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Umwälzung XLII

Hello, Freunde der Umwälzung XLII,

Nächstenliebe und Abgrund. Das Land, in dem Milch und Honig fließt, erklärt sich zum Land der Nächstenliebe – das sich dem Abgrund öffnen muss. Die Verschärfung der Verhältnisse entlarvt die gespaltene deutsche Seele. Die Krise bringt es an den Tag.

„Und die Erde war wüst und leer, und es war finster im Abgrund“ (Tehom, Abyssos)

„Und ich sah einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund (Abyssos) und eine große Kette in seiner Hand.

a) Milch und Honig stehen für Utopie – die sonst bei uns zerfetzt wird.

b) Nächstenliebe steht für Moral – die sonst bei uns zerrissen wird.

a) und b) ergeben zusammen das galoppierende Irresein der deutschen Psyche.

Nächstenliebe wird von BILD-Blome gepredigt: „Ostern ist das höchste Fest einer Religion, die Nächstenliebe predigt.“

Abgrund wird von WELT-Poschardt propagiert: „Wir brauchen einen Hauch von Abgrund“.

Nächstenliebe und Abgrund – die beiden Engelsflügel des abendländischen SPRINGER-Verlags. Nur mit zwei Flügeln kann man sich in die Lüfte heben, die Szenerie überblicken und beherrschen. Nächstenliebe und Abgrund sind Synonyme für den offenbaren und verborgenen, den liebenden und teuflischen Gott.

BILD, ein Blatt, das seine Gegner und Feinde liebt wie sich selbst, rüstet sich, mit der christlichen Dampfwalze das Land geistlich zu planieren. Walzenführer ist ein Psychiater in vatikanischen Diensten, eine wahre rheinische Frohnatur, Konsultor der Kongregation für den Klerus, der mit päpstlicher Unfehlbarkeit alle

säkularen Erkenntnisse über den Haufen wirft und das Christentum von allen Sünden befreit:

„Manfred Lütz ist ein deutscher Psychiater, Psychotherapeut, römisch-katholischer Theologe, Vatikanberater und Buchautor. Er leitet seit 1997 das Alexianer-Krankenhaus in Köln.“ (Wiki) Toleranz, die angebliche Erfindung der Aufklärung, sei eine Creation des Urchristentums. Kreuzzüge, Inquisition, Hexenprozesse: alles Übertreibungen, Lug und Trug. Lütz stellt die gesamte historische Wissenschaft auf den Kopf – und die Öffentlichkeit schaut teilnahmslos zu.

Es beginnt die Innenmission einer immer gottloser werdenden deutschen Gesellschaft. Für eine CDU-Politikerin muss das religiöse Erbe, identisch mit dem kulturellen, offensiv verteidigt werden. Da hierzulande – Gott sei’s geklagt – noch immer Religionsfreiheit herrscht, muss es trickreichere Wege geben, den gekreuzigten und auferstandenen Christus an den kleinen Mann auf der Straße zu bringen:

„Für die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag ist klar: Die Schulen müssen mehr Gewicht auf die Vermittlung der eigenen Wurzeln legen. «Was wären wir ohne unser religiöses und kulturelles Erbe? Haltlos. Wertelos. Ohne Frage: zur Religionsfreiheit gehört auch, keiner Kirche anzugehören. Niemand darf gezwungen werden», sagt Gitta Connemann. «Aber unsere Wurzeln müssen wir gemeinsam erhalten und pflegen. Dazu gehört, diese überhaupt zu kennen. Und zu wissen: Christi Himmelfahrt ist mehr als Vatertag, der Reformationstag mehr als Halloween. Nicht in jeder Familie wird das vermittelt. Die Kirchen erreichen nicht mehr jeden. Deshalb sind die Schulen gefordert.»“ (BILD.de)

Da bei Erwachsenen Religionsfreiheit herrscht, muss bei wehrlosen Kindern zugegriffen werden. Wie wär‘s mit Kitapflicht ab drei – wie bei Macron? Mit obligatem Religionsunterricht auf der Grundlage gesicherter neurologischer Erkenntnisse?

Sie vergreifen sich immer an den Kindern. So oder so. Bis vor kurzem schickten sie Säuglinge ins Fegefeuer, wenn sie vor ihrem Tode nicht getauft worden waren. Körperliche Pädophilie wird endlich – nach wie vielen Jahrhunderten? – bestraft, geistige Pädophilie gilt als nationale Pflicht.

Dass deutsche Kultur identisch wäre mit der religiösen, ist eine Infamie, die mindestens so bestraft werden müsste wie religiöse Blasphemie. Einen illusorischen Gott beleidigen gilt als Straftat im säkularen Gesetz, die Vernunft der Menschen verhöhnen ist dagegen heilige Pflicht.

Was Katholiken können, können protestantische Bischöfe allemal. Wenn‘s um den Erhalt abendländischer Werte geht, kann der ökumenische Schulterschluss der Werte-Erhalter nicht eng genug sein:

„Schon Kinder müssen die Grundwerte unserer Gesellschaft lernen und einüben. Deshalb ist es so wichtig, dass sie schulischen Religionsunterricht bekommen. Dort lernen sie, den eigenen Glauben zu verstehen und können früh üben, respektvoll über die eigene und die fremde Religion zu sprechen.“ (Berliner-Zeitung.de)

Man braucht Religionsunterricht, um andere Meinungen und Glaubensrichtungen zu tolerieren? Erlöserreligionen sind im Kern alleinseligmachende totalitäre Glaubensrichtungen, die alle konkurrierenden Religionen in die Hölle verdammen. Extra ecclesiam nulla salus. Das gilt noch heute für die katholische Kirche:

„Außerhalb der Kirche kein Heil“ heißt also vor allem: Auf einem langen Weg wurde mitten in der Welt in einem unglaublichen Experiment unter vielen Opfern die richtige Gesellschaft gefunden, die dem Willen Gottes entspricht. Diese Gesellschaft zu leben und auszubreiten, wäre das Glück für die Völker. Die Erfahrung des Glaubens sagt: Es ist der einzige Weg!“ (Der katholische Theologe Gerhard Lohfink)

Äußerlich demonstrieren sie Toleranz, die sie sich mühsam in der Aufklärung aneignen mussten, innerlich sind sie noch immer davon überzeugt, als Einzige das Gelbe vom Ei zu kennen. Heute bezieht sich die alleinseligmachende Methode zumeist auf alle Erlöserreligionen. Zurzeit vor allem auf die Frontenbildung: Christen & Juden gegen Muslime. Bei allen gilt die Drohung des Himmels:

„Und diese werden in die ewige Strafe gehen, die Gerechten aber in das ewige Leben.“

„Und sie werden Strafe leiden, ewiges Verderben.“

Solche Verdammungen werden heute nicht an die große Glocke gehängt, um sich das moderne Mäntelchen nicht zu besudeln. Doch je mehr sie ihre alten Machtstellungen zurückerobern, je schriller klingen die höllischen Drohungen. Wie diese schrecklichsten Strafandrohungen in der Geschichte der Religionen mit Nächstenliebe zusammenhängen, bleibt das Geheimnis des Geistes. Sind sie dagegen in der Defensive, mimen sie die Lindseligen und Sanftmütigen.

In Amerika war das Wiedererstarken der Biblizisten die Voraussetzung für die Wahl Trumps. Fundamentalisten benötigen einen Gotteshelden, der es allen Völkern zeigt. Die Erfüllung ihrer eignen Interessen ist zweitrangig. Fromme wissen, dass sie leiden müssen in dieser Welt. Auch ein Erwählter kann dies nicht aus der Welt räumen. Wichtig ist die ewige Seligkeit, die alle Betrübnisse auf Erden vielfach ausgleicht.

Die Deutschen imitieren die Amerikaner. Schon mendeln sich die Politiker unaufhaltsam zu Wiedergängern Trumps. Sie üben die herrischen Gesten, die keinen Widerspruch dulden. Je dreister die Unverschämtheiten, je besser die Chancen, eines Tages die Spitze einzunehmen.

Nächstenliebe ist für Deutsche der lange geheim gehaltene Beweis für die Überlegenheit ihrer Kultur. Von daher ihre Abneigung gegen Moral, die für sie weltlich-minderwertig ist. Moral ist eine Erfindung der Menschen, Nächstenliebe eine Gabe Gottes. Moral muss von Menschen erdacht, von menschlicher Tugendhaftigkeit ausgeführt werden: für Lieblinge Gottes das Zeichen der Minderwertigkeit. Nächstenliebe hingegen ist eine unverdiente Gabe des Himmels. Wer begnadet ist von Gott, muss sich um nichts mehr sorgen. Gott sorgt für alles.

„Wenn sie euch aber überliefern, so sorget nicht darum, wie oder was ihr reden sollt, denn es wird euch in jener Stunde gegeben werden.“ „Sorget euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder was ihr trinken sollt, noch um euer Leib, was ihr anziehen sollt. Denn nach all diesen Dingen trachten die Heiden. Euer himmlischer Vater weiss ja, dass ihr all dieser Dinge bedürft. Suchet zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit, dann werden euch all diese Dinge hinzugefügt werden. Jeder Tag hat genug an seiner eignen Plage.“

Ist das nicht der äußerste Kontrast zur sorgenvollen Hektik des abendländischen Alltags? Eben weil sie sich noch zu sehr sorgen, besteht der Gesamtzweck ihres Tuns darin, einer sorgen-losen Zukunft entgegen zu eilen. Der Fortschritt ihrer Maschinen soll ihre Probleme lösen und ihnen eine futurische Sorgenfreiheit garantieren. Da geniale Maschinen ihre Sorgen beseitigen sollen, legen sie keinen Wert auf politische Ent-sorgung der Probleme. Dementsprechend sieht die weltpolitische Ruinenlandschaft ihrer Problemlösungsverweigerung aus.

Nächstenliebe wird nicht, „wie etwa im Humanitätsgedanken der Stoa als ein in der Würde des Menschen begründetes Ideal verstanden.“ (RGG)

Dabei ist Nächstenliebe nichts anderes als die Goldene Regel vieler Völker. Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Zudem ist es im Neuen Testament verboten, sich selbst zu lieben.

„Wer sein Leben liebt, verliert es und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es ins ewige Leben bewahren.“

Wie sollen sie andere lieben, wenn sie sich selbst nicht lieben dürfen? Liebe deinen Nächsten wie dich selbst ist offenbar eine paradoxe Intervention Gottes, welcher fordert, was er zugleich verbietet.

Indem die Deutschen über Nacht die Nächstenliebe aus ihrem Es hervorkramen, beweisen sie die Unmündigkeit ihrer politischen Existenz. Der Unterschied zwischen Autonomie und Heteronomie ist ihnen unbekannt. Weder sind sie stolz auf ihre eigene moralische Gesetzgebung, noch auf ihre eigene moralische Tüchtigkeit. Alles muss von Oben kommen. Ohne himmlische Erleuchtung bleiben sie Sündenkrüppel.  

„Das Gefühl allgemeiner Sündhaftigkeit bildet den stärksten Gegensatz zur selbstbewussten Kraft des Weisen. Das Gefühl, dass der Mensch das Beste, das ihm im sittlichen Leben gelingen könne, als ein Geschenk von Oben zu empfangen habe, den schneidendsten Kontrast gegen auf ihre autonome Selbstherrlichkeit pochende, ihres Sieges gewisse Vernunft.“ ( Jodl, Geschichte der Ethik)

Hier stehen wir am Ursprung der deutschen Moralverachtung. Moral ist eine nichtswürdige Erfindung des mit minderwertigen Fähigkeiten ausgestatteten Erbsünders. Welch schreiender Kontrast zu ihrer Verachtung der sozial Schwachen, die sich schämen müssten, vom Väterchen Staat versorgt zu werden. Wo doch ihr eigener Glaube völlig aus Gnadengeschenken von Oben besteht.

Das zeigt: ihr säkulares Ich ist schon so stark, dass sie sich erniedrigt fühlen von himmlischen Gratisgeschenken. Sie pendeln zwischen dem unbewussten Freiheitsdrang, sich von himmlischen Autoritäten zu lösen – und der Angst, nicht auf eigenen Beinen stehen zu können. Das ist der Stand ihrer hermeneutischen Künste. Einerseits deuten sie ihre Schriften in hybrider Selbstgefälligkeit. Andererseits wagen sie es nicht, sich vom Boden der väterlichen Schriften zu lösen. Zwischen Sehnsucht nach Freiheit und Angst vor derselben torkeln sie im Niemandsland.

Früher waren sie überzeugt von der Unfehlbarkeit ihrer Schriften. Wer sich nur einen Millimeter vom offenbarten Text löste, war des Teufels. Allmählich schmolz die buchstäbliche Unfehlbarkeit zur sachlichen, die sachliche verwandelte sich zur geistbegabten, die sich zur Herrin aller Buchstaben aufschwang.

Bei Bultmann blieb nur noch das Kerygma übrig, die von Gott gemeinte Botschaft, die durch keine irdischen Buchstaben auf den Begriff gebracht werden konnte. Gottes Willen ist durch menschliche Sprache nicht angemessen wiederzugeben. Der mit den Absichten Gottes vertraute Deuter spricht zur Schrift: ach, du kleines wunderliches Buch, wie unfähig bist du, den Willen des Vaters zu transportieren. Macht aber nichts: ich weiß, was du meinst. Dein Stammeln kann ich besser durchschauen als du selbst.

Eine Nation entlarvt ihre Gedankenschwäche und moralische Unterwürfigkeit durch die Offenbarung ihrer verschämten Neigung zur Agape. Die Verzweiflung der Eliten muss weit vorangeschritten sein, dass sie die geheimsten Falten ihrer Seele nach außen stülpen mussten.

Das Gefährlichste an der Idolisierung der Nächstenliebe ist ihr verborgenes antisemitisches Potential. Als die Deutschen begannen, die Überlegenheit ihrer neutestamentlichen Nächstenliebe über die jüdische Gesetzesgerechtigkeit herauszustellen, öffneten sich die Schleusen ihres Judenhasses.

Jüdische Gerechtigkeit war für sie eine „selbstgerechte“. Die Juden massten sich an, durch perfekte Befolgung der göttlichen Gebote sich das Heil erarbeitet, verdient zu haben, sodass Gott genötigt und gezwungen war, sie auf Erden wie im Himmel zu belohnen. Der Bund zwischen Gott und ihnen war ein Vertrag zwischen zwei Partnern auf quasi gleicher Augenhöhe. Wenn ihr meine Gebote befolgt, werde ich euch belohnen, wie wir es vertraglich abgesprochen haben: so interpretierten die Christen die alttestamentarische Verheißung Gottes, welche durch die unverdiente Gnade des Neuen Testaments für immer abgetan war.

Für den Ökonomen Sombart schien es durch diesen kaufmännischen Bund bewiesen, dass die Juden per Heiligkeit die Erfinder des Kapitalismus sein mussten. Wenn Kinder Israels vertragsgemäß die göttlichen Gebote halten, werden sie auf Erden mit Macht und Reichtum belohnt. Der Vertrag mit Gott war nichts anderes als die List der Juden, Herren der Welt zu werden. Die ominösen Protokolle der Weisen zu Zion waren überflüssig, um die angeblichen Weltherrschaftsgelüste zu decouvrieren. Man musste nur das Alte Testament lesen.

Der Hochmut der Christen über die Juden konkretisierte sich erneut, als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der erste phänomenale Wirtschaftsaufschwung des Bismarckreichs zu sinken begann. Wer war schuld? Wie immer: die Juden, die an allem Elend der Deutschen schuldig waren. Im Jahre 1895 schrieb der protestantische Theologe Gerhard Uhlhorn sein Buch über „Die christliche Liebestätigkeit“, worin er ausführte:

„Zweierlei charakterisiert das nachexilische Judentum, der Nationalstolz und die Gesetzeswerke. Jetzt wird dem Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben“ der Zusatz gegeben: und deinen Feind hassen, und unter dem Nächsten versteht man ausschließlich den Mitjuden. Jeder Fremde, jeder Nichtjude ist ein Feind. Verachtung aller Nichtjuden ist jetzt ein Stück der Frömmigkeit und wird zum Beweise des Eifers für Gott und sein Gesetz. Denn während die liebevolle Gesinnung (der Christen) ihr Streben auf Abstellen sozialer Notstände richtet, geht die gesetzliche Vorschrift nur auf einzelne Werke, auf Almosen. Die Pharisäer geben Almosen, aber ohne Liebe. Sie haben nicht das Wohl des Nächsten im Auge, sondern ihren eigenen Ruhm. Wenn sie Almosen geben, lassen sie vor sich her posaunen, um von den Leuten gesehen zu werden.“ Beim christlichen Liebeswerk aber weiß die Linke nicht, was die Rechte tut.

Nach dieser Definition wäre jedes Almosengeben ein pharisäerhaftes Tun. Bill Gates‘ Milliarden-Groschen, Merkels singuläre Grenzöffnung entsprängen einer jüdischen Herzlosigkeit, die nur darauf abgestellt ist, Ruhm auf Erden und im Himmel zu erringen.

Heute gelten persönliche Liebeswerke als weitaus wertvoller als kalte soziale Gesetze, die vom Staat erlassen werden. Umgekehrt bei Uhlhorn: alles, was auf dauerhaftes Abstellen sozialer Notstände abzielt, ist wertvoller als gelegentliches Almosengeben. Das ist falsch. Das Urchristentum wollte nicht die Lage auf Erden verbessern, sondern durch sporadisches Tun Punkte im Jenseits sammeln. Almosengeben im Neuen Testament war nur minderwertig, wenn es vor aller Augen geschah, um die eigene Person zu erhöhen. Almosen im Verborgenen aber waren gottwohlgefällig.

Hier sehen wir die unaufhebbaren Dilemmata eine Lohn-und-Strafe-Moral. Tu nichts um des Lohnes willen, sagt das Neue Testament, um – des wahren Lohnes willen. Tu alles, um die angeberischen Pharisäer zu desavouieren, zum Zwecke des wahren Lohnes bei Gott durch die Selbstanpreisung der Demut – die im Grund allerhöchste Selbstherrlichkeit darstellt.

Christliche Nächstenliebe wollte eben keine sozialen Probleme lösen. Das wäre ein Fass ohne Boden in der civitas diaboli gewesen. Ausdrücklich sollte sich Agape abheben „vom Ethos der Antike, bei dem die Gerechtigkeit im Vordergrund steht.“ (Historisches Wörterbuch der Philosophie)

Der deutsche Protestantismus, sozialisiert durch die Graecomanie der deutschen Dichter und Denker, wollte sein Christentum dem jüdischen Einfluss entziehen und suchte die Ursprünge seines Glaubens immer mehr im Griechischen. Platon wurde für sie wichtiger als Moses. Jesus stilisierten sie zu einem vorbildlichen Sokrates, der es nicht mehr nötig hatte, ein Gottessohn zu sein.

„In der christlichen Religion muss etwas gelegen haben, was dem freieren griechischen Geist verwandt ist. In gewisser Weise ist das Christentum bis auf den heutigen Tag griechisch geblieben. Bereits in der ältesten Heidenchristenheit hatte sich bereits ein dezidierter Antijudaismus herausgebildet.“ (A. von Harnack; Mission und Ausbreitung des Christentums)

Die ethische Überlegenheit der christlichen Nächstenliebe über die rechnende jüdische Gesetzesborniertheit war für deutsche Protestanten – die später zu den eifrigsten Unterstützern der Nationalsozialisten gehörten – ein sicherer Beweis, dass Juden einer abgetanen, unterlegenen Religionsstufe angehörten. Was bedeutet es, wenn Christen sich über diejenigen erheben, denen sie alles zu verdanken haben? Undankbarkeit?

Nein, nach Harnack waren es die Juden selbst, die sich dies alles eingebrockt hatten: „Das jüdische Volk hat durch die Verwerfung Jesu seinen Beruf verleugnet und sich selbst den Todesstoß versetzt: an seine Stelle rückt das neue Volk der Christen; es übernimmt die gesamte Überlieferung des Judentums.“

Welch verhängnisvolle Wendung: von der Idealisierung der Nächstenliebe über die Verachtung des Alten Testaments bis zum Todesurteil über die Juden.

Die heutigen Verfechter der Nächstenliebe wissen von alledem nichts – und wollen auch nichts wissen. Die Verdrängung der Vergangenheit führt notwendig zur Wiederholung derselben. Im 19. Jahrhundert schien es, als hätten Juden zum ersten Mal in der Geschichte die Chance, sich gleichberechtigt zu fühlen. Solange die Deutschen erfolgreich waren, gab es wenige Probleme. Als das Wirtschaftswunder einbrach, mussten Schuldige gefunden werden. In diesem Sinn sind Treitschkes Sätze zu verstehen:

„Juden sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen – unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns allen ehrwürdig sind; denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge. Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!“

Dass Juden rassisch und geistig minderwertig waren: das war die Botschaft protestantischer Theologen der Nächstenliebe. Eben diese Nächstenliebe wird heute als ethische Glanzleistung der deutschen Leitkultur gepriesen, die man vor allem den Kindern einbläuen sollte. Wenn hier keine Alarmglocken klingeln.

Keine Nächstenliebe ohne Kontrast des satanischen Abgrunds. Ulf Poschardt versucht, die rechten Gedanken des frühen Thomas Mann wiederzubeleben. Der hatte sich in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ den Kriegsbegeisterten zugesellt. In seinem Aufsatz „Gedanken im Kriege“ hegte er die „ungeheure Hoffnung, der grässlichen Welt des Friedens zu entfliehen: „Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte!“

Was Mann als Hass gegen Frieden beschreibt, ist für Poschardt Hass gegen Moral, die er als „jede Menge Imperative“ umschreibt:
„Unsere Gesellschaft folgt zwanghaft jeder Menge Imperative. Das kann sie bei allem Funktionieren irgendwann gefährden. Was im Halbdunkel der Klubs geschieht, mag den Bürger des lichten Tages schockieren. Aber kein Mensch ist nur kontrolliert. Als Verfassungspatriot neigt man zur Nulltoleranz gegenüber rechtsfreien Räumen, und dennoch soll im Folgenden eine kleine Gedankenübung oder gar -lockerung angestrengt werden, um eine Ausnahme von der Regel vorstellbar werden zu lassen. Der Tod einer amerikanischen Touristin in einem Berliner Nachtklub hat die Frage nach der Kontrolle dieser dem allgemeinen Scheinwerferlicht entzogenen Orte gestellt. Sehr typisch und erwartbar. So wie nach jedem Auffahrunfall auf der Autobahn oder einer hysterisch kommentierten Feinstaubstatistik nach einem Tempolimit gerufen wird. Den Deutschen, linken wie rechten, ist kein Vorwand zu blöd, um über die Einschränkung von Freiheitsräumen nachzudenken. Es geht nicht nur um Musik und Alkohol, sondern oft genug (und offiziell ziemlich verboten) um Sex, Drogen, Unmoralisches, Absurdes. Dieser geduldete Blick in den Abgrund ist nur möglich, weil der Freiheitsraum klar definiert ist und weil es Menschen gibt, die den Einlass in die künstlichen Paradiese regulieren.“

Bei ein paar Toten mehr oder weniger gleich über Freiheitseinschränkungen nachzudenken, ist für Poschardt ein blöder Vorgang. Freiheit ist für ihn die Lizenz zum Unmoralischen und Absurden. Moral sind heteronome Imperative, von denen sich die Eliten befreien müssen. Nicht Krethi und Plethi sollen Zugang erhalten zu den rechtsfreien Räumen der Freiheit – nur winzige Cliquen, die von kundigen Augen selektiert werden. Daumen rauf, Daumen runter. Begründungen? Keine. Im Reich der Freiheit schweigt die Vernunft, die alles begründen will. Der erfolgreiche Karrierist muss sich irgendwo austoben können, sonst bringt er nichts mehr auf die Waage:

„Der Mensch ist nicht nur vernünftig und kontrolliert. Und wo kann er noch ausleben, was nicht gesellschaftlich normiert und sanktioniert ist? Wo erscheint die Illusion der Freiheit noch vorstellbar? Jede moderne Gesellschaft, die sich über Ehrgeiz, Fleiß, Perfektion und Taktung definiert, benötigt Orte des Ausgleichs. Alte Linke würden das Nachtleben als Beleg für die bourgeoise Doppelmoral wegätzen wollen, aber vielleicht ist das Bürgertum in seiner ökonomischen Pracht vor allem deshalb so erfolgreich, weil es gelernt hat, auch seine Abgründe zumindest in zarten Ansätzen auszuleben. Im Nachtleben konfrontiert sich der Bürger mit sich selbst, wenn er die Kontrolle aufgibt oder es zumindest versucht. Unsere Gesellschaft folgt zwanghaft jeder Menge Imperative. Das kann sie auch bei allem Funktionieren irgendwann gefährden. Das Nachtleben ist ein wertvolles Ventil und für junge Menschen eine Lehranstalt ohne verlogenen Idealismus. In seinen ehrlichsten Momenten offeriert das Nachtleben Einblicke in das Wesen des Menschen, in seine Erhabenheit wie in seine Niedertracht. Dafür sollten wir dankbar sein.“

Thomas Mann beschrieb, was Poschardt als nihilistisches Ventil einer überkontrollierten, hypermoralischen Leistungselite definierte, mit den kurzen Worten:

„Das aristokratische Bewusstsein der Auserwählten schloss sie zusammen, und mit Verachtung schauten sie auf das, was mit allen Zeichen sich als das Neue ankündigte: die Demokratie.“

Stopp, da gibt es einen kleinen Unterschied. Damals war die verachtete Demokratie etwas Neues. Heute ist sie älter als ein halbes Jahrhundert. Es wird Zeit, dass sie sich durch einen hauchzarten Sturz in den Abgrund – den Hals bricht. Pardon: erneuert.

 

Fortsetzung folgt.