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Umwälzung XCIV

Hello, Freunde der Umwälzung XCIV,

Was ist Antisemitismus? Wie kann man die Pest bekämpfen, wenn man sie nicht eindeutig definieren kann?

Was ist Philosemitismus? Wie kann man Antisemitismus bekämpfen, wenn man kritikloses Anhimmeln einer inhumanen Regierung, die sich „jüdisch“ nennt, als Heilmittel gegen Antisemitismus ausgibt?

Die Beziehung der Deutschen zu Israel ist schon seit langem unoffener und unehrlicher als ihre Beziehungen zu Amerika – die erst durch einen diplomatischen Knochenbrecher aus Washington, nicht durch eine unehrliche, unoffene lutherische Heilige, mit brachialen Methoden offengelegt wurde. Mit welchen Methoden? Mit rücksichtsloser Ehrlichkeit.

Offenheit und Ehrlichkeit: waren das keine abendländischen Werte? Wäre Trump etwa – nein, unausdenkbar – ein Vorbild abendländischer Werte?

„Trump hat eine Pandorabüchse geöffnet: Er macht Hass, Menschenverachtung, Rassismus, Respektlosigkeit, Lügen und Medienschelte salonfähig: Man darf wieder sagen, was man denkt.“ (WELT.de)

Sagen, was man denkt: war das nicht der Gipfel der Offenherzigkeit und Freimütigkeit, der geistige Ursprung der Demokratie? Wird Trump etwa zum nützlichen Idioten einer Ehrlichkeit, die er nie gewollt hat?

Ehrlichkeit jedoch hat zwei Seiten. Sie macht lebendig und tötet. Sie kann nur lebendig machen, wenn sie bereit ist, ihre destruktiven Elemente wahrzunehmen und zu bearbeiten.

Apseudeia, Freiheit von Trug, war die Grundvoraussetzung aller

Philosophie, ohne die Demokratie nie entstanden wäre.

„Sokrates hat sich nicht verstellt, seine bloße Gegenwart genügte, um deutlich zu machen, dass nahezu alle anderen Menschen sich nicht vor der Umwelt, sondern vor sich selbst verstellen und etwas anderes zu sein vorgeben, als sie wirklich sind.“ (Georg Picht, Hier und Jetzt, Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Bd1)

„Die Komödienfreiheit war ein Teil der Redefreiheit (Parrhesia), die dem Einzelnen gestattete, „alles, was er wollte, zu sagen.“ Das Volk war nicht gewillt, an diesem Grundpfeiler seiner Demokratie rütteln zu lassen.“ (Max Pohlenz, Griechische Freiheit)

„In Athen sah man es als geboten an, der Neigung zur Verstecktheit, welche das Sklavenlos leicht hervorbringt, durch Gewährung einer möglichst großen Freiheit der Meinungsäußerung (Parrhesia), entgegenzuarbeiten. Solange man einen Sklaven – hieß es bei Menander – in jeder Beziehung Sklave sein lasse, werde er notwendig schlecht sein. Sobald man ihm aber Redefreiheit gebe, werde er sogleich viel besser sein. Dass dies eine gern befolgte Regel war, geht aus der Behauptung des Demosthenes hervor, dass in Athen die Sklaven mehr Redefreiheit genössen als anderswo die Bürger.“ (Leopold Schmidt, Die Ethik der alten Griechen, Bd 2)

So viel zur athenischen Sklaverei, die in vieler Hinsicht humaner war als die moderne Freiheit in goldenen Ketten.

Reden, was ist, wäre auch die Kurzform der Freud‘schen Formel: Wo Es war, soll Ich werden. Wo Vergessenheit, Verdrängung, Verleugnung und Dunkelheit herrschen, soll das Licht der Aufklärung einziehen. Nur Sichtbares kann erkannt und gestaltet werden. Dunkelheit ist das Revier Gottes und der Unvernunft, die keiner Kontrolle durch das Bewusstsein unterliegt.

Paulus hätte sich nie auf Freuds Couch gelegt. Sein Therapeut wohnte im Himmel und nicht auf Erden:

„Denn ich bin mir nichts bewußt, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der HERR ist’s aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der HERR komme, welcher auch wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und den Rat der Herzen offenbaren; alsdann wird einem jeglichen von Gott Lob widerfahren.“

Paulus empfand sich als makellos. Ihm waren keine Sünden bewusst. Sokrates und Freud hätten ihn zur Anamnese aufgefordert, um Licht zu bringen in seine dunkle Seele. Für Paulus wäre das unmöglich gewesen. Ihm konnte nur helfen, wer seine Schöpfung mit den Worten begann: Es werde Licht. Aus eigener Kraft Licht in die persönlichen Verhältnisse zu bringen, wäre sündige Rivalität mit dem Schöpfer des Lichts gewesen. Erleuchtung war das Privileg des Gottes.

In jenen Zeiten hatten die mittelmeerischen Hochkulturen schon so viele rivalisierende Religionen, Traditionen und Philosophien in den Menschen aufgetürmt, dass diese sich nicht mehr anders zu helfen wussten, als die unerwünschten und verbotenen Gedankensysteme tief im Innern zu verdunkeln und streng abzuriegeln von erlaubten und gebotenen Geistesmächten. Das Unbewusste verdankt seine Entstehung dem Zusammenprall unvereinbarer Gedanken und Gefühle.

Wie kann man offen sein, wenn man von dunklen Mächten überwältigt wird, über die man keine Auskunft geben kann? Licht ins Dunkel zu bringen war hier, bei den Heiden, die Aufgabe des Denkens und Streitens auf der Agora oder: der Kunst und Philosophie. Dort, bei den Gottesfürchtigen, die Aufgabe der Bußfertigen, alles einem allwissenden Erlöser zu überlassen.

Das Unbewusste ist immer die Summe einer eroberten Kultur, die von einer fremden überlagert und verboten wird. Die Menschheit kam ins Denken, weil sie die chaotische Mixtur aus Erlaubtem und Verbotenen nicht anders bewältigen konnte als durch Sichtung und Ordnung der verworrenen Verhältnisse.

Denken heißt Ordnen. Hier durch Erfindung logischer Klärungen mit Hilfe des ausgeschlossenen Widerspruchs, dort durch Kapitulation vor einer Vaterautorität, die durch Erlösung die Kreatur über sich erleuchtete.

Auch die Religiösen spürten den wachsenden Klärungsdruck, sahen sich aber außerstande, mit Hilfe ihrer menschlichen Vernunft das Problem zu lösen. So blieb ihnen nur Auslagerung der Hilfe, erkauft durch vollständige Preisgabe der eigenen Autonomie. Demokratie war das Ergebnis autonomer Selbsterhellung, Theokratie das Ergebnis einer heteronomen Fremderleuchtung.

Demokratie beruht auf der Verteilung der Macht – die bislang von wenigen ausgeübt wurde – auf alle Freien und Gleichen.

Theokratie beruht auf dem Machtmonopol einer Priesterschaft, die sich als Mundstücke und Stellvertreter eines unnahbaren Gottes ausgeben.

Voraussetzung einer funktionierenden Volksherrschaft ist die Zuverlässigkeit jedes Einzelnen, ohne die es kein Vertrauen geben kann. Voraussetzung der Transparenz ist Übereinstimmung von Wort und Tat. Nur, wenn Reden und Handeln identisch sind, erhält die Meinungsäußerung jedes Einzelnen gebührendes Gewicht. Fielen Wort und Tat auseinander, wäre jede Volksversammlung eine kollektive Selbstbelügung und ein Akt chaotischer Atomisierung. TV-Moderator Plasberg lehnt es ausdrücklich ab, mit seiner reißerischen Show die Demokratie retten zu wollen.

In der Theokratie wird das Problem der Verlässlichkeit durch das Gehorsams- und Schreckensregiment eines Herrn im Himmel gelöst. Wenn jeder sich an sein gegebenes Wort hält, so nur deshalb, weil er bei Ungehorsam schreckliche Konsequenzen fürchten muss.

Die Übereinstimmung von Wort und Tat, eine der wichtigsten Tugenden der Demokratie (die von modernen Moralverächtern leichtfertig in den Wind geschrieben wird, um sodann über den Zerfall der Gesellschaft zu lamentieren), muss in mühevoller Selbsterziehung gelernt werden. Einer Selbsterziehung in gemeinschaftlicher Solidarität. Das gelingt nicht von heute auf morgen. Ohne Zwischenschritte geht es nicht.

Ein ambivalenter Zwischenschritt ist die Erfindung der Rhetorik. Gelegentlich glauben Demokraten nicht anders ihre Probleme lösen zu können als durch Anwendung von „Lüge, Täuschung, Gewalt und Diebstahl“. Das führte bei Gorgias zur Lehre von der „berechtigten Täuschung“.

Das fromme Gegenstück war die nützliche Sünde oder das Böse im Dienste Gottes, eine Lehre, die die Moderne bis zum heutigen Tag beherrscht.

Rhetorik ist die Fähigkeit, mit Mitteln der Rede die gute Sache in eine schlechte, die schlechte in eine gute Sache zu verwandeln. Sophistische Rhetoren waren die ersten Advokaten, die sich im Volksgericht den Angeklagten zur Verfügung stellten, um Schuldige unschuldig und Unschuldige schuldig aussehen zu lassen. Nach Thukydides, der Gorgias folgte, muss der „politische Redner, um seine Vorschläge durchzusetzen, sich gelegentlich des Mittels der „Täuschung“ bedienen oder zur Lüge greifen, um das Vertrauen des Volkes für sich zu gewinnen.“ (Wilhelm Nestle)

Trump war keineswegs Erfinder der fake news oder der Künste, andere durch Verdrehung der Tatsachen hinters Licht zu führen. In Wirklichkeit handelt es sich um uralte Lügentechniken, auch wenn Trump sie besonders dreist anwendet.

Rhetorik, die Fähigkeit, mit vielen, oft undurchsichtigen Methoden, das Publikum zu betrügen, ist noch heute die Hauptkompetenz eines Ehrgeizigen, der politisch nach Oben kommen will.

Rhetorik wurde zur jahrtausendealten Predigtkunst der Priester, die noch heute keinen Trick verschmähen, ihre Gemeinden für die Interessen des Klerus – getarnt als Interessen Gottes – einzustimmen.

Reden auf dem Parteitag werden als entscheidende Tests betrachtet, die über Wohl und Wehe der Kandidaten entscheiden.

Viele Sophisten – die sich der manipulierenden Redekunst verschrieben – wurden zu Gegnern der Philosophie, die mit dialogischen Argumenten ihre Gesprächspartner überzeugen wollten. Der Dialog starb, die Argumente verschwanden.

Heute gibt es nur Rhetorisches in jeder Preislage – und sophistische Talkshows – die den scheinbaren Versuch unternehmen, strittige Positionen durch Debattieren zu klären. In Wirklichkeit wollen sie nichts klären. Der gewandteste und wortmächtigste Sophist soll sich in „interessantem Schlagabtausch“ durchsetzen. Versteht sich, dass der Erkenntniszuwachs der Wortscharmützel noch nie vermessen, pardon, erfragt wurde.

Im Fernsehen, einer politischen Gesamtwüste, die in Spielen erstickt, gibt es kein einziges Dialogformat mit zwei Streitenden, die mit präzisen Argumenten und Gegenargumenten ihre intellektuelle Überlegenheit demonstrieren könnten. Ja, sie dürfen es gar nicht, um dem Vorwurf arroganter Besserwisserei zu entkommen. Wie sie aber die Gegner mit Unterbrechen, Lächerlich-machen und Düpieren „vorführen“, darf mit hämischer Schadenfreude quittiert werden.

Auch die Interviews der Medien sind nicht der Erkenntnis verpflichtet, sondern dem Versuch, mit überraschender Wortakrobatik dem Gefragten eine Sensation zu entlocken. Von einem ernsthaften Dialog unterscheidet sich das Interview durch das Erkenntnisgefälle. Politiker und Experten sollen ihre Meinungen in wolkigen Sätzen vertreten, die Interviewer hingegen sind keinem Erkenntnisinteresse verpflichtet. Ja, sie haben es sich verboten, sich einer Sache zu verschreiben – sei sie gut oder schlecht. Sie halten sich raus.

Wäre das Interview ein echter Dialog, müssten die Gefragten dieselbe Chance zur Rückfrage, ja, zur Gegenkritik erhalten wie die Fragenden. Ein Dialog ist ein gegenseitiges Überprüfen – und kein schein-infantiles Befragen eines „Experten“.

In einer Demokratie ist jeder fähig, seiner Arbeit nachzugehen und sich dennoch kundig zu machen, wie die Probleme des Gemeinwesens zu verstehen und zu lösen sind. Das war die Überzeugung des Perikles.

Heute ist das Interview eine sophistische Angelegenheit geworden. Mit ausufernden Antworten zu einer einzigen Frage, mit arroganter Experten-Artistik und vorsätzlichem hinters Licht führen. Kommt ein Befragter auf die Idee, den Fragenden unter die Lupe zu nehmen, muss er sich anhören: hier stelle ich die Fragen.

Das Gespräch zwischen Politikern und Journalisten ist zum Gesellschaftsspiel mit erlaubten Foppereien geworden, die mit Sachfragen nichts zu tun haben. In der letzten Pressekonferenz vor dem Sommerloch „stellt“ sich die Kanzlerin noch einmal den Fragen aller akkreditierten Journalisten. Die Tagesschau übermittelte vor allem die Juxfrage: Mit wem, Frau Bundeskanzlerin, würden Sie am liebsten den Urlaub verbringen: mit Trump, Putin – oder Seehofer? Gelächter, Tusch. Das war der Gipfel eines karnevalistischen Klamauks als Höhepunkt eines Pressejahres.

Die Technik der „berechtigten Täuschung“ prägt die gesamte Geschichte des Abendlandes. Zuerst in der Homiletik, der Kunst der Predigt. Ein Erwählter, immer derselbe, spricht monologisch von Oben auf die Gemeinde herab, die keinerlei Chancen hat, dem Gehörten zu widersprechen. Nicht mal Fragen sind gestattet. Der Prediger steht an Gottes statt und erleuchtet in seinem Auftrag die Schafe der Gemeinde. Typisch die Gottesoffenbarung des Mose, der auf den Berg stieg, um dem Volk das unveränderbare Wort Gottes zu bringen.

„Und alles Volk sah den Donner und Blitz und den Ton der Posaune und den Berg rauchen. Da sie aber solches sahen, flohen sie und traten von ferne und sprachen zu Mose: Rede du mit uns, wir wollen gehorchen; und laß Gott nicht mit uns reden, wir möchten sonst sterben. Mose aber sprach zum Volk: Fürchtet euch nicht; denn Gott ist gekommen, daß er euch versuchte und daß seine Furcht euch vor Augen wäre, daß ihr nicht sündigt. Also trat das Volk von ferne; aber Mose machte sich hinzu in das Dunkel, darin Gott war.“

In das Dunkel, das Gott war. Gottes rhetorische Fähigkeiten sind so überwältigend und destruktiv, dass Mose dazwischen geschaltet werden muss – um das Volk nicht völlig platt zu machen.

Die Predigt hat alle Redekunst der neuzeitlichen Demokratie geprägt. Was anders auch nicht möglich war, denn die Kunst des Dialogs war unbekannt. Alle Leitfiguren entstammten calvinistischen oder lutherischen Elternhäusern, die sich der Aufklärung anschlossen.

Das Ergebnis dieser charismatischen Nudging-Methode ist nicht nur der Tod des Dialogs, sondern die dogmatische Erwartungshaltung, aufgrund subjektiver Erregungsmomente während der Reden auf die Führungsqualitäten der Redner schließen zu dürfen.

Polemisches Lieblingswort der Gazetten ist derzeit Populist. Worunter ein hinreißender Redner zu verstehen ist, der die Kunst berechtigter Täuschung in exzellenter Weise vordemonstriert. Dass der Verführungskunst des Angreifers spiegelbildliche Qualitäten der Mächtigen entsprechen, wird verschwiegen.

Der Brillanz der Angreifer entspricht die „schlichte, demütige, gelassene, nüchterne, wortarme“ Redekunst der Kanzlerin. Welche Kunst ist artistischer und verführerischer im Land der Bescheidenen? Sie lieben die circensischen Zauberkunststücke. Wenn‘s aber ernst wird, überzeugt die schlichte Wortlosigkeit des Mütterchens.

„Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben am Jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geredet haben. Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.“

Hoppla, nicht nach Taten wird gerichtet, sondern nach Worten. Jeder heidnische Glanz der Rede, jedes hybride logische Argument, jedes klärende Wort, wird als Angriff gegen die Frommen gewertet. Also sparsam sein mit Schwallen und – Merkel kopieren.

Die Predigtpraxis hat die protestantischen Gemeinden derart verdummt, dass sie bis heute nichts über historisch-kritische Bibelkritik wissen. Die Bibel haben sie nie gelesen. Nach eigenem Gefühl bestimmen sie, was Gott ihnen gesagt haben soll. Ihre totale Ignoranz in religiösen Dingen verdanken sie einer jahrtausendealten Predigtpraxis.

Die letzten anwesenden Mütterchen im Gottesdienst werden heute mit Jesus-Kitsch abgespeist, die sie Erbauung nennen. Emotionale Erbauung, von den Pietisten erfunden, soll nicht den Verstand ansprechen, sondern das reine Gemüt des Einzelnen vor Gott.

Der Pietismus war die Quelle der Stürmer und Dränger, die der kalten Ratio der Aufklärer Ade sagten. Die Romantiker wurden die Erben dieser Schwärmer wider alle Vernunft – die sich, im Protest gegen den äußeren Glanz des Bismarckreichs – zur vernunftfeindlichen Deutschen Bewegung fortentwickelten und im furor teutonicus endeten.

Wenn Journalisten sich auf den Weg machen, um die Glaubensfähigkeit der Deutschen unter die Lupe zu nehmen, begnügen sie sich mit dem Erlebnis eines „unbestimmten Gefühls“, das fromme Zeitgenossen ihnen zu berichten haben. Solche Gefühle stellen sich keiner rationalen Debatte über die Qualität der Heiligen Schrift. Sie verschanzen sich im Inneren, wo alle Gefühle immun sind. Im Bereich des nach Oben offenen Fühlens sind alle Katzen grau.

Schon Hegel hasste das Geschwätz von der Erbaulichkeit seines berühmten theologischen Kollegen Schleiermacher. Religion war für Schleiermacher nichts als Gefühl und Geschmack fürs Unendliche. So wurde sie zum Erlebnis für ekstatische Gourmets und innengeleitete Schleckermäuler.

„Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle – mit andern Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit andern zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtsein. Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehenzubleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.“ (Hegel)

Mit seiner Philippika gegen die Unangreifbarkeit eines erbaulichen Gefühls hat Hegel die ganze postmoderne Erregungshybris prophylaktisch ins Herz getroffen. Worüber soll gestritten werden, wenn jeder gottgleich in seiner Allwissenheit ruht? Die religiösen Werte der Frommen stehen in diametralem Gegensatz zur Dialogfähigkeit, die man von Demokraten erwarten sollte.

Fromme Erbaulichkeit wurde zum Fundament der deutschen Ästhetik, die sich bis heute als Genie-Ästhetik ausgibt. Wer einen Maler oder Theaterregisseur fragt, was er sich bei seinen bizarren Erfindungen gedacht habe, wird mit Verachtung bestraft. Erleuchtete geben keine Auskunft über ihre subjektiven Offenbarungen. Wie die Urgemeinde beim Empfang des Heiligen Geistes ins Zungenreden kam, sodass einige spotteten: sie sind voll süßen Weines, so lallen Künstler in Zungensprache über ihre Eingebungen, die von ordinären Zeitgenossen nie nachempfunden werden könnten.

Rhetorik war nicht die einzige zwiespältige Täuschungskunst der Griechen auf dem Weg zur demokratischen Bewusstwerdung. Es ist zwiespältig, mit hellen Worten dunkle Interessen zu verfolgen. Sprache, die schönste bewusstseinsbildende Erfindung der Menschen, wird zum Mittel des Gegenteils.

„Ein Spezialfall dieser Lehre von der berechtigten Täuschung ist ihre Anwendung auf die Künste. Durch diese Wendung zum Ästhetischen wurde Gorgias auch zum Begründer einer neuen Wissenschaft: der Ästhetik. Es handelt sich um die nachahmenden Künste der Dichtkunst, insbesondere des Dramas, der Schauspielkunst, der bildenden Kunst in Malerei und Plastik. Sie alle haben gemeinsam, dass ihr Zweck nicht die Wahrheit, sondern die Lust, und ihr Mittel die Täuschung ist, mit der sie die Wirklichkeit illusionär herstellen wollen. Für Gorgias bestand die Wirkung der Poesie in der „Seelenlenkung“ durch künstlerische Illusion. Auch die Tragödie in der Darstellung der Mythen und Leidenschaften beruhte auf Täuschung.“

Und jetzt kommt die überraschende Wendung. Trotz aller Täuschungsfähigkeit war griechische Kunst nie eine artistische Angelegenheit, die mit dem Leben des Volkes nichts zu tun hatte. „Den Grundsatz „l’art pour l’art“ hat das künstlerisch begabteste Volk der Welt weder gekannt noch betätigt. Das ist das Große an den Griechen, dass ihre lebendige Phantasie immer gezügelt wird durch einen hellen klaren Verstand, dass ihre Dichter auch immer Denker sind.“

Wie kommt die Wendung von der berechtigten Täuschung zur Vernunft zustande? Durch die Absicht der Künstler, (besonders der Tragödiendichter), mit theatralischen Illusionen dem Volk das Bewusstwerden seiner eigenen verborgenen Phantasien zu ermöglichen. Kunst wollte das Unbewusste des Volkes auf die Bühne bringen, um es zu verwandeln in Helligkeit und Betroffenheit. Das war ja meine Geschichte, die ich eben auf der Bühne sah. Das war ja ICH. Die täuschende Illusion war nur eine pädagogische Methode, die Seele jedes Einzelnen zu sich selbst zu führen. Aristoteles spricht von Katharsis (Reinigung) durch Erregung tiefer Emotionen: von Furcht und Mitleid.

Während Rhetorik immer mehr zur irrationalen, politischen Verführungskunst wurde, hatte die Bühnenkunst den Auftrag, unbewusste und verbotene Gefühle in Selbsterkenntnis zu verwandeln. „Griechische Kunst war durchdrungen von ethisch-erzieherischen Motiven. Wie alle griechischen Dichter, haben sich auch die großen Tragiker stets als Lehrer und Erzieher ihres Volks gefühlt.“ (Nestle)

Dies ist das genaue Gegenteil der gegenwärtigen Ästhetik, die seit klassischen Zeiten jedes fabula docet verabscheut. Sie lehnt jeden moralischen und politischen Erkenntniszweck ab. Deutsche Kunst ist ein frei schwebendes Gebilde oberhalb aller irdischen Erdenschwere. Sie will erfahren und erlebt werden wie ein zweck- und erkenntnisloses Aufleuchten einer ätherischen Realität.

Selbst wenn es ihr gelänge, das Unbewusste des Publikums offen zu legen – was sie strikt ablehnt –, so hätte sie nicht die geringste Lust, aus dem Akt der Widerspiegelung eine polit-pädagogische „Belehrung“ abzuleiten.

Kunst ist zur Erbin der theologischen Erleuchtung geworden, die nur in Zungen stammeln kann, was ihr in höheren Sphären widerfahren ist. Der Künstler ist zum Erben des Propheten geworden – ohne Botschaft an sein Volk, das allein im Finstern wandelt.

Und doch gab es eine Botschaft der deutschen Kunst. Der unverstandene Künstler sollte – zum Politiker werden, der sein Sendungsbewusstsein erst versteht, wenn er in brüllender Rhetorik zu seinem Volk gesprochen hat, um in der Echowirkung seiner Rede zu begreifen, wozu er auserwählt wurde. Im Wagner‘schen Gesamtkunstwerk (Bayreuth ist wieder zum Mekka deutscher Eliten geworden) vereinigen sich musikalische Rhetorik und Ästhetik des gottgesandten Künstler-Politikers zur betörenden, bewusstseinslosen Einheit.

„Und das gelingt, weil hier ein echter Zauber wirkt, nämlich der der Betörung. Man kann sich der Schönheit dieser Inszenierung nicht entziehen. Dabei erscheinen die düsteren Figuren als die wahren Helden.“ (WELT.de)

Die düsteren Figuren sind Verkörperungen des Bösen. Das Böse ist das einzig fruchtbare Elixier einer besinnungslosen Geschichte.

„Ein neues Zeitalter könne nur eingeleitet werden, wenn Deutschland von „Kunstpolitik“ regiert sein würde. Politik sollte zur Magd der Kunst werden. „Krieg und Kunst“ ist eine griechische, eine arische Lösung.“ Schrieb Julius Langbehn, gefeierter Autor des Buches „Rembrandt als Erzieher“, das die Wandervogelbewegung zu einer der wichtigsten Vorläuferbewegungen des Nationalsozialismus aufputschte. (zit. in Fritz Stern; Kulturpessimismus als politische Gefahr)

 

(Über Antisemitismus und Philosemitismus in der nächsten Fortsetzung)