriös geklärt werden müsste? Nicht im deutschen Blätterwald. Weder wird über Antisemitismus im Allgemeinen noch im Besonderen debattiert. Kein Interviewer käme auf die Idee, die Ökonomin nach den Gründen ihres Dementis zu befragen.

Im Umfeld des Antisemitismus wird nicht gestritten, nichts geklärt, keine Nachfragen gestellt. Gab es in den letzten 100 Jahren in deutschen TV-Talks ein einziges Gespräch über die Frage: Worin unterscheidet sich gefährlicher Antisemitismus von – gebotener – Kritik an Israel? Deutschland wird zur psychiatrischen Anstalt für Mutisten, die unter gelegentlichen Schreianfällen leiden.

Doch die Ökonomin G. Blakeley hat noch Exquisites zu bieten: die Forderung nach Ablösung des natur- und menschenschädlichen Kapitalismus und Einführung eines menschen- und naturfreundlichen Sozialismus. Nein, nicht eines totalitären DDR-Sozialismus, sondern eines demokratischen Sozialismus, der gerade jetzt das einzige Therapeutikum gegen die Gefahren des Klimawandels wäre:

„Junge Menschen verdienen weniger und haben schlechtere Jobs, sie können ihre Mieten nicht mehr bezahlen. Oben drauf kommt die Klimakrise, die durch die Idee befeuert wird, wir müssten Gewinn über alles andere stellen. Junge Leute begreifen langsam, dass der Kapitalismus nicht mehr funktioniert. Der einzige Weg, das zu ändern, ist demokratisch zu entscheiden, was zukünftig produziert wird und wie. Der „Green New Deal“, also der komplette Umbau der europäischen Wirtschaft, ist meiner Meinung nach der einzige Weg, die Erderwärmung rechtzeitig zu stoppen.“

Warum hört man solche Sätze nicht von Scholz, Thierse, Schröder, Schily, HJ Vogel?

Inzwischen gehört es zum guten Stil der Medien, die SPD für tot zu erklären. Da hätten wir eine enorm stinkende Leiche mitten in der Gesellschaft. Wenn die SPD tot ist, obwohl sie sich wahrlich plagt, um sich ins Leben zurückzukämpfen – was wäre dann die CDU?

Grundsatzdebatten kennen die Konservativen seit Adam und Eva nicht mehr. Ihnen geht es nur um Machterhalt. Mit welchen Begriffen diese Macht gestützt wird, ist ihr gleichgültig. Die CDU ist zur hohlen MEP oder Machterhaltungspartei geworden. Wer seine Kraft und Legitimation von OBEN bezieht, muss sich mit Begriffsarbeit nicht abgeben.

Was Macht bringt, hat Recht, sagte die Kanzlerin – nicht. Sie dachte es nur und bewegte es in ihrem selbstlosen Herzen.

 

Fortsetzung folgt.