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Umwälzung XXV

Hello, Freunde der Umwälzung XXV,

junge Menschen in Amerika haben es satt, stellvertretend für ihr Land die Hassregungen der Gesellschaft über sich ergehen zu lassen. Sie wollen keine Zielscheiben mörderischer Waffen mehr sein und verlangen von ihrem Präsidenten das Verbot der allpräsenten Tötungswerkzeuge.

Wenn die Erwachsenen versagen, müssen wir Jugendliche ihren Job übernehmen und versuchen, die Welt ein wenig menschlicher zu machen – sagte eine Schülerin unter Tränen vor der Kamera. Wie viele Tränen wird sie noch vergießen müssen beim Anblick der nach oben offenen Menschenfeindschaft westlicher Kulturen, die seit 1000en von Jahren durch die Lindigkeit und Sanftmut der christlichen Botschaft verseucht wurden?

Während Amerika sich bemüht, den Einfluss ihres Fake-Präsidenten einzudämmen, nimmt die deutsche Trumpisierung Fahrt auf. Was ist der Unterschied zwischen Trump und Machiavelli, dem Liebling deutscher Interessenpolitiker, Staatsphilosophen und Machtanbeter?

„Der Verwesung nahes Leben kann nur durch das gewaltsamste Verfahren reorganisiert werden“, rühmte Hegel den Italiener im Namen aller deutschen Schicksalspolitiker. Machiavelli gestattete alle amoralischen Mittel, um seinem zerrütteten Land zum alten Glanz zu verhelfen, doch der Schein allgemeiner Sittlichkeit sollte – aus Gründen der Staatsraison – unangetastet bleiben.

Trump hingegen kennt keinen Unterschied zwischen Sein und Schein. Wie er sich gibt, so ist er, wie er ist, so soll er sein. Trump ist der homo novus futurus. Er kennt keinen Unterschied mehr zwischen den Instanzen Es, Ich und Über-Ich. Seine Triebregungen sind identisch geworden mit seiner Moral, sein Unbewusstes mit seinem Bewusstsein, sein Sein mit seinem Sollen. Es und Über-Ich sind bei ihm

verschmolzen zum Ich. Er ist, wovon Philosophen nur träumen konnten, zum Menschen aus einem Guß, zur exemplarischen Verkörperung der Postmoderne geworden.

Trump verletzt keine Regeln, denn er kennt keine. Er lügt nicht und widerspricht sich nicht, denn Logik und Wahrheit sind ihm unbekannt. Sein mephistophelischer Klamauk ist seine raison d’être, sein nationaler Egoismus sein globaler Altruismus, sein atomarer Schabernack Inbegriff seiner weltpolitischen Vernunft. Als Dialecticus hat er die Widersprüche der Welt ausgerottet – und damit alle Deutschen übertroffen. Wehe der Welt, wenn sie sich der Trump‘schen Allversöhnung verweigert.

Doch die Deutschen strengen sich an, das heimliche Idol einzuholen. Die Guten dürfen kein Verständnis mehr entwickeln für die Bösen. Diese müssen gnadenlos stigmatisiert, an den Pranger gestellt und lebenslang einkerkert werden.

BILD-Reichelt, Frontkämpfer in allen Weltkonflikten, hat in einer Plasberg-Sendung der Verstehensideologie den bedingungslosen Kampf angesagt. Böse Menschen dürfen in ihrer Verworfenheit nicht verstanden werden und müssen für immer hinter Gittern verschwinden.

Man darf sich streiten, welche Strafe schlimmer ist: eine schnelle Todesstrafe oder ein lebenslanges Begrabenwerden im Kerker. Amerika vereinigt alle Torturen in biblischer Nächstenliebe. Überfüllte Gefängnisse, Guantanamo-Foltern, zermürbendes Warten auf das Ende und schließlich der grausam-quälende Tod.

ARD-Plasberg, der entrüstet von sich weist, die Demokratie retten zu wollen, hatte nichts Besseres zu tun, als der BILD ein öffentliches Tribunal zur Verfügung zu stellen. Anstatt nach dem generellen Zustand des Rechts in diesem Land zu fragen, stellte er „bestialische“ Außenseiter in den Mittelpunkt seiner reißerischen Sendung. Anstatt nach Gründen des Verbrechens, dem Sinn von Urteil und Strafe zu fragen, wurde dem Publikum eingeflößt, Kriminelle seien nichts als Scheusale, die vom gesitteten Teil der Menschheit für immer zu trennen sind.

Sage mir, welche Experten du einlädst und ich sage dir, welche Botschaft du deinem Publikum vermitteln willst. Kein einziger Sozialtherapeut, kein einziger Fachmensch für das Innenleben. Wieder einmal war das skandalöse Motto deutscher Medien mit Händen zu greifen: Journalisten haben sich weder mit dem Guten noch mit dem Bösen zu identifizieren. Dass man sich dem Bösen unterwirft, wenn man sich dem Guten verweigert, das ist deutschen Nietzscheanern jenseits von Gut und Böse nicht zu vermitteln.

Nachdem man Verstehen mit Billigen gleichgesetzt hatte, war es ein Leichtes, das Verstehen des Bösen als Billigen zu attackieren. Reichelt gelang es, das Verstehen derart herunterzuputzen, dass sich keine energische Stimme fand, um seine Denunziationen zurückzuweisen. In strategischer Kumpanei mit Reichelt fegte Plasberg alles vom Feld, was eine nähere Untersuchung verdient hätte.

Erst hinter Gittern würden die Bestraften wirklich kriminalisiert, warf Ex-Innenminister Baum ein. Kein Kommentar. Die Anzahl jugendlicher Verbrechen habe abgenommen, erklärte ein Richter – kein Kommentar. Der Eindruck musste erweckt werden, dass alles unentwegt schlimmer wird.

Die BILD-Kritik der Sendung bejubelte das Tribunal als Sieg ihres Rudelführers. Friede Springer und Döpfner, just amerikanisch geadelt, dürfen stolz sein auf ihre wahrheitsliebenden Leitfiguren.

Eine Demokratie, in der Andersdenkende und Anderstuende nicht mehr verstanden werden, ist dabei, sich abzuschaffen. Der Streit der Meinungen kann nur gelingen, wenn der Andere durch Unverständnis nicht dämonisiert wird. Streiten heißt nicht nur, mit besseren Argumenten den Anderen zu „besiegen“, sondern ihm die Chance zu bieten, sich selbst besser zu verstehen. Sollte sich seine These als falsch erweisen: was bewog ihn, ihr zu verfallen?

Der sokratische Dialog ist eine anamnestische Hilfe, die Entwicklung seiner Gedanken bis zu jener Stelle zurückzuverfolgen, wo sie vom Pfad der Erkenntnis abwich. Nicht umsonst sind Erinnerungen die wirksamsten therapeutischen Methoden, um seine Entwicklung so weit zurück zu spulen, bis man die falsche Weichenstellung findet. Bis hierher dachte ich folgerichtig, was aber war es, das mich auf den falschen Weg nötigte? Welche Faktoren zwingen die Menschen auf den Weg des Irrens?

Verstehen war einst die nicht-quantifizierbare Form des Erklärens. Naturwissenschaften erklären die Welt mit Messen, Rechnen und wiederholbaren Experimenten. In den Geisteswissenschaften ist dieses Erklären nicht möglich. Will ich einen Menschen verstehen, muss ich mich in ihn hineinversetzen und durch Rekonstruieren seines Werdens nachvollziehen, warum er geworden ist, wie er wurde.

Verstehen ist, den Prozess einer Entwicklung in Gedanken zu wiederholen. Das setzt die prinzipielle Verstehbarkeit einer Entwicklung voraus. Glaube ich, dass es unverstehbare Dinge gibt, werde ich durch selbsterfüllenden Gehorsam jedes Verständnis verhindern. Glaube ich an die Unverstehbarkeit des Bösen, werde ich jeden Bösen als Geburt des Satans in die Hölle fluchen.

Wer Verstehen verwirft, glaubt an das undefinierbare und unverstehbare Böse des christlichen Credos. In biblischen Büchern wird das Böse durch Einflüsterungen eines bösen Tieres erklärt, dem es gelingt, den Erkenntnistrieb der Frau anzusprechen.

„Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre, dass er lieblich anzusehen sei und begehrenswert, weil er klug machte.“

Gut zu essen – eine Sünde? Lieblich anzuschauen – eine Sünde? Klug machen – eine Sünde? Die Frau wird zum Gefäß der Sünde, weil sie die Natur verstehen, ein lustvolles, erkenntnisreiches Leben führen will. Die Notwendigkeiten und Freuden des Lebens hienieden, das Klugwerden und Erkennen der Natur werden zur Sünde erklärt. Das ist die Verdammung des irdischen Lebens zu einem nie endenden Krieg gegen alles Glück des Erkennens und Genießens auf Erden.

Verstehen heißt empathisches Erklären, emotionales Begreifen, mitfühlendes Erkennen. Reichelts Feindschaft gegen das Verstehen entlarvt ihn als fundamentalistischen Feind der Welt und Anhänger eines naturfeindlichen Gottes. Überall in Deutschland herrscht Regression ins Religiöse – sei es in klerikaler, sei es in verdeckt-säkularer Form.

Frauen, heißt es, könnten sich in Andere besser einfühlen, sie besser verstehen. Das gilt als Schwäche. Männer müssen sich nicht einfühlen, sie müssen durch Messen und Rechnen das Vorhandene erklären, um durch Erklären zu wissen, um durch Wissen – zu herrschen.

Wissen ist Macht, Verstehen ist gewaltfreies Miteinanderleben auf der Basis der Achtung, des Respekts und der Dankbarkeit. Wer den anderen versteht, wer begriffen hat, wie er werden musste, der er ist, der wird kaum noch fähig sein, ihn erkenntnis- und verständnislos zu einem Geschöpf des Satans zu erklären.

Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mit fremd – das ist keine Stimme eines Auserwählten, sondern eines Menschen, der in allen Schreckenstaten sich selbst wiederfindet, wozu er unter ähnlichen Umständen ebenfalls fähig gewesen wäre. Wenn Unverständnis das Dogma einer beurteilenden und strafenden Justiz sein soll, dann trennt uns nicht mehr viel von einem Herrn Freisler.

Reichelt bezog sich ständig auf das Volksempfinden, um seine eigene Borniertheit zu rechtfertigen. Auf der einen Seite wird das Volk zum dummen Pöbel erklärt, das nichts Besseres verdient habe, als von herzensgebildeten Eliten geführt zu werden. Die Intellektuellen Deutschlands finden zu ihrer traditionellen Lieblingsrolle zurück: als platonische Weise steht es ihnen zu, das unverständige Volk zu regieren – und ist es nicht willig, zu seinem Glück zu zwingen. Popper sprach vom platonischen Urfaschismus.

Auf der anderen Seite wird das Volk zum unfehlbaren Richter über Gut und Böse. Wie man es höheren Orts braucht, so wird das Volk zurechtgeschnitzt. Woher weiß Reichelt, wie das Volk denkt? BILD spielt sich auf als Volkes Stimme. Nach journalistischer Facon müsste sie als populistisches Hetzblatt gelten. Ein Populist maßt sich an, das Volk besser zu verstehen als es sich selbst. BILD will das Volk nicht nur verstehen, sie will für das Volk sprechen – weil es der Rede nicht fähig sei. Das ist eine der hinterlistigsten Methoden der Volksentmündigung.

Einmal will Reichelt verstehen, ein andermal verdammt er das Verstehen. Hat er Untersuchungen durchführen lassen, die mit bekannten Fälschungsmethoden wissenschaftlich beweisen, was der Auftraggeber hören wollte? Wenn es nach dem Volk ginge – unken die Gebildeten – gäbe es kein Europa, wäre längst die Todesstrafe eingeführt, hätte man Griechenland im Mittelmeer versenkt, den Staat zu sozialen Zwecken in den Bankrott geführt (oder aber die Faulen verhungern lassen, wie man‘s gerade braucht) und alle Flüchtlinge dieser Welt in idealistischer Dummheit aufgenommen oder in hartherzigem Egoismus verrecken lassen. Das Volk ist zur beliebigen Projektionswaffe verkommen. Fehlt nur noch die Berufung auf das gesunde Volksempfinden. Dann wäre der Bock fett.

Das Volk ist nicht die gesamte Nation minus Eliten. Auch Friede Springer und ihr verständnisloser Volks-„Versteher“ sind Volk. Das Volk ist keine heilige Masse, deren Meinungen man kritiklos befolgen müsste. Oft erweist es sich als klüger, verständiger und humaner als die kapitalistischen Herrscherklassen, die ungerührt Millionen Menschen auf dem Planeten ins Elend stürzen. Die Empathiewelle mit den Flüchtlingen erfolgte nicht auf Weisung von Oben. Es sind nicht die Reichen und Mächtigen, die sich redlich um die Eingliederung der Fremden kümmern.

Die Kanzlerin hatte eine Erleuchtung von Oben, um eine gefährliche Situation nicht zur Katastrophe ausufern zu lassen. Mit arroganten Erpressungssätzen: das schaffen wir – und wenn wir‘s nicht schaffen, ist das nicht mein Volk, schob sie ihr sebstverursachtes Problem auf ihre Untertanen – um sich seitdem nie mehr darum zu kümmern.

Dasselbe Volk, welches die Notleidenden willkommen hieß, gilt heute als idealistische Dummhorde, die ihren Altruismus narzisstisch überschätzt. Doch wer weigerte sich hartnäckig, eine Obergrenze der Willkommenen anzugeben? Heute ist nichts geklärt, alles ist vergessen und verdrängt.

Eva, das Weib, wollte klug werden durch Verstehen der Natur. Und das Weib erkannte, dass die Natur lieblich anzusehen war. Sehen, Schauen, Bewundern – waren die Hauptmerkmale des griechischen Erkennens.

Als die frommen Männer eingriffen, war es um das meditative Betrachten und Bewundern der Natur geschehen. Selbst für Aufklärer waren Naturerkenntnis und Naturbeherrschung nahezu identisch. Der Aufschwung der Naturwissenschaft seit Newton war ein gewaltiger Schub für das menschliche Erkennen. Seitdem aber Francis Bacon Wissen mit Macht gleich gesetzt hatte, wurde jedes Wissen automatisch zur Erweiterung der menschlichen Herrschaft über die Natur.

Auch das Verstehen wurde zu einer männlichen Herrschaftsdomäne. Dem italienischen Philosophen Vivo folgend, reduzierte Kant das Verstehen zum Begreifen des vom Menschen selbst Gemachten. Die menschen-unabhängige Natur könnten wir nicht verstehen:

„Nur durch das, was der Verstand selbst macht, versteht das Subjekt seinen Gegenstand, so dass wir nichts einsehen, als was wir selbst machen können.“

Womit klar ist, dass wir die Natur als „Ding an sich“ nie verstehen werden. Verstehen wird zum Macht-ausüben. Nicht so, dass wir tatsächlich verstünden, was wir beherrschen, sondern so, dass Verstehen überflüssig wird, wenn wir etwas in unsere Gewalt brachten. Ich verstehe eine Maschine, weil ich den richtigen Knopf drücken kann, um sie zum Laufen zu bringen. Mehr muss ich nicht verstehen. Auch der Ingenieur, der die ganze Maschine auseinander nehmen und zusammensetzen kann, versteht sie nur, insofern er sie beherrscht. Aus diesem Verständnis des Verstehens kommt die perverse Vorstellung der Männer, sie könnten ihre toten Maschinen besser verstehen als ihre quicklebendigen Frauen und Kinder.

Woher der absurde Drang der Männer, die Welt mit Maschinen zu fluten, die eines Tages alle Menschen in Intelligenz, ja in Einfühlungsvermögen, übertreffen sollen? Daher, dass sie kein Verständnis für das lieblich anzuschauende vitale Leben der Frauen und Kinder in der Natur aufbringen. Also verachten sie das Verstehen von unabhängigen Dingen, die sich dem Zugriff der Menschen entziehen. Im Revier ihres Verstehens müssen sie alles selbst erfunden haben, damit sie gottgleich darüber herrschen können.

Selbst bei Völkerversteher Herder wird Verstehen der „toten Natur“ – der Natur, die uns unähnlich ist – zu einem Ding der Unmöglichkeit.

„In der todten Natur kennen wir keinen innern Zustand und wissen nicht, was Schwere, Stoß, Fall, Bewegung, Ruhe, Kraft und Trägheit bedeuten.“

Mit anderen Worten: was wir nicht verstehen, weil wir es nicht beherrschen, das muss tote Natur sein. Es versteht sich von selbst, dass Weib und Kind für den Mann die unabhängige Natur symbolisieren. Warum fliehen Männer in die kapitalistische Hetze, wenn nicht, um diesen possierlichen und skurrilen Haustierchen zu entkommen?

Die Unfähigkeit des männlichen Verstehens bezieht sich nicht nur auf das Weibliche und Kindliche, sie erstreckt sich auf alles Schwache, Unfähige, eingeschlossen das Unangepasste, Verbrecherische und Böse. Schließlich war das Weib jenes verruchte Geschöpf, welches das Böse in die Geschichte brachte.

Eva ist die erste und böseste aller Bösen der Schöpfung. Ohne Eva kein Stalin und kein Hitler. Das gilt nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch im konkret-biologischen. Hätte es keine Mütter gegeben, die diese Verbrecher geboren hätten, hätte es keine schrecklichen Verbrechen gegeben.

Womit wir wieder bei den Straftätern wären. Warum wird ein Mensch zum Verbrecher? Laut Reichelt und Biblizisten gibt es nur eine mythische, aber keine rationale Erklärung. Der Verbrecher erwies sich als unbeherrschbares Fiasko, ergo kann er nicht verstanden werden.

Täter sind Opfer, die Unschuldige zu Opfern machen müssen, um sich vergeblich von der Last des Opferseins zu befreien. Kein Kind wird als Täter geboren.

Bei Plasberg wurde von niemandem die Frage gestellt: Weshalb werden Menschen zu Kinderschändern und Mördern? Scheint niemanden zu interessieren. Wir stellen uns dumm und stehen vor Rätseln.

Wer Menschen zu Unmenschen erklärt, ohne das Geringste über ihren Werdegang zu wissen, der ist unfehlbarer Großinquisitor. Reichelt & Plasberg agierten wie ein eingespieltes Scharfrichter-Duo, von Plasberg durch kritische Alibifragen geschickt kaschiert.

Warum spielt die Psychotherapie keine Rolle mehr bei Gericht? Warum gibt es nur noch Psychiater als Gutachter, die hinter bürgerlichen Maskeraden die Bestialität entlarven wollen? Die ernsthaft glauben, Menschen würden „aus freiem Willen“ Böses tun?

Ein schreckliches Unterfangen, an dem die Tiefenpsychologen nicht unschuldig sind. Bei den Freudschülern Theodor Reik und Franz Alexander, bei den ersten Nachkriegsanalytikern wie Erich Fromm, Alexander Mitscherlich und Horst Eberhard Richter, noch bei Tilman Moser gab es beeindruckende Versuche, die verbrecherischen Faktoren einer Biographie zu verstehen.

Seitdem hat sich die verstehende Psychotherapie in einen privatistischen Seelsorge-Kordon zurückgezogen und das gesamte Gebiet der strafenden Rechtssprechung jenen überlassen, die Verstehen als unwissenschaftlichen Hokuspokus verabscheuen. Sie geben sich als knallharte und unbestechliche Objektivisten.

Wenn ein psychologischer Versteher der Beate Zschäpe eine Schachtel Pralinen in die Zelle schmuggelt, geht die mediale Empörung weniger um das Schmuggeln, als um den eklatanten Verstoß gegen ein Berufsethos, das zwischen Therapeut und Patient eine unübersteigbare Mauer errichtet. Hier treffen sich nicht zwei Menschen, sondern ein kalter Experte studiert ein Objekt wie der Biologe ein unbekanntes Insekt unter dem Mikroskop. Der Fachmann darf keine menschlichen Gefühle für Verbrecher zulassen – und wenn doch, muss er sie unterdrücken oder den Job aufgeben. Humanität und Verstehen schließen sich aus. Das naturwissenschaftliche Maschinistenmodell hat Medizin und Psychiatrie erobert.

Warum – so der penetrant wiederholte Vorwurf Reichelts – wurden Kinderschänder immer wieder entlassen, obgleich die Gefahr eines Rückfalls nicht geleugnet werden konnte? Und: wie seriös können Prognosen sein, die von den Tätern immer wieder falsifiziert wurden? Dank Plasbergs Fehlbesetzung seiner Expertenrunde war niemand da, der die Frage beantworten konnte.

Selbst Natur besteht nicht nur aus 100%ig berechenbaren Vorgängen. Vieles unterliegt Wahrscheinlichkeitsgesetzen. Der Mensch ist ein prägbares, aber nicht völlig determinierbares Wesen. Das gilt nicht nur für normale Menschen, sondern auch für jene, die durch Menschen so beschädigt wurden, dass sie zu einem verlässlich-berechenbaren Verhalten kaum fähig sind.

Entscheidet sich ein solcher Mensch zu einer Gefängnistherapie, wird’s erst recht unübersichtlich. Auch wenn der Verbrecher verstanden hat, welche Umwelt- und Erziehungsfaktoren seine kriminelle Psychostruktur geprägt haben, kann niemand genau vorhersagen, ob seine Selbsterkenntnis, selbst bei besten Vorsätzen, ausreicht, einen Delinquenten in einen rechtstreuen Bürger zu verwandeln.

Jede therapeutische Prognose ist unsicher. Dennoch sollten Demokratien schuldigen Menschen die Chance geben, ihr Leben zu verändern. Es sollte alles unternommen werden, um die Gesellschaft vor ihnen und sie vor sich selbst zu beschützen. Dieser Schutz aber darf kein lebenslanges Wegsperren sein. Sondern die Chance zur Selbstbesinnung und Veränderung. Dennoch sind Restrisiken nie zu vermeiden. Total sichere Gesellschaften sind totalitäre Gesellschaften. Humane Gesellschaften erkennt man daran, dass sie jenen eine zweite Chance geben, deren erste Chancen sie zerstören ließen.

Plasberg & Reichelt stellten keine Fragen. Sie spielten die selbstgefälligen Scharfrichter, die mit dem Daumen nach unten zeigen. Moral wurde zur Vernichtungswaffe in den Händen jener, die sonst nicht müde werden, Moral als Sache von Spießern und Idioten zu verhöhnen. Schrecklicher kann Heuchelei nicht sein.

An der Gesamtmisere ist unser Rechtssystem nicht unschuldig. Das geltende Recht wird nicht zuletzt von „rechtspositivistischen“ Ideen mitgeprägt – oder Ideen der „Reinen Rechtslehre“ – die sich als Naturwissenschaft verstehen und jedes psychotherapeutische Verstehen ablehnen.

Hans Kelsen war ein führender Rechtspositivist, der das Recht als Reich für sich betrachtete, unabhängig von allen anderen Wissenschaften – die im Bereich der Justiz nichts zu suchen hätten. In der Auffassung dieser Reinen Rechtslehre gebe es nur

„ein Recht, das positive Recht. In völlig kritikloser Weise habe sich Jurisprudenz mit Psychologie und Soziologie, mit Ethik und politischer Theorie vermengt. Die Reine Rechtslehre versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie will Jurisprudenz auf die Höhe einer echten Wissenschaft heben. Reine Rechtslehre hält sich von aller Politik fern. Aus der radikalen Trennung von SEIN und SOLLEN ergibt sich die Relativität allen Rechts. Wie aller Positivismus steht die Reine Rechtslehre in schärfster Opposition zu allem Naturrecht.“ (Brockhaus, Fachlexikon RECHT)

Unter Naturrecht wird hier die Stimme der Vernunft verstanden. (Daneben gibt es noch das katholische Naturrecht, das in belanglosen Dingen die Vernunft, in existentiellen Fragen aber Gott als obersten Rechtgeber anerkennt.)

Seit 100en von Jahren ist das Menschenbild deutscher Juristen vom Bösen geprägt. Der Verbrecher gilt als heimtückisches, arglistiges, mit kaltem Vorsatz agierendes Scheusal. Hinzu kommt der demokratische Skandal, dass Recht und Moral nichts miteinander zu tun haben sollen. Recht ist keineswegs jene Minimalmoral, die eine Gesellschaft zusammenhält.

„Recht und Moral müssen sich nicht entsprechen. Theoretisch und systematisch sind beide Bereiche zu trennen, um klar zu erkennen, welche Elemente rein rechtlicher Natur und welche moralischer Natur sind.“ (Brockhaus)

Ist es Zufall, dass man die Stichworte Würde und Vernunft im Rechtslexikon vergeblich sucht? Dass es nur einen einzigen belanglosen Satz gibt über sozialtherapeutische Anstalten, in denen Gefangene die Chance einer Therapie erhalten?

Bleibt noch die Randbemerkung, dass die sokratische Lehre in völligem Widerspruch steht zum geltenden Rechtssystem.

Kein Mensch fehlt freiwillig. Nur aus mangelnder Einsicht in die Vernunft geht ein Mensch in die Irre. Wie aber kann er zur Vernunft kommen, wenn er nicht das Glück hatte, in einer liebevollen und vernünftigen Umwelt aufzuwachsen?

Wer ist schuld, dass eine demokratische Gesellschaft Verbrecher produziert? Die Gesellschaft. Wer ist die Gesellschaft? Wir alle. Wir müssen vor Gericht.

 

Fortsetzung folgt.