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Tagesmail

Umwälzung XXX

Hello, Freunde der Umwälzung XXX,

„Atemlos durch die Nacht,
Bis ein neuer Tag erwacht

Wir sind unzertrennlich, irgendwie unsterblich
Komm nimm‘ meine Hand und geh‘ mit mir“.

Liebeslied des Vaterlandes an die Mutter. Die deutsche Nacht, sie dehnt und dehnt sich. Mütterlein, wie lang noch die Nacht? Antwort aus dem Dunklen: Welch eine Frage: solange ihr mich braucht. Ohne mich seid ihr verloren. Ihr kriegt keine Luft mehr? Besser atemlos und mit mir – als quicklebendig ohne mich. Und jetzt Schluss mit dem Gesäusel. Wir legen noch ne Schippe drauf – dann vorwärts mit Gottvertrauen.

Die deutsche Autonation hat auf Autopilot geschaltet. Immer weiter durch die Tundra – mit der GROKO-Diesel-‘Ndrangheta. Die schöpferische Zerstörung hat das Ruder übernommen. Die Arbeitgeber: sie geben Arbeit und nehmen das Leben. Tote arbeiten länger und brauchen keine Sozialversicherung. Der Fortschritt, er kostet. Die Kultur der Gottwerdung, sie kostet. Was kostet sie? Nur das Menschsein.

Nun geht ein Ruck durch die Nation. Europa, die Welt, sie haben auf uns gewartet. Sie atmen auf. Die Lotsin geht wieder an Bord. Für eine winzige Weltsekunde hatten wir die Geschichte still gestellt. Beinahe hätten wir aufgeatmet, beinahe wären wir ins Denken gekommen. Mit Gottes Hilfe ist die Versuchung an uns vorübergegangen.

Nun die allseitige Erneuerung. Nicht in Distanz zum Geschehen, sondern in japsender Gleichzeitigkeit. Sich von der Zeit mitschleifen lassen, dass einem Hören und Sehen vergeht: das ist der Orgasmus des rasenden Kairos. Durchstarten, die

Digitalisierung psychopädagogisch abfedern. Das Wort nudgen gehört nicht zu unserem Vokabular. Wir beeinflussen niemanden von hinten. Wir sagen ganz unverblümt: das kommt auf uns zu und Basta. Wer sich nicht überrollen lässt, wird platt gemacht. Verantwortung übernehmen heißt, seine Schuldlosigkeit beteuern. Der Grundsatz der neuen Regierung heißt:

„Wieso suchen wir eigentlich in Deutschland immer nach Schuldigen?“ (SPIEGEL.de)

Die ARD-Philosophin antwortet:

„Anne Will präzisiert, es gehe hier „um eine Verantwortung“, das sei etwas anderes. Und wer trägt nun die Verantwortung? Schmidt nicht, Diess nicht, Göring-Eckart ganz gewiss nicht.“

Will schon gar nicht. Sie sieht die Epoche der Schuldlosen angebrochen. Sind die Menschen fehlerlos geworden? Oder machen sie Fehler – ohne Schuld? Wurden sie zu ihren Fehlern gezwungen? Ach so, die Geschichte, die Umstände, ihr Gehirn haben sie in die Zange genommen, ohne dass sie es wussten?

Wahrlich, es ist eine erregende Zeit. Christen kennen keine Schuld mehr, Analytiker keine Ursachen, Demokraten keine Überprüfung. Kein Blick nach hinten, hinten lauert die Schuld. Zum Fortschritt gehört die Entsorgung der Schuld. Wir werden unaufhörlich nietzscheanisch:

„Erst die Unschuld des Werdens gibt uns den größten Mut und die größte Freiheit!“

Das also ist die Freiheit der Moderne, die Freiheit von aller Schuld. Je mehr Mist gebaut wird, umso unschuldiger werden wir. Auch die Industrie kennt keine Schuld. Unschuldig vernichtet sie Menschenleben. Schuldlos verpestet sie die Luft. In unverschämter Dreistigkeit behauptet ein Herr Diess (passender kann der Name zum Objekt der Begierde nicht sein):

„Warum will VW keine Hardwarelösung wie neue Katalysatoren, wenn sich damit die Emissionen doch bedeutend verringern ließen? Liegt’s am Geld? Zu teuer für VW? Ach was. „Wenn wir’s richtig fänden, würden wir es tun„, stellt Diess klar und teilt maschinenbautechnisches Herrschaftswissen. Es ist ein „sehr komplexer Eingriff ins Fahrzeug“, quasi eine „kleine Chemiefabrik“, da bräuchte es einen größeren Tank, Bohrungen hier und dort. Um das „sauber zu machen“, und zwar richtig, „bräuchten wir mindestens zwei oder drei Jahre“.“

Es ist den Menschen nicht zuzumuten, sich mit Hilfe der Chemie retten zu lassen. Das waren noch Zeiten, als die Wissenschaften das Leben der Menschen verbessern wollten. Die Gutmenschenzeiten der Wissenschaften sind vorbei.

„Wir wollen saubere Luft, und zwar ohne Fahrverbote“, denn das wäre mit Blick auf den Wertverlust der entsprechenden Fahrzeuge eine „kalte Enteignung“.“

Das ist die Melodie der amerikanischen Waffenhersteller. Den Leuten die Waffen verbieten? Das wäre kalte Enteignung, eine Verletzung göttlich gesegneten Eigentums.

„Herr, segne mein Sturmgewehr“, beteten die Gläubigen in den USA:

„Die Kirchenleitung sieht die Waffe als Herrschermittel («rod of iron»), da laut der Bibel Christen sich die Welt untertan machen sollen.“ (NZZ.ch)

„Herr, segne meinen Diesel“. Die Deutschen betrachten ihre Autos als Herrschaftsmittel, da laut der Bibel sie sich die Erde untertan machen sollen. Geschwindigkeit ist das Privileg der Erwählten. Kostenlos gibt’s solche Privilegien nicht. Doch Gott sorgt dafür, dass es nicht die Falschen trifft.

Was die Autoindustrie kann, kann die Seligkeitsindustrie allemal. Sie ist, wie ihr Vater im Himmel, komplett unschuldig. Sie hat keine Kreuzzüge entfesselt, Inquisition war nur eine Petitesse. Die Toleranz, das war ihre Erfindung. Wer etwas anderes behauptet, der sei verflucht.

Gregor Gysis Vater war Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR. Die kollateralen Langzeitschäden dieser Vaterschaft erkennt man heute an seinem Sohn:

„Ohne das Christentum gäbe es kein Nachdenken über Barmherzigkeit, Nächsten- und Feindesliebe. Davon ist der Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi (Die Linke) überzeugt. Gysi zufolge gäbe es ohne Gott keine allgemeinverbindliche Moral. Er fürchte deshalb eine gottlose Gesellschaft. Die „Linke“ habe nicht die Stärke, Moral allgemeinverbindlich zu machen. Diese Kraft hätten nur die Kirchen. Der christliche Glaube sei auch dann wichtig, wenn man nicht an Gott glaube. Gysi: „Wir sind durch das Christentum in einer Art und Weise geprägt, wie es sich viele Nichtgläubige nicht vorstellen können.“ Angesichts wachsender sozialer Unterschiede sei die Einmischung der Kirche in die Politik angebracht.“ (Idea.de)

Das ist die Auslieferung der Linken an die Kirchen, die Bankrotterklärung eines Ex-Marxisten in Sachen Religion. Die unfreiwillige nachträgliche Bestätigung des Marxismus als säkularisierte Heilslehre.

Die informelle Mehrheit der deutschen Parteien ist zum Christentum zurückgekehrt. Auch die AfD hat nicht die geringsten Probleme, sich zum Fundament abendländischer Werte zu bekennen.

Unterschiede bestehen nur in den Folgerungen, die man aus der Bergpredigt zieht. Mit der Bergpredigt könne er nicht regieren, hatte Bismarck erklärt. Als Schäuble in einer TV-Sendung gefragt wurde, ob das Verbot des Tötens mit der Existenz der Bundeswehr vereinbar sei, winkte er nur lässig ab: solche Gebote seien nicht wörtlich zu nehmen.

Die einen halten fest am Buchstaben der Bibel – und halten alle Amoral im Namen des Glaubens für berechtigt und geboten. Die anderen ignorieren alle Stellen, die ihrer zeitgenössisch angepassten Ideologie widersprechen oder sie deuten diese Stellen in selbstherrlicher Deutungshoheit um: was hier steht, bestimme noch immer Ich, sodass alle Widersprüche zu ihrer Ideologie wegfallen. Das Christentum mit seiner beliebig deutbaren Moral ist eine geniale Methode, alles und das Gegenteil mit dem Segen des Herrn zu rechtfertigen.

Seit Entstehen der modernen Nationen gab es einen Wettbewerb um das auserwählteste Volk, die wahren Erben und Nachfolger der Kinder Israels. Dieser Wettbewerb hat sich längst in einen wirtschaftlich-militärischen verwandelt, aber seinen religiösen Charakter nicht aufgegeben.

Neucalvinistische Amerikaner fühlen sich aus religiösen Gründen zum Erfolg hier auf Erden verpflichtet. Die Bestätigung ihrer Erwählung sehen sie in wirtschaftlicher und politischer Macht.

Die lutherischen Deutschen waren in der Vorkriegszeit nicht zu weltlichem Erfolg verpflichtet, um ihren gnädigen Gott zu erkennen. Sie vertraten die „leidende Kirche“ im Gegenteil zur triumphierenden Kirche in Gottes eigenem Land. Ihre jahrhundertelange desaströs ohnmächtige Geschichte deuteten sie als Pflicht zum Leiden, das erst im Jenseits mit himmlischen Freuden belohnt werden würde.

Erst die Folgen des verlorenen Ersten Weltkriegs ließen das Fass überlaufen. Die kollektive Stimmung kippte, die Zeiten des Leidens waren vorbei. Nun würde der Sohn der Vorsehung kommen, und – wie die Amerikaner – die Erniedrigten erhöhen, die Gedemütigten aus dem Staube erheben. Die Deutschen fühlten sich berechtigt, mit apokalyptischer Gewalt den Lohn ihrer jahrhundertelangen Entbehrungen einzutreiben.

Nach Kriegsende waren sie gespalten. Emotional zurückgefallen auf die Empfindungsstufe der ecclesia patiens, verachteten sie das großkotzige militärische Auftreten der Amerikaner in Vietnam, im Nahen Osten, fühlten sich gleichzeitig sicher unter dem Schutz des Großen Bruders. Der Pazifismus der Linken litt stets unter der Unklarheit, die Folgen ihrer Friedfertigkeit nicht auf sich nehmen zu müssen: der Große Befreier würde sie nicht im Stich lassen.

Heute ist das globale „Friedensgeschwurbel“ vorbei, die Realpolitiker fühlen sich in ihrer Menschenverachtung rehabilitiert und fordern die Deutschen auf, erwachsen zu werden und selbst Verantwortung zu übernehmen. Überall lauert der Feind, niemandem darf man vertrauen. Die Lehr-Zeit der Deutschen ist vorbei. Nun gilt es, tapfer seinen Mann stehen. Auf Klardeutsch: die militärischen Ausgaben zu erhöhen und gegen einen möglichen Angriff aus Nordkorea oder Russland gewappnet zu sein.

Dabei haben wir eine ideale Armee: nichts funktioniert, alles ist lächerlich verkommen und verrottet. Hier müssen geheime Friedenswerker tätig sein, die zwar die Schwerter nicht in Pflugscharen, aber immerhin in Schrott verwandeln, damit niemand in Versuchung kommt, ihre Tauglichkeit im Ernstfall zu erproben.

Zu den Waffen ruft auch Michael Wolffsohn, ehemaliger Historiker an der Universität der Bundeswehr:

„So träumt der deutsche Michel weiter seinen schönen Friedenstraum. Auch trotz und nach der Krim-Annexion durch Russland 2014 sowie des gleichzeitig beginnenden Ukraine-Chaos, welche die EU und die Merkel-Steinmeier-Regierung politisch mit ausgelöst hatten. Die Etwas-Besserwissenden erkennen die Gefahr ante portas. Doch die Mehrheit bildet sich ein, Krim und Ukraine wären weit weg.“ (WELT.de)

Es gehört zum deutschen Selbsthass, die Friedensperspektiven nach dem Fall der Mauer als törichte Illusionen in Stücke zu schlagen. Man kann sich täuschen, wie weit die Friedensfähigkeit der Menschheit schon gediehen ist. Doch die Gefahren einer Überschätzung sind lang nicht so gefährlich, wie alle Friedensfähigkeiten zu dementieren. Utopien sind lebensnotwendige, selbsterfüllende Prophezeiungen. Wer seinen Glauben – keinen Glauben an Götter, sondern an sich selbst – verloren hat, hat keine Möglichkeiten mehr, über seinen Schatten zu springen und das Unmögliche anzustreben. Lernen ist rationales Pendeln zwischen utopischem Ziel und realistischen Fähigkeiten.

Heute haben jene Hardliner das Wort, die nicht mehr nach Gründen der wachsenden Friedlosigkeit fragen, sondern nur noch das ABC einer hochgerüsteten Armee herbeten können. Wolffsohn, obgleich Historiker, fragt nicht nach Gründen der momentanen Kriegsgefahren. Friedensfreunde hält er für fromme Träumer.

„Nach dem Umbruch in Osteuropa von 1989/90, der Vereinigung Deutschlands und dem Ende der Sowjetunion 1991 glaubten zu viele, sie würden bereits das Paradies auf Erden, zumindest den bevorstehenden Weltfrieden, am politischen Horizont wahrnehmen. „Wir sind nur von Freunden umgeben“, hieß es allgemein. Das war nicht falsch, doch eben auch nicht ganz richtig, denn um die Ecke lauerten Gefahren. Das übersahen wir in unserem schönen, frommen Traum.“

Wenn eitle Ökonomen das Land der „sprudelnden Gewinne“ als das Land bezeichnen, in dem Milch und Honig fließt, bleiben Realisten mucksmäuschenstill. Das scheinen sie als objektiv-angemessen zu betrachten. Wer aber das Land des Friedens sieht, wohl wissend, dass noch viele Schritte zu machen wären, um es zu erreichen, der wird zum Traumtänzer erklärt.

Listig preist Wolffsohn die „reformpreußische Auftragstaktik“ als effektivste Methode einer wehrhaften Armee. In einer Auftragstaktik wird den Soldaten das Ziel vorgegeben, doch wie sie es erreichen wollen, bleibt ihnen überlassen.

„Dies bedeutet, dass der Ausführende in der Durchführung des Auftrages weitgehend frei ist. Dies sichert eine große Flexibilität in der Auftragsdurchführung und trägt wesentlich zur Entlastung höherer Führungsebenen bei.“

Vorbild der hochgradig antiautoritären Militärstrategie ist die israelische Armee, die so tüchtig ist, dass sie die „global kreativste IT-Start-up-Szene“ ins Leben gerufen hat. Da die Deutschen gerade dabei sind, ihre digitalen Defizite zu beheben, lockt Wolffsohn sie mit dem Vorbild einer technisch genialen Armee.

„Israels Streitkräfte sind das Paradebeispiel für die Aktualität und Praktikabilität jenes reformpreußischen Ansatzes. Über die Wehrpflichtdauer hinaus gewinnen und binden sie kreatives, freiwilliges Personal. Israels Militär ist die Basis der global kreativsten IT-Start-up-Szene. Sie beflügelt auch weltweit materiell und ideell zivile Innovationen. Warum kann nicht auch die Bundeswehr durch materielle Anreize eine IT-Kaderschmiede für Start-ups und andere Bereiche werden? Sie würde hoch qualifiziertes, junges Personal gewinnen, neue Instrumente bekommen und zugleich volkswirtschaftlichen Nutzen schaffen.“

Die Deutschen wollen friedliche Verhältnisse, aber sie wollen nichts dafür tun. Wolffsohn verhöhnt den deutschen Michel als „Ohnemichel“ und empfiehlt, Kennedy zum Vorbild zu nehmen:

„Anders als „die“ Israelis gehen deutsche Bürger, unabhängig von der jeweiligen Regierung, zu Staat und Militär auf Distanz. Wer Israel nicht mag, erinnere sich an US-Präsident John F. Kennedy: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst.“

Eine merkwürdige Frage, die einen unbestimmten Heroismus erahnen lässt. Vielleicht mit Selbstaufopferung wie in einem Krieg. Ein Individuum, das in seiner Gesellschaft ein erfülltes Leben führen durfte, wird keine Probleme haben, sich als nützliches zoon politicon zu betätigen. Wenn es aber Menschen gibt, die sich der Gesellschaft verweigern, sollte das Land sich überlegen, in welchem Maße es bei ihnen versagt hat.

Jeder Heroismus, der sich nicht auf die Friedensfähigkeit der Gesellschaft bezieht, wäre ein falscher. Der Ruhm eines Landes kann ein brandgefährliches Ziel sein, mit dem man sich Feinde schafft, die man technisch, ökonomisch oder militärisch demütigen will. Kennedy war nicht der strahlende Friedensheld, den er vor der Welt spielte.

Dass Wolffsohn die Armee Israels als vorbildlich preist, ohne die völkerrechtswidrige Besatzung der Palästinenser mit dem kleinsten Wörtchen zu erwähnen, scheint – um den Waffen-Realisten mit moralischem Realismus zu konfrontieren – nicht gerade von kantischem Friedenswillen und einer notwendig kritischen Haltung gegenüber dem Land Israel zu zeugen.

Deutschland muss in vieler Hinsicht erwachsen werden. Aber bestimmt nicht in Militarisierung und technischer Überlegenheit, um eine völkerrechtswidrige Politik zu betreiben.

Schuldsuche ist Ursachensuche. Wer Ursachen von Fehlverhalten nicht analysieren will, ist kritikunfähig. Wer Schuldzuschreibungen für irrational hält, hält sich für unfehlbar und ist demokratie-unfähig.

Merkel wurde kritisiert, als sie die Wahlschlappe der CDU mit den Worten kommentierte, sie könne nicht erkennen, welche Fehler sie gemacht habe. Dieselben Kritiker haben aber keine Scheu, Schuld- und Ursachenforschung generell aus der Öffentlichkeit zu verbannen, um päpstlicher als der Papst zu werden.

Papistische Unfehlbarkeit passt zum gegenwärtigen Abriss der Demokratie, die in der „Unschuld des Werdens“ sich nur noch als schuldlose Maschinerie definieren will.

Eine intakte Demokratie ist ein politisch-moralisches Unternehmen, das, pendelnd zwischen utopischen und realistischen Zielen, seinen Weg zum Frieden mit der Welt in Versuch und Irrtum suchen muss.

Heute kann man Sätze lesen, die von der Gründungs-Weisheit der Demokratie um Welten entfernt sind:

„Da Demokratie schon immer ein technologiegetriebenes Projekt war …“ (ZEIT.de)

Wenn Demokratie ein technologisches Projekt ist, können wir uns Aufklärung, Mündigkeit und autonome Moral sparen. Es genügte der Hinweis auf die Unvermeidbarkeit technischer Entwicklung:

„Perspektivisch werden Algorithmen, Roboter und künstliche Intelligenz nicht nur Mobilität und Medien verändern, sondern tiefe Spuren in unserer Gesellschaft und unserem Menschenbild hinterlassen.“

Es gehört zum dubiosen Charme des Fortschrittsfatalismus, dass er nur noch sinnfreie abstrakte Sätze formulieren kann. Welche Spuren werden hinterlassen? Haben wir diese Spuren widerspruchslos hinzunehmen? Sollten wir uns wehren? Sind diese anonymen Mächte eine Bedrohung unseres demokratischen Menschenbildes?

Wir enden mit der Perspektive eines allwissenden Staates, der seine Untertanen so passgenau steuert, dass es nicht mehr den kleinsten Raum für ein selbstbestimmtes Leben gibt:

„Machtvolle Algorithmen hingegen können künftig nicht nur für optimierten Straßenverkehr sorgen, sondern auch für ein optimiertes Aufmerksamkeitsmanagement. Jede und jeder bekommt in seinen Kommunikationsstreams genau das, was zu ihr und zu ihm passt.“

Allwissende Algorithmen werden den Einzelnen so im Griff haben, wie der Schöpfer seine Kreaturen. Der omnisziente Gott der Frühe entlarvt sich am Ende seiner geschichtlichen Biographie als der, der er von Anfang an war: als furchterregender Traum des Menschen, seinem Mitmenschen eine unbezwingbare Gott-Maschine zu sein.

„Wo soll ich hin gehen vor deinem Geist, und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht.“

Wächter, wie lang noch die Nacht? Solange, wie der Mensch sein Schicksal gottergeben über sich ergehen lässt.

 

Fortsetzung folgt.