Kategorien
Tagesmail

Umwälzung XLV

Hello, Freunde der Umwälzung XLV,

ereignet sich ein spektakuläres Verbrechen in der BRD, haben Medien Hochkonjunktur: TV-Berichte triefen von „Unfassbarkeit“, „Brennpunkte“ wiederholen das Berichtete in unterdrücktem Behagen, den Todes- und Tötungstrieb en Detail zu beschreiben, Putin und Trump kondolieren, Gottesdienste werden zum staatlichen Ereignis und Politiker formulieren Sätze, die das Triviale zur Offenbarung machen: absolute Sicherheit gebe es nicht.

Unendliche Verbrechen geschehen täglich auf Erden – aber im behüteten idyllischen Deutschland bleiben sie unfassbar. Ein wahrhaft sittliches Volk kann mit Schlechtem und Bösen nicht vertraut sein. Sein Urvertrauen in die Welt bricht zusammen, wenn wieder einmal das Unfassbare geschieht.

Dabei rühmen sich die Eliten des Volkes, den Kitzel der Unmoral als ästhetisches Vergnügen zu degoutieren. Wäre der Täter von Münster ein Künstler gewesen, der sein mörderisches Delikt als Performance im Modus realer Fiktion angekündigt hätte: wie sehr hätten sie sich das Geseire vom „Bösen, das uns nicht besiegen darf“ verbeten. Das Böse, dieser Satz steht für sie fest, ist stets das Langweilige und Alltägliche, das man lässt. Wie ernst muss man ein solches Volk nehmen, das selbst einmal zuständig war für das Allerböseste der Welt, wenn es das Böse als unfassbar von sich weg weist?

Geschieht das Schreckliche bei anderen, die sie als Feinde auserkoren haben, wissen sie genau, dass es das Infame sein muss.

A: Hör mal, mein Freund, du bist doch für Ökologie?

B: Was für eine Frage!

A: Warum fliegst du dann ständig in der Weltgeschichte herum und verstößt

gegen alle ökologischen Erkenntnisse?

B: Oh, da entpuppt sich einer als Überflieger, der andere moralisch in den Schatten stellen will. Ohne mich, mein Freund.

A (vor vielen Dezennien): Hör mal mein Freund, du bist doch gegen die Nationalsozialisten?

B: Was für eine Frage!

A: Warum kriegst du dann immer so leuchtende Augen, wenn dein Führer im Volksempfänger spricht?

B: Oh, da entpuppt sich einer als Rigorist und Besserwisser. Ohne mich, mein Freund.

Die deutsche Verhaltensreligion ist: glaube an das Gute – doch wehe, du tust es. Dann bist du ein unerträglicher Vernunftfanatiker.

Warum gibt es unter Deutschen keine Freundschaften, sondern nur Followers auf Netzdistanz? Weil sie unter Freundschaft keinen Wettkampf um das Gute und Wahre verstehen.

In allen Dingen muss es die Besten geben, nur nicht im Wichtigsten: in der demokratischen Auseinandersetzung um die Fragen des Lebens. Rankings gibt es in allen Schrott-Disziplinen. Was wir aber tun müssten, um unser Überleben zu sichern: über solche Petitessen darf nicht konkurriert werden. „Wer weiß denn sowas“ – bei sinnlosem Wissen kämpfen sie um jeden Punkt. Wer sich aber ökologisch am vorbildlichsten verhält: da werden sie giftig.

In Glaubens-Bekenntnissen sind sie unschlagbar, im Realisieren derselben von diabolischer Lässigkeit. Was ist der Unterschied zwischen Fremden und ihnen, den Platzhirschen? Fremde müssen sich an ihre Werte halten, sie nicht. Sie stehen jenseits von Gut und Böse. Im Moralischen sind sie über jeden Verdacht erhaben. Da dürfen sie gar in der Maske des Mephisto daher schwadronieren. Wer nicht ihre unantastbare Sittlichkeit erkennen kann, ist ein einfältiger Tropf. Sie müssen beweisen, dass sie ihre Grundlektion gelernt haben, indem sie sich beim Kokettieren mit dem Bösen übertrumpfen.

Das Leben ist eine Game-show. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins ertragen sie nur durch Spiel mit dem Abgründigen. Ein Schuft, wer ihnen unterstellt, sie könnten Spiel und Wirklichkeit nicht unterscheiden.

Ja, wenn ein Amerikaner namens Bannon sagt: „Finsternis ist gut. Dick Cheney. Darth Vader. Satan. Das ist Macht. Es kann uns nur helfen, wenn sie [die „Liberals“] es falsch verstehen“, dann ist das verwerflich. Wenn aber ein deutscher Gentleman namens Poschardt illustren Mitstreitern die Lizenz zum Amoralischen aushändigt, ist das Nietzscheanismus light für zukünftige Herrenmenschen.

Wenn Gingrich, ein Konservativer in Amerika, seine republikanische Partei darauf einschwört, „Politik sei Krieg, jeder Kompromiss bedeute Verrat,“ dann ist der Amerikaner anzuklagen. Wenn hingegen Alexander Dobrindt eine „konservative Revolution“ fordert, so hat das kaum praktische Auswirkungen, und die meisten denken: Ach, der Dobrindt! Ist schon wieder Bayernwahl“. Im Gegensatz zum Amerikaner ist der Deutsche nicht ernst zu nehmen.

Die Konservative Revolution ist, nach Armin Mohler, etwas, was dem Faschismus nahe kommt. Mohler verweist auf eine Definition des Literaten Hugo von Hofmannsthal: „Konservative Revolution ist das Suchen nach Bindung, welches das Suchen nach Freiheit ablöst und das Suchen nach Ganzheit, Einheit, welches von allen Zweiteilungen und Spaltungen wegstrebt.“

Das ist die vornehme Umschreibung eines unfreien Regimes, das keinerlei Parteien, keine Meinungsfreiheit, keine Wahlen zulässt. Gibt es irgendeinen bayrischen Politiker, der sich erkühnt, dieses theokratisch inspirierte System als Demokratie zu bezeichnen?

Mohler bezieht sich auf den jungen Thomas Mann, der die Sicht des Kriegs als „Fegefeuer, das alle Halbheiten und Fälschungen des Wilhelminismus ausglühen soll“, leidenschaftlich teilte:

„Krieg, es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung. Was die Dichter begeisterte, war der Krieg an sich selbst, als Heimsuchung, als sittliche Not.“ (Thomas Mann)

Das war vor dem Ersten Weltkrieg. Als der Reinigungsakt verloren war, wurde die Niederlage in ein göttliches Rigorosum umgedeutet. Nach dem biblischen Motto: wen Gott liebt, den züchtigt er. Der Zusammenbruch wurde als Fegefeuer gedeutet. Mit der Formel von Franz Schauwecker: „Wir mussten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen.“ Ein anderer behauptete: „Wenn ihr den Krieg gewonnen hättet, wäre auch Gott versunken. Stolz und Unterdrückung hätten sich vervielfacht, leeres Genießen hätte alle Gotteskeime zugeschüttet. Es wäre rasches Verfaulen eingetreten. Hättet ihr gewonnen, stündet ihr am Ende – jetzt steht ihr vor neuem Anfang.“

Mohler kommentiert: „In solcher Haltung steckt mehr als bloß der Widerstand gegen den Wilhelminismus. Es ist eine Haltung, die jedes einmal Erreichte in Frage stellt und sich immer wieder nach der Wiedergeburt in der Vernichtung sehnt.“

Solche Kriegsgelüste als Selbstreinigungen, die zum Kern der Konservativen Revolution gehören, werden heute mit leichter Hand durchgewunken. Das Monströse wird übersehen. Alles soll ästhetisches Spiel sein. Wer wird solche kreativen Kopfgeburten ernst nehmen?

Wiedergeburt in der Vernichtung, das ist auch der Tenor des Artikels von Detlef Gürtler in der WELT mit dem Titel: „Clusterfuck, Auf den Trümmern der Verlierer blüht eine neue Welt“:

„Die Geschichte hat immer wieder Menschheitskatastrophen produziert, die niemand wollte. Und doch entstanden auf den Trümmern von Weltreichen meist neue Weltreiche. Klar ist: Der nächste Zusammenbruch, der Clusterfuck, kommt bestimmt. Nicht, dass wir hier das Schicksal der Menschheit auf die leichte Schulter nehmen wollten. Aber wir hegen doch große Zweifel, dass Katastrophen sich dadurch verhindern lassen, dass man sie zu verhindern versucht. Shit happens. Seit Jahrtausenden. Und wenn noch nie etwas zusammengebrochen wäre, wäre weder das Volk Israel ins gelobte Land gekommen noch Kolumbus nach Amerika oder Merkel ins Kanzleramt.“ (WELT.de)

Würden keine Katastrophen kommen, bliebe die Welt im Ganzen, wie sie ist: „Nur eben nachhaltiger und vernünftiger. Und langweiliger – statt Garten Eden nur Garten Schreber.“

Nachhaltigkeit und Vernunft sind langweilig. Vor allem bieten sie keine Möglichkeiten, den Garten Eden als 1000-jähriges Reich zu gewinnen. Dies war bekanntlich das Ziel der NS-Schergen. Manche sprachen von Ausgießung des Heiligen Geistes. Just dieses Ziel wird heute wieder genannt, weshalb der Große Zusammenbruch nicht nur unvermeidlich, sondern höchst erwünscht sein muss.

Die Niederlage des Ersten Weltkrieges wurde als göttliche Strafmaßnahme gedeutet, damit in einem neuen Anlauf vom Punkte Null an das chiliastische Endreich erobert werden kann. Mit Demokratie hatte das Endreich nichts zu tun:

„Wer Individualist ist, Mechanisierung und Gleichheit wirklich will, kann Demokrat sein, wer aber den Kulturstaat will, wer etwas Geistiges vom Staate verlangt, kann nicht mehr Demokrat sein.“ (Othmar Spann)

Demokratie hat mit Kultur und Geist nichts zu schaffen. Sie beruht auf Gleichschaltung und Mechanisierung der Individuen. In einem echten Kulturstaat tritt an die Stelle „der Gleichheit die innere Wertigkeit, an Stelle der sozialen Gesinnung der gerechte Einbau in die gestufte Gesellschaft“ (E. J. Jung)

Die Konservative Revolution will von vorne beginnen. Von einem Punkt Null an. Weshalb das Nichts als Nullpunkt durch Revolution hergestellt werden muss:

„Man suche sich die Formen und Gestaltungen heraus, die der Liberalismus hervorgebracht hat und die seine ureigensten Produkte sind. Man kann heute an jede von ihm ein Kreuz machen. Sie ist dem Untergang geweiht. Um die Verknüpfung der Welt mit einer höheren Ordnung zu erhalten, muß der Konservatismus heute zerstören und kann gegenüber dem rechnerisch und nihilistischen Werteempfinden und dessen politisch-institutioneller Entsprechung in der Demoplutokratie nur revolutionär sein.“

Eine Konservative Revolution will das Ende der Demokratie. Solche quasi-faschistischen Schlagworte werden heute ungerührt als interessante Beiträge zur politischen Debatte willkommen geheißen. Man gönnt sich ja sonst nichts. Es ist ja alles gar nicht so ernst gemeint. Sind ja nur Funkenbildungen unterforderter, vom demokratischen Alltag ennuyierter Riesengeister, die sich einen Spaß machen, die demokratischen Einfaltspinsel zu schockieren. Wer Katastrophen zu verhindern versucht, provoziert sie geradezu herbei.

Da ist etwas gekippt. Bislang wurde gefragt, warum die Deutschen so lämmerhaft erdulden wollten, was ohnehin „unaufhaltsam“ auf sie zukommen wird. Nun wird aus Passivität eine aktive Tugend: der Untergang wird erwünscht, damit wir durch Selbstreinigung dem Garten Eden näher kommen. Produziert ihn, den Abgrund, schlagt euch gegenseitig ans Kreuz, damit ihr auferstehen könnt.

Eine Konservative Revolution muss das demokratische Gezänke zerstören, um zur Ganzheitlichkeit eines theokratischen Staates zu gelangen. Das Abendland beruht auf christlichen Werten: das ist keine private Konfession, sondern eine politische Aussage. Religionen sind keine Glaubensbekenntnisse im Winkel, sondern politische Welteroberungen. Mit geistlicher Omnipotenz will man Macht über den ganzen Menschen.

Dobrindt gibt sich als Ministrant eines vatikanischen Psychiaters, der aus einer unfehlbaren Kirche mit dem Motto: außerhalb der Kirche kein Heil, die Erfinderin der Toleranz machen will. Eine frechere Lüge hat es in der Nachkriegsepoche der Deutschen nicht gegeben.

Kam es danach zur Koalition empörter Medien, um BILD – die diese Meldung verbreitet hatte – aus ihren Reihen auszuschließen? Wurde BILD irgendwann einmal an den TV-Pranger gestellt mit der Frage: Ist BILD das Vehikel rechter Lügenpropheten? Die Kirche soll eine Institution friedlicher Nächstenliebe sein? Dazu ein Zitat aus unendlich vielen, hier aus dem Buch: „Weltbürgertum und Friedensbewegung“ von Viktor Engelhardt:

„Die Ziele der Kirche wurden in den Kreuzzügen offenbar. Nicht um Vermeidung von Kriegen war es der Kirche zu tun, sondern um Unterwerfung der weltlichen Macht unter ihre einheitliche Leitung.“

Seit Augustin entlarvte sich die Kirche als das, was sie in geistlicher Umwertungsmaskerade schon immer war: ein Gottesstaat, der sich über alle irdischen Regimes erhob. „Der christlich irdische Staat soll dem Gottesstaat untertan sein und die Kriege des Gottesstaates führen, die gottgewollten, gottbefohlenen Kriege. Irdischer Friede ist dem Kirchenvater kein Ideal. „Der wahre Friede ist der Friede im Himmel. Christen sind weit davon entfernt, den Krieg zu verdammen, sie betrachten ihn als notwendiges Übel als eine Strafe Gottes.“ (Engelhardt)

Zurück in die Atmosphäre einer Despotie: das will die Konservative Revolution. Und solches wird von der deutschen Öffentlichkeit schweigend hingenommen.

Vermutlich wissen die meisten nicht um die Hintergründe der so arglos daherkommenden Revolution. Doch Nichtwissen ist keine Entschuldigung, wenn man in Sekundenschnelle die wichtigsten Stichworte im Netz nachlesen kann. In gefährlichen Zeiten wird Ignoranz zum Verbrechen der Mitläuferei.

Bernd Ulrich und Heinrich Wefing unternehmen in der ZEIT den Versuch, die deutsche Situation aus dem Vergleich mit Amerika zu lösen. In Deutschland sei es noch lange nicht so schlimm wie jenseits des Atlantik. Jede Analogiebildung verbiete sich wegen allzu großer Unähnlichkeit beider Staaten. Je mehr wir uns vergleichen würden mit Trumps Zumutungen, je mehr verfielen wir der Gefahr einer „selbst erfüllenden Analogie“.

„Die deutsche Krise ist ebenfalls ernst, aber längst nicht systemisch. Man kann sagen: Noch. Doch damit dieses „Noch“ nicht eines Tages fällig wird, darf man sich nicht nur auf das fixieren, was für die hiesige Debatte mit Blick auf die USA zu lernen ist – mindestens genauso wichtig ist, was daraus eben nicht zu lernen ist. Mit den Erfahrungen aus den USA die Krise in Deutschland lösen zu wollen kommt dem Versuch gleich, mit dem Vorschlaghammer eine Mutter festzuziehen. Um es mal auf gut Europäisch zu sagen: Vive la différence.“ (ZEIT.de)

Die religiöse Grundierung beider Länder sei vor allem höchst unterschiedlich. Die USA seien wesentlich biblizistischer geprägt als das säkularisierte Deutschland, in dem es weit weniger überzeugte Kirchengänger gebe als drüben.

„Politisch viel wirkmächtiger ist der Aufstieg der Evangelikalen zur Leitreligion der Rechten. Das bedeutet: Die ideologische Spaltung des Landes ist religiös unterlegt – und sie ist innerchristlich. 2016 bekannten sich 76 Prozent der weißen Evangelikalen zu den Republikanern – und zum sündenstolzen Donald Trump. Zugleich säkularisierte sich die Demokratische Partei. Nur noch ein Drittel der Demokraten sind weiße Christen. Die beiden Parteien, die sich früher über Sachfragen wie die Höhe der Steuern stritten, sind heute mithin auch entlang religiöser Grenzen getrennt. Das befeuert massiv Polarisierung, Intoleranz und wechselseitige Feindseligkeit. Nichts dergleichen gibt es bislang in Deutschland. Gottlob.“

Das ist an Trübsinn nicht zu übertreffen. Und diese Verharmlosung des deutschen Christentums erfolgt ausgerechnet in dem Moment, wo der Rechtsruck des Landes nichts anderes ist als eine Regression ins Religiöse und Unduldsame. Die Deutschen lernen nichts aus ihrer Geschichte. Auch hier haben sie die amerikanische Zukunftsanbetung längst übernommen. Also schauen sie nicht zurück. Wozu Geschichte betrachten, wenn sie sich partout nicht wiederholt?

Christliche Religion ist nicht fixiert an emotionale Ergriffenheit und religiöse Gänsehaut. Sie ist politische Prägung des Zeitgeistes. Auch im Dritten Reich ging die Zahl der Kirchengänger zurück – und dennoch exekutierten die Söhne der Vorsehung das finale Ende der Geschichte nach christlichem Muster.

Joachim Fiores Vorstellung vom Dritten Reich hatte fast alle Politmächte des Abendlandes bewegt und alle millenaristischen Paradiesvorstellungen durchdrungen. Unter ihnen fast alle sozialistischen und marxistischen Bewegungen. Selbst die gesamte Geschichte der Naturwissenschaften seit Roger und Francis Bacon. Nicht zuletzt die totalitären Regimes in Deutschland und der Sowjetunion.

Die Leitfigur der siegreichen Kirche beherrschte alle Geister, die das Elend der irdischen Geschichte beenden wollten. Wie oft verglich sich Hitler mit dem Herrn der Christen, der die Juden mit der Geißel aus dem Tempel gejagt hatte. Das war kein Trick. Der junge Adolf – wie der junge Josef Wissarionowitsch – wollten ursprünglich Priester werden.

Christliche Religion will Staaten bauen, Geschichte prägen, Macht erringen. Ob die Mitläufer wissen, worum es dabei geht, ist belanglos. Gleichwohl spüren sie in ihrer untergründig religiös sozialisierten Seele den unwiderstehlichen Sound der Heilsgeschichte. Es tut sich was, der Geist weht, wo er will und sie können sagen, sie seien dabei gewesen.

Die Deutschen sind religiös genauso tiefengeprägt wie ihre amerikanischen Verwandten. Es gibt nur einen winzigen Unterschied: ihr religiöses Tiefen-Es ist von einer dünnen Aufklärungsschicht überlagert, die es ihnen erschwert, die Wurzeln ihrer eschatologischen und apokalyptischen Unterschicht zu erkennen. Amerikaner wissen, dass sie an die Endzeit glauben, die Deutschen fühlen sich über diesen „Untergangswahn“ erhaben. Und merken nicht, dass sie die Geschichte keinen Deut anders empfinden.

Es ist Unsinn, dass die Amerikaner lange ein homogenes Land waren. Man lese nur das Buch von Howard Zinn „Eine Geschichte des Amerikanischen Volkes“. Wer nach der Lektüre noch immer von der Homogenität der USA sprechen kann, dem ist nicht zu helfen. Vom Gründungsakt an war der neue Kontinent gespalten in eine griechische Demokratie und eine christliche Theokratie.

Während Demokratie mit der Anerkennung der Menschenrechte für alle Menschen verbunden ist, beriefen sich die ersten Puritaner auf Psalm 2, 8: „Heische von mir, so will ich dir die Heiden geben und der Welt Enden zum Eigentum. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung. Die aber widerstreben, werden Verdammnis über sich bringen.“ (Zitiert nach H. Zinn)

Hierzulande wurde Amerika jahrzehntelang als Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der problemlosen Integrierung aller Einwanderer gerühmt. Und nun soll es vor allem homogen gewesen sein, sodass es erst jetzt lernen müsste, sich mit dem Islam und anderen nichtamerikanischen Ideologien auseinanderzusetzen? Die beiden Autoren sind außer Rand und Band:

„Alle wichtigen Fragen stellen sich hüben und drüben also anders: Schuld, Elite, Gleichheit, Minderheiten. Wir Deutschen sollten die USA im Auge behalten, ohne uns aber neurotisch, sei es proamerikanisch oder antiamerikanisch, darauf zu fixieren.“

Zwei Staaten, die beide demokratisch sein wollen, die beide auf christlichen Grundwerten beruhen – die sollen fast nichts gemein haben?

Amerika hat Deutschland vom Nationalsozialismus befreit und den Tätern die Chance gegeben, sich am Vorbild der Befreier zu orientieren. Das geht bis zur Übernahme der populären Kultur, der Künste, des amerikanischen Lebensstils. Religion und Demokratie würden schon genügen, um den beiden Staaten enorme Ähnlichkeiten zu verleihen. Seit der westlichen Nachkriegsallianz sind alle beteiligten Völker immer konvergenter geworden. Es würde mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht ein Übermaß an ähnlichen Problemen hätten. Die wichtigsten:

a) Die Aura der Demokratien in der Welt ist geschwunden.

b) Das Maß ihrer Doppelmoral hat heftigen Widerstand in der Welt ausgelöst. Ihre moralische Reputation versinkt ins Bodenlose.

c) Die einstmals schwachen Entwicklungsländer haben enorm aufgeholt. China ist dabei, Amerika als Nummer Eins zu überrunden. Die Macht des Westens schwindet fast auf allen Feldern. Der Westen sinkt in dem Maße, wie der Rest der Welt an Bedeutung steigt. Trump ist der Index für den Ansehensverlust Amerikas als Führungsmacht der Welt.

d) Die jetzigen Krisen sind nicht neu. Sie gärten lange im Untergrund, wurden durch die menschenrechtliche Nachkriegsphase niedergehalten. Erst durch den Niedergang der moralischen Reputation drängen die verdrängten Widersprüche nach oben und zerrütten den Zusammenhang des Westens.

e) Die Hauptkrise ist der Zerfall der bisherigen Symbiose aus griechischer Demokratie und christlicher Theokratie. Die Symbiose war eine abwechselnd verdeckte und nach oben dringende Auseinandersetzung zwischen Vernunft und Glauben. Keine Dialektik wird Vernunft und Erlöserreligion je zur Synthese bringen. Time, to say goodbye.

Natürlich muss Deutschland sich mit Amerika und jeder anderen Demokratie vergleichen und um den Rang der humansten Gesellschaft fighten. In allen Dingen soll es Wettbewerb geben, nur nicht in den überlebenswichtigsten?

„Auch vom politischen Moralismus ist Deutschland natürlich nicht frei, doch findet diese oft apolitische Haltung ihren schlimmsten Ausdruck in der Außenpolitik, wo man sich jahrzehntelang darauf verlassen konnte, dass die USA es schon richten werden. Deutschland muss es auch gar nicht besser machen als Amerika. Sondern morgen besser als heute.“

Deutschland darf sich gar nicht freimachen vom politischen Moralismus. Es wäre der Untergang des Westens, wenn Politik und Moral immer mehr auseinander drifteten. Demokratie ist Politik als moralischer Versuch, allen Menschen zu einem gleichberechtigten und freien Leben zu verhelfen. Moral ist das einzige Mittel, um Menschen glücklich zu machen. Glück ist das Ziel jeder vernünftigen Moral, das nur mit demokratischen Methoden verwirklicht werden kann.

Der desolate ZEIT-Artikel zeigt unfreiwillig die Malaise der deutschen Demokratie. Das Spiel des Ungeistes mit den Dämonen der wiederkehrenden Vergangenheit kann zur Katastrophe ausarten, wenn wir die Spielfiguren nicht vom Tisch fegen und den Va-banque-Spielern das Handwerk legen.

 

Fortsetzung folgt.