Kategorien
Tagesmail

Umwälzung XVII

Hello, Freunde der Umwälzung XVII,

Politik rauscht vorbei und berührt niemanden mehr. GroKo oder nicht – lass fahren dahin. Bruchlos werden sich die Bewunderer der Disruption weiterhin durch die Zeitläufte mogeln. Nichts wird sich verändern. Die Matadore spielen sich die immer gleichen, von allen Gedanken befreiten Bälle zu. Jede Durchschnittsmaschine aus Silicon Valley könnte die eingeschliffenen, wie auf Knopfdruck reagierenden Reiz-Reaktionsspiele der Politköpfe simulieren, einschließlich der Idiosynkrasien der Moderatoren. Bald wird man nicht mehr unterscheiden können, ob das menschliche Original oder ein Maischberger-Avatar die programmierte Sendung präsentiert hat.

Der Mensch, der die Maschine zu seinem Ebenbild erhebt, macht sich zuvor selbst zu einer, damit es ihr umso leichter fällt, das überflüssige Original zum Verschwinden zu bringen. Die Maschinen wundern sich bereits, dass ihre Creatoren es ihnen so leicht machen, sie nachzuäffen. Die genialen Algorithmen sollen denken können? Da hätten sie ihre Schöpfer, die ihr Tüfteln fälschlich als Denken betrachten, ja längst überholt.

Eröffnen wir – um die Politik aufs Geleis der Vernunft zu setzen – das Zeitalter der grundsätzlichen Gedanken oder die Ära der Philosophie. Wohin ist sie verschwunden? Wer hat sie um die Ecke gebracht?

Alle, die nicht an sie glaubten und seltsamerweise alle, die an sie glaubten. Hegel glaubte an die Vernunft. Dennoch drehte er ihr den Hals um, als er sie vorzeitig zur Geburt zwang und die schnöde Wirklichkeit mit ihr gleichsetzte. Was wirklich war, war vernünftig, und was vernünftig war, war Berlin? Da hätten wir ja schon seit 200 Jahren eine stolze Berliner Vernunftgeschichte hinter uns gebracht. Die Berliner Regierung wäre so rational, dass sie vor Vernunft nicht mehr laufen könnte. Laufen kann sie allerdings nicht mehr. Aber nicht aus Vernunft, sondern

aus Mangel derselben.

Was lernen wir daraus – vorausgesetzt, wir verwechseln Lernen nicht mit Aufstiegs-Bildung? Vernunft muss vorläufig bleiben, solange wir nicht im Zeitalter der Vernunft angekommen sind. Wie erkennen wir das Zeitalter der Vernunft? Da müssen wir – Überraschung! – beim Erfinder des Kapitalismus nachschlagen und wir werden finden das Kindlein in der theoretischen Krippe liegen:

„Die Menschlichkeit wünscht gar nicht groß und angesehen zu sein, sondern geliebt zu werden. Nicht am Reichtum würde sich Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit erfreuen, sondern daran, dass sie Vertrauen und Glauben erwecken, Entschädigungen, die diese Tugenden beinahe immer erwerben werden.“ (Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle)

Da erfindet einer den Kapitalismus, um Zustände anzustreben, die heute als unverträglich mit Raffgier und Machtanhäufung gelten. War Adam Smith ein Heuchler – oder wurde sein kapitalistisches Baby erst von seinen Nachfolgern zum Monstrum verunstaltet?

Auch Marx, der Hegel auf den Kopf stellen wollte, hat sich an der Philosophie unsittlich vergriffen. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“

Mit Verlaub: Philosophen haben die Welt verändert. Nicht genug, aber das lag nicht nur an ihnen. Marx gibt das selber zu, wenn er behauptet, die Philosophie dürfe nicht aufgehoben werden, bevor sie nicht verwirklicht wurde.

„Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen.“Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen.“ „Das Herz der Revolution ist das Proletariat, der Kopf die Philosophie.“

Beim jungen Marx sind Herz und Kopf, Proletariat und Philosophie gleichberechtigt. Erst der ältere Marx sorgte für Unterordnung des Bewusstseins unter das Sein, des Geistes unter die Materie. Unter Geist verstand Marx den Geist eines Gottes, der jenseits der Natur war. Der Kampf gegen diesen Gott war zwar notwendig, doch die Gleichstellung des Geistes mit Gott übersah den Geist des Menschen, der nicht im Gegensatz zur Natur stand. Die Verneinung von Gottes Geist negierte zugleich – und hier glitt Marx in die romantische Gegenaufklärung – die Autonomie des menschlichen Geistes. Geist ist nicht Geist, Gott nicht Mensch.

Marx bekämpfte das Christentum, übersah aber die philosophische Aufklärung der Griechen. Von den Griechen waren die Deutschen besoffen, doch ihre demokratische Vernunft nahmen sie nicht zur Kenntnis. Indem der Geist in die Materie zurückgeholt wurde, wurde der Geist der Aufklärung und der politischen Autonomie negiert. Wie kann das Proletariat Philosophie realisieren, wenn Philosophie Geist Gottes ist?

Hegel machte den Fehler, die Vollendung des Geistes – okay, mit kleinen Macken – in Berlin anzusiedeln. Marxens Schüler machten den Fehler, die Verwirklichung der Philosophie im real existierenden Sozialismus zu sehen. In beiden Fällen war Philosophie ans Ziel der Geschichte gelangt, die eine Heilsgeschichte war.

Heilsgeschichten benötigen keine Menschen, um ans Ziel zu gelangen. Menschen können ihr Tempo geringfügig verzögern oder beschleunigen – ihren Automatismus können sie nicht verändern. Der Sozialismus verbat sich jede Kritik an seiner Realität, denn er repräsentierte das jeweilige Optimum seiner Möglichkeiten.

Wahrnehmungslos fielen Marx & Engels, die als religionskritische Aufklärer begonnen hatten, zurück in die Anbetung einer Heilsgeschichte. Der Kampf gegen den Geist Gottes geriet zum Kampf gegen den menschlichen Geist, der seiner moralischen Autonomie beraubt wurde. Kapitalismus wurde zu einem komplizierten Natur-Mechanismus, der entschlüsselt werden musste wie die Berechnung einer Planetenbahn.

Aus einem Gebilde der Menschen, das im Verlauf der Zeiten durch viele moralisch-politische Entscheidungen zusammengeronnen war, war ein evolutionärer Selbstläufer geworden, der durch keine moralische Intervention des Menschen verändert werden konnte. Der Selbstläufer schuf Probleme und löste sie zugleich.

Motor der Entwicklung war die Dialektik, die beides schuf, das Gute und das Böse. Marxens Optimismus, dem kapitalistischen Optimismus bis aufs I-Tüpfelchen ähnlich, beruhte auf dem Glauben, der Mensch könne alle Probleme, die er geschaffen hatte, selber lösen:

„Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.“

Je mehr das materielle Sein hochgewertet wurde, je mehr wurde das selbstbestimmte Bewusstsein des Menschen abgewertet.

„Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen.“

Warum stellte sich der Mensch nur Probleme, die er lösen kann? Weil die Verbindung von Problem und Lösung nicht von ihm abhing, sondern von einer „prästabilierten Harmonie“ zwischen Wirklichkeit und Gedanke. Für Marx-Schüler Habermas musste die Geschichte dem Menschen erst entgegenkommen, damit seine revolutionären Taten auf fruchtbaren Boden fallen konnten. Wie die Frommen der Erlöserreligion an das Wirken Gottes gebunden waren, so waren die Frommen des materiellen Seins auf die Geschichte angewiesen. Weshalb sie alle „abstrakt- moralischen Utopisten“ als Schwärmer verachteten, die keine Ahnung von der selbstlaufenden Wirklichkeit hätten.

„Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.“

Welch ein „undialektischer Unsinn“, Praxis von der Theorie zu trennen. Eine Praxis ohne Theorie ist bewusstseinsloses Wurschteln à la Merkel, die alles, was sie gedankenlos tut, ihrem Gott anheim stellt.

Hier sieht man die eklatanten Parallelen zwischen Hayek und Marx. Wie Marx war Hayek ein Gegenaufklärer, der dem Menschen die Fähigkeit absprach, zu verstehen, was sich auf dem hyperkomplexen Markt abspielt. Schon Adam Smith, obgleich Aufklärer, konnte das gemeinsame Wohl einer konkurrierenden Gesellschaft ohne Hilfe einer Unsichtbaren Hand nicht erklären. Auch für Marx und Hayek waren Menschen vollständig überfordert, die Überkomplexität des Lebens auch nur annähernd zu verstehen, geschweige, sie nach Gutdünken zu steuern.

Wir sehen die Demarkationslinie der menschlichen Entmündigung, die mit augustinischer Gnadenlehre begann und über Luthers sola gratia, die romantische und marxistische Gegenaufklärung bis zu Hayeks Neoliberalismus reicht. Gegenaufklärer glauben nicht an die Lernfähigkeit der Vernunft, sie vertrauen höheren Mächten, denen der Mensch sich unterzuordnen hat. Solange die Linke von Marx beeinflusst ist, solange bleibt es unsinnig, links als autonom und rechts als heteronom gegenüber zu stellen.

Linke, Rechte und Christen sind einem omnipotenten Gott, einer Heilsgeschichte oder einer komplexen Evolution ausgeliefert. Das ist der ideologische Kern der deutschen GAGROKO-Mentalität. Abgesehen von taktischen Scharmützeln und marginalen Differenzen schwimmen sie im selben Gehorsamsbrei.

In Deutschland ist der Glaube an die moralische Autonomie des Menschen unbekannt. Hass und Spott gegen Gutmenschen ist das Kainszeichen derer, die sich mit lächerlichen Moralfähigkeiten der Menschen gar nicht abgeben. Sie fühlen sich verbunden mit höheren Mächten, die rot sehen, wenn die menschliche Kanaille ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen will.

„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“

Damit ist jede „utopische Moral“ vom Tisch. Es gibt keinen Unterschied zwischen Sein und Sollen. Sein ist identisch mit Sollen. Es gibt keine Probleme, die das Sein nicht lösen könnte.

Die Omnipotenz Gottes wurde zur Omnipotenz der Geschichte. Der Mensch kann die Überlegenheit Gottes oder der materiellen Geschichte nur bewundernd anschauen – und so tun, als ob alles von ihm abhinge. Luther forderte von den Gläubigen, zu handeln, „als ob es Gott nicht gäbe“ – dennoch im Gehorsam, dass Gott alles im Griff hat. Desgleichen die marxistischen Linken, die so tun, als hinge alles von ihrem revolutionären Furor ab, tatsächlich aber wissen: ohne allmächtige Geschichte läuft nichts. Im christlichen wie im marxistischen Glauben bleiben Menschen Marionetten höherer Mächte.

Lenin hatte die Deutschen verspottet, ohne Bahnsteigkarte könnten sie keinen Bahnhof stürmen, um die Revolution zu beginnen. Er hätte sich an die eigene Nase fassen müssen. Ohne „Bahnsteigkarte“ einer geschichtlichen Erlaubnis sind die Klassenkämpfer dazu verurteilt, auf der heimischen Couch revolutionäre Funken zu versprühen – in Wirklichkeit aber passive Beobachter der Geschichte zu bleiben.

Marx glaubte, den Zustand der griechischen Kontemplation, des tatenlosen Schauens, überwunden zu haben. Tatsächlich fiel er in die Passivität bloßen Zuschauens zurück. Aus eigenem Antrieb und in autonomer Kompetenz konnte er sein Schicksal nicht bestimmen. Wie Quietisten mussten sie das Ohr auf die Schienen legen, um den Zug der Geschichte zu hören und tun, was der Zug ohnehin tun würde.

Woher der ungeheure Erfolg des Marxismus?

Es war die doppelte Attraktion a) eines nie gekannten revolutionären Feuers, das die Menschen in fiebrige Leidenschaft versetzte – und b) einer gleichzeitigen Entlastung von jeder Verantwortung durch das wohlige Gefühl, auf der rechten Seite der Geschichte zu stehen. Wer mit Gott oder sonstigen Mächten verbunden war, konnte sicher sein: es kann nichts schief gehen.

Wie Eros die parallele Leidenschaft zweier Individuen, so ist revolutionäre Glut, eingebettet in das Wohlwollen höherer Mächte, eine Koinzidenz des Allgemeinen und Besonderen. Es ist wie das Nestbewusstsein geliebter Kinder, die alles, was sie tun, in einvernehmlicher Sicherheit mit übermächtigen Eltern verrichten können. Erst wenn die Kinder schmerzhaft erfahren, dass die Macht ihrer gottgleichen Eltern begrenzt ist, müssen sie lernen, das Sein vom Sollen zu trennen und sich selbst bemühen, die Wirklichkeit mit ihrer Moral zu beeinflussen.

Eben dies ist Vernunft, die Wirklichkeit mit eigener Erkenntnis und Moral so zu bestimmen, dass sie Vorstellungen allgemeiner Humanität entspricht.

Wie Marx der Hegel‘schen Vernunft mit der Begründung absagte, sie habe das Maul zu voll genommen, lehnte er die Vernunft der Aufklärer mit ähnlichen Argumenten ab. Zwar habe sie in der Französischen Revolution Außerordentliches erreicht – letztendlich aber nur für die Bourgeoisie, die der Realität ihre kapitalistischen Gesetze aufoktroyieren konnte – unter Degradierung des revolutionären Proletariats zum Pöbel der Gesellschaft. Die zeitweilige Kooperation mit den Unterschichten hatte das Bürgertum benutzt, um die oberen Klassen zu entmachten. In dem Moment aber, als jene besiegt waren, erklärten sich die Kapitalisten zu Herren der Geschichte – indem sie die Proleten noch schlimmer aussaugten als Adel und Priester zusammen.

In seinem Werk „Von der Utopie zum Sozialismus“ bringt Engels die Ablehnung der Vernunft aus marxistischer Sicht auf den Begriff:

„Die großen Männer, die in Frankreich die Köpfe für die kommende Revolution klärten, traten selbst äußerst revolutionär auf. Sie erkannten keine äußere Autorität an, welcher Art sie auch sei. Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte sein Dasein vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder aufs Dasein verzichten. Der denkende Verstand wurde als alleiniger Maßstab an alles angelegt. Es war die Zeit, wo, wie Hegel sagt, die Welt auf den Kopf gestellt wurde, zuerst in dem Sinn, daß der menschliche Kopf und die durch sein Denken gefundenen Sätze den Anspruch machten, als Grundlage aller menschlichen Handlung und Vergesellschaftung zu gelten; dann aber später auch in dem weitern Sinn, daß die Wirklichkeit, die diesen Sätzen widersprach, in der Tat von oben bis unten umgekehrt wurde. Alle bisherigen Gesellschafts- und Staatsformen, alle altüberlieferten Vorstellungen wurden als unvernünftig in die Rumpelkammer geworfen; die Welt hatte sich bisher lediglich von Vorurteilen leiten lassen; alles Vergangne verdiente nur Mitleid und Verachtung. Jetzt erst brach das Tageslicht, das Reich der Vernunft an; von nun an sollte der Aberglaube, das Unrecht, das Privilegium und die Unterdrückung verdrängt werden durch die ewige Wahrheit, die ewige Gerechtigkeit, die in der Natur begründete Gleichheit und die unveräußerlichen Menschenrechte. Wir wissen jetzt, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war als das idealisierte Reich der Bourgeoisie; daß die ewige Gerechtigkeit ihre Verwirklichung fand in der Bourgeoisjustiz; daß die Gleichheit hinauslief auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz; daß als eines der wesentlichsten Menschenrechte proklamiert wurde – das bürgerliche Eigentum; und daß der Vernunftstaat ins Leben trat und nur ins Leben treten konnte als bürgerliche, demokratische Republik. So wenig wie alle ihre Vorgänger konnten die großen Denker des 18. Jahrhunderts hinaus über die Schranken, die ihnen ihre eigne Epoche gesetzt hatte.“

Die Vernunft der Aufklärer war eine imponierende weltverändernde Kraft. Am Ende aber brachte sie es nur zur Errichtung des Kapitalismus unter trügerisch demokratischen Vorzeichen. Für das Bürgertum hatte sich vieles verändert, mit Hilfe der Vernunft hatte es seine Unterdrücker vertrieben und sich die Macht über die Gesellschaft angeeignet. Für das Proletariat aber verwandelte sich der Sieg der Revolution in eine schlimmere Abhängigkeit unter die Bourgeoisie, als sie je unter dem Adel erleiden mussten.

Dieses Gesetz wiederholt die heutige SPD, wenn ihren Karrieristen nichts anderes einfällt, als ihre ehemaligen Klassenbrüder (die Schwestern kann man vernachlässigen) zum Verrat an ihrer Klasse zu motivieren und in die oberen Stände abzuschwirren. Zudem wiederholen sie die Unverschämtheit aller Eliten, sämtliche Schwierigkeiten den Schwächsten anzulasten – und die Starken von aller Schuld freizusprechen.

Im Kapitalismus wie im Sozialismus muss der Mensch seine Vernunft auf dem Altar des Seins, eines Gottes oder der Heilsgeschichte opfern. Bei Kapitalisten der subjektive Furor des Fortschritts ins Grenzenlose, gekoppelt mit absolutem Gehorsam gegen übermenschliche Mächte; bei Sozialisten der subjektive Furor der Revolution, gekoppelt mit absolutem Gehorsam gegen die Heilsgeschichte des Proletariats. Auf beiden Seiten steht der subjektive Furor in diametralem Gegensatz zur objektiven Passivität gegenüber den wahren Mächten des Seins. In beiden Fällen berauscht sich der Mensch mit einer subjektiven Droge – um nicht zu sehen, wie hilflos er höheren Schicksalsmächten ausgeliefert ist.

Wahre Vernunft aber sieht sich nicht vollendet, bevor nicht der letzte Unterdrückte und Entehrte seine Menschlichkeit gefunden hat. Sie verbindet realistische Einsicht ins Subjekt mit realistischer Wahrnehmung der objektiven Verhältnisse. Sie wiegt sich nicht in der falschen Sicherheit, eine allmächtige Dialektik oder ein omnipotenter Gott werden sie schon nicht im Stich lassen.

Sie weiß: die absolute Katastrophe ist möglich. Und dennoch ist sie optimistisch, solange sie keine Gründe kennt, die sie zum Pessimismus zwingen. Solange der Mensch lebt, hat er eine Chance. Aber nur, wenn es der Vernunft gelingt, die irrationalen Herren des Planeten ihrer Macht zu berauben und rationalen Kräften das Geschick der Menschheit anzuvertrauen.

Zu den rationalen Kräften der Demokratien gehört jeder mündige Mensch, der die Pflicht und Schuldigkeit hat, all seinen MitbürgerInnen klar zu machen: es geht um dich, es geht um uns alle. Also beweg deinen Hintern.

Engels Kritik an der mangelhaften Vernunft der Bourgeoisie war teilweise berechtigt. In einem aber irrte sie gewaltig, als sie eine mangelhafte Vernunft der Vernunft an sich gleich setzte. Wie eine desolate Demokratie nicht die Verkörperung der Demokratie ist, so ist eine mangelhafte Vernunft nicht die Vernunft. Engels übersah, dass Vernunft erst vollendet sein kann, wenn alle Menschen als Menschen behandelt werden.

Ob es zu dieser Vollendung kommen kann? Welche Gründe sprechen dagegen? Der Mensch hat schon Außerordentliches gelernt. Es ist leicht, ihn als hoffnungslosen Sündenkrüppel zu verdammen. Das ist nichts als Menschenhass derer, die Natur und Mensch nicht lieben dürfen, weil sie einen menschenfeindlichen Gott lieben müssen.

Die Probe aufs Exempel einer mündigen Vernunft wäre die Fähigkeit, Schwächen der Menschen illusionslos wahrzunehmen – und gleichzeitig ihre humanen Fortschritte. Dies kann uns ermutigen, den Kampf gegen Unvernunft nicht früher verloren zu geben, als eine apokalyptische Katastrophe es ultimativ erzwingen könnte.

Der Kampf gegen Unvernunft ist eine Sache der kollektiven Erinnerung. Nur das Bewusstwerden unserer Irrtümer kann uns den Weg weisen, dem Wiederholungszwang unserer Fehler zu entgehen. Wo Es war, soll Ich werden: wenn Freuds Devise richtig ist, um dem Einzelnen zur Mündigkeit zu verhelfen, kann sie für die Gattung nicht falsch sein.

Vernunft muss sich ihrer Vorläufigkeit und Schwäche bewusst werden, um aus Versuch und Irrtum die richtigen Schlüsse zu ziehen – und den Karren der Menschheit ein Stück weiter zu ziehen. Die Schwäche der Vernunft darf nicht als Wankelmütigkeit der Moral missdeutet werden. Ich weiß, dass ich nichts weiß, war die theoretische Bescheidenheit des Sokrates, die ihn nicht daran hinderte, seine moralische Festigkeit und Zuversicht gegen alle Welt zu verteidigen.

England, Mutterland des Kapitalismus, kennt nicht nur habgierige Händler und darwinistische Ökonomen, die der Welt das Fell über die Ohren ziehen. Mitten unter ihnen gibt es bedeutende Denker und Wirtschaftstheoretiker, die Utopien besaßen, von denen man heute nichts mehr wissen will.

In einem Aufsatz mit dem Titel „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“ begründete John Maynard Keynes seine Hoffnung,

„… dass aufgrund des Fortschritts, der immer höheren Produktivität und des steigenden Vermögens „das wirtschaftliche Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst sein dürfte“. Die Menschen werden im Jahr 2030 von den „drückenden wirtschaftlichen Sorgen erlöst sein“, ihr größtes Problem werde es vielmehr sein, „wie die Freizeit auszufüllen ist“. Denn „Drei-Stunden-Schichten oder eine Fünfzehn-Stunden-Woche“ seien völlig ausreichend, um die Lebensbedürfnisse zu befriedigen.“ (DiePresse.com)

Und John Stuart Mill beschrieb in seinem Buch „Grundsätze der politischen Ökonomie“, dass es zu einem Aufhören des Wachstums kommen werde, weil die Menschheit das Ziel: Wohlstand für alle erreicht habe.

„Dieser stationäre wirtschaftliche Zustand bedeutet für ihn jedoch nicht, dass auch kein intellektueller, kultureller und wissenschaftlicher Fortschritt stattfindet und auch ein Mangel an Waren vorhanden ist. Stillstand herrscht allein in Bezug auf die Kapital- und Bevölkerungszunahme. Es ist ein Zustand, in dem „keiner arm ist, niemand reicher zu sein wünscht, und niemand Grund zu der Furcht hat, dass er durch die Anstrengungen anderer, die sich selbst vorwärts drängen, zurückgestoßen werde“. Das Streben nach Wachstum bezeichnet Mill als Sucht. Er geht davon aus, dass gesellschaftliche, kulturelle und sittliche Fortschritte umso größer wären, würde der Mensch dieser Sucht entsagen. Erwerbstätigkeit kann ebenso in Mills stationärem Zustand stattfinden, „nur mit dem Unterschiede, dass die industriellen Verbesserungen anstatt nur der Vermehrung des Vermögens zu dienen, ihre ursprüngliche Wirkung hervorbrächten, nämlich die Arbeit zu verkürzen“.

An Adam Smith, John Stuart Mill und John Maynard Keynes erkennen wir, dass der ursprüngliche Kapitalismus noch utopische Ziele haben konnte. Warum verwandelte er sich dennoch in eine menschenfeindliche Hassorgie? Mitten im Unrat wächst das Blümchen – das wir von jenem befreien müssen.

Wir müssen uns ändern.

 

Fortsetzung folgt.