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Umwälzung LXXXI

Hello, Freunde der Umwälzung LXXXI,

was muss in Berlin geschehen sein, dass Anne Will ihren kostbaren Urlaub unterbrechen musste?! Nein, nicht um eines Gesprächs, sondern um des Wartens willen. Das sogenannte Gespräch sollte nur die Wartenzeit abkürzen: das Erwarten des Außerordentlichen. Was war das nochmal?

Wenn binnenländische Politik dramatisch wird, kommt sie ins Warten. Deutsche Sprache ist hinterlistig. Beim Warten wird nichts gewartet, sondern bloß – gewartet. Beim Warten muss man mit Absicht passiv werden, um die Aktivitäten des Extraordinären zu erwarten. Manche sprechen vom Ereignis der Geschichte.

Wenn der Weltgeist durch Berlin schreitet, Limousinen vor dem Kanzleramt vorfahren, gewichtige Gestalten aussteigen, um an wartenden Beobachtern vorbeizudefilieren – richten sie ein bedeutend Wörtchen an die Herumlungernden? eilen sie grußlos an ihnen vorüber? –, sich in den Tiefen des Kanzleramts zu verlieren, um ihren heiligen Wartemodus durch Gespräche zu garnieren, aber keinesfalls zu beenden, wenn, wie gesagt, die Ereignisse sich türmen, als ob gewaltige Stürme riesige Eismassen zu babylonischen Türmen stapeln würden: was wäre dann? Dann hätte der Stillstand der Politik sich in rasendem Warten offenbart.

Politik, die nichts mehr entscheidet, aber den gegenteiligen Eindruck erwecken muss, ist angewiesen auf den gewohnten Fluss der Dinge, gesteuert von mächtigen Hintergrundmännern, die es für eine Beleidigung hielten, als Politiker angesprochen zu werden. (Jogi Löw, begnadeter Fußballtrainer der Deutschen wusste es: er war zuständig für den flow der Dinge, der es diesmal vorzog, andere Nationen zu beflügeln.)

Geschichte wird von gigantischen Elementen bestimmt, die den Status des Automatischen errungen haben – und Männern, die sich für mächtig genug halten, um diese Urelemente der Geschichte zu steuern, obgleich sie die Automatismen

nur in winzigen Quanten beschleunigen oder bremsen können. Nicht einmal die Richtung der Elemente können sie wirklich beeinflussen, geschweige die planetarische Gewalt ihrer Dimensionen.

Die Urelemente tragen harmlose Tarnnamen wie Zukunft und Fortschritt, damit niemand auf die Idee komme, sie könnten von Menschen verändert werden. Ob erwähltes Proletariat oder Pekuniariat – sie alle hängen an stählernen Fäden der Geschichte, deren Geschwindigkeit sie nur minimal beeinflussen können:

„Eine Nation kann naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen oder mildern.“ (Das Kapital)

Von Geburtswehen würde heute kein 4.0-Geschichtsexperte mehr sprechen. Heute sind die Wehen im Neocortex angesiedelt und gehorchen algorithmischen Kommandos.

Als der Mensch zum Heilsempfänger wurde, spätestens, als er zu Beginn der Neuzeit zur Maschine degenerierte – mit einem lästigen Überhang von Geist, der inzwischen suspendiert wurde –, verwandelte sich Geschichte in ein automatisches Geschehen: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen:

„Die Welt ist jetzt wie eine Kelter: es wird ausgepreßt. Bist du Ölschaum, so fließt du in die Kloake, bist du Öl, so bleibst du im Ölgefäß. Dass gepresst wird, ist unumgänglich. Nur beachte den Schaum, beachte das Öl. Pressung geht in der Welt vor: durch Hungersnot, Krieg, Armut, Teuerung, Not, Raub und Geiz; das sind die Drangsale der Armen.“ (Augustinus)

Seit Augustin hat sich in der Geschichte des Abendlands nichts verändert. Nur die Mittel der Pressung wurden wirksamer und effizienter. Das Ergebnis ist stets dieselbe Spaltung der Menschheit in Kloake und Palast. Entweder nach Aspekten der Erwählung oder nach pekuniären, biologischen, kreativen oder sonstigen Kriterien.

Die automatische Geschichte, die man früher deterministisch nannte, gehorcht noch immer dem Motto Senecas: „Den Willigen führt, den Unwilligen treibt das Schicksal“.

Die Autonomie des demokratischen zoon politicon hatte sich in der späten Stoa, unter dem Diktat eines übermächtigen Kaisertums, dem Geschichtsgehorsam des neuen Christentums so angenähert, dass clevere Zeitgenossen gar einen Briefwechsel zwischen Paulus und dem Erzieher Neros erfanden. Ob Gottes- oder Naturgesetze: der Mensch hat höheren Mächten zu folgen, die über sein Schicksal entscheiden. Mächtige Maschinen und Waffen ändern nichts an diesem Urgesetz.

Als Demokratie und Aufklärung in der Neuzeit die politische Macht erobert hatten, kämpften sie gegen den Determinismus der Geschichtsmächte und propagierten die Selbstbestimmung des Menschen. Doch die Kräfte des Himmels geben nicht einfach auf. Sie liegen auf der Lauer, um jede Schwäche und Niederlage der irdischen Autonomie für sich zu nutzen.

Die Nachkriegszeit war eine Hoch-Zeit der Menschenrechte. Jetzt geht es wieder in den Rückwärtsgang. Nach dem Krieg florierten Politik und Wirtschaft, die Völker feierten den Sieg über die deutschen Schergen. Die Demokratie wurde derart attraktiv rund um den Globus, dass selbst der Kalte Krieg durch Perestroika & Glasnost Gorbatschows beendet werden konnte.

Trotz aller deutschen Miesmacher war Fukuyamas Jubelschrei über die Demokratisierung des Planeten – obgleich überschwänglich und utopisch – eine nachvollziehbare und verständliche Reaktion. Der Mensch darf stolz sein auf seine humanen Lernschritte. In der Begeisterung des Erreichten darf er die Entwicklung in die Zukunft hochrechnen – doch das Realitätsprinzip sollte er à la longue nicht vernachlässigen. Zeit zum Feiern, Zeit für Nüchternheit.

In Deutschland wirft man alles weg, wenn es nicht den erwünschten Sofort-Erfolg bringt. Nach diesem Motto hätte man die Demokratie längst abschaffen müssen.

Gibt es Defizite des Erwünschten, darf das Erreichte nicht demontiert werden. Das Vorbildliche darf überhaupt nicht abgebrochen oder boykottiert werden. Das Gute ist nicht falsifizierbar. Nur Elemente des Schlechten im Guten sollen aufgedeckt und revidiert werden. Das wäre, mit Verlaub, Lernen durch Versuch und Irrtum.

Die Formel ist unvollständig. Zu Versuch und Irrtum gehören auch Bestätigung und positive Rückmeldung. Irrtum kann nicht definiert werden ohne Kriterien des Erfolgs. Ein pädagogischer Erfolg ist kein Erfolg wirtschaftlicher oder sonstiger Quantität, die nur äußeren Machtzuwachs als Erfolg anerkennt. In der Pädagogik zählen Einsicht, empathisches Verstehen und ungetrübte Urteilskraft.

Fukuyamas Buch war der Zenith der vorbildlichen Nachkriegsentwicklung. Danach ging’s bergab. Die Gründe lagen in den Defiziten der goldenen Jahre, die vom Westen nicht wahrgenommen wurden. Jeder Reifungsvorgang muss auch die Schattenseiten seiner Erfolgslinie zur Kenntnis nehmen. Andernfalls gelingt es den verdrängten Fehlleistungen, den Siegeszug des Sinnvollen zu deformieren oder zu stoppen. Nobody is perfect. Lebenslanges Lernen ist kein fortwährendes Aufstiegspauken, sondern ein kontinuierlicher Prozess in Nüchternheit und Anteilnahme.

Der Westen schwamm in selbstgefälliger Überheblichkeit und hatte es nicht nötig, sich im Spiegel jener Nationen wahrzunehmen, die den Westen viele Jahre lang als Vorbild betrachtet hatten. Sein Mangel an Selbstkritik wurde von den „unterentwickelten Staaten“ zunehmend als Heuchelei empfunden – die unerträglich wurde, als der Westen, unter Führung der religiöser werdenden USA, seinen Macht- und Geldgier-Imperialismus als demokratische Mission ausgab. Das war des Halbseidenen zu viel. Die aggressive Abneigung gegen den Westen wuchs und unterstützte die Entwicklung jener Staaten zu autoritären Regimes. Heute dominieren in Ost und West die Obrigkeiten diktatorischer Männer.

Die Selbstverblendung des Westens beruht auf mangelnder Selbsterkenntnis. Je stärker seine Macht wurde, umso mehr verachtete er die unterlegenen Völker. Die Reaktion der aufstrebenden Staaten blieb nicht aus. Die einstmalige Bewunderung der westlichen Überlegenheit schlug um in Abneigung und Hass. An den Schnittstellen zwischen Ost und West entzündeten sich Stellvertreterkriege. Die eklatanten Mängel des Kapitalismus wurden vom Westen ignoriert.

Neoliberale Wirtschaft anerkennt keine moralischen Defizite. Die Gesetze des Wohlstanderwerbs seien sachlich-rationaler Art und durch moralisierende Belehrung nicht veränderbar. Auch hier gibt es eine Kongruenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus – der gerade in Deutschland noch immer eine hohe Sympathie genießt. Wenn auch in der Form: Marx ist ein deutsches Genie. Was hat er nicht alles vorausgesehen? Doch gottlob haben wir seine Trophäen ins Museum gestellt. Typisch, dass die prophetischen Fähigkeiten des Marxismus betont werden. Seine praktische Lernfähigkeit wird dementiert. Auch Marx hasste jede moralische Autonomie und betete eine automatische Geschichte an.

Der westliche Dualismus aus demokratischer Autonomie und Gehorsam unter Heilsgeschichten jedweder Art führte zur immer selbstgefälligeren Praxis scheinhaften Tuns, das sich auf den automatischen Ablauf der wirtschaftlichen Entwicklung verlassen konnte. Wenn der Laden wie von selbst läuft, kann sich das politische Gestaltungsgefühl zurückziehen und sich auf den Automatismus der versteinerten Gier- und Machtgesetze verlassen.

Die wachsende Unfähigkeit zur Selbstkritik vermochte es nicht, die untergründig anwachsenden Hauptprobleme der Welt wahrzunehmen. Je selbstgefälliger die politischen Akteure des Westens agierten, je mehr wuchs das von ihnen mitverursachte Elend in der Welt.

Die Folgen der Klimaverschärfung wurden ignoriert, weil es im biblischen Denken keine vom Menschen verursachten Naturkatastrophen geben durfte. Der fundamentalistische Glaube an eine automatische Heilsgeschichte lässt keine geschichts-bestimmenden Prägungen durch den sündigen Menschen zu. Das Böse existiert – kann aber Gottes Regiment nicht antasten.

Vollständig ignoriert wurde das drohende Flüchtlingsproblem in den von Bürgerkriegen und Klimaverschärfung heimgesuchten Staaten. Merkels samaritanische Einzeltat war notwendig, doch warum war Europa unfähig, die lange Inkubationszeit der Flüchtlingsmisere zu erkennen?

Auch hier verließ man sich in triumphaler Selbstüberschätzung (siehe „die Mannschaft“) dem automatischen Prozess unerschütterlicher Suprematie. Der Westen hatte jede prophylaktische Problemlösung verlernt – wenn er sie denn jemals beherrscht hatte. Selbst gigantische Finanzkrisen und Klimawandlungen, vor allem in den ärmeren Ländern, hinterließen Angst und Schrecken, die schnell wieder ins kollektive Unbewusste verdrängt wurden. Der Schlendrian nahm seinen Lauf.

Wer sich Gottes Regiment oder dem Gesetz einer unfehlbaren Geschichte untertänig fühlt, der rechnet bei allen Katastrophen noch immer mit der unsichtbaren Hand Gottes. Wer nichts anderes kennt, als an der Schürze eines omnipotenten Schicksals zu hängen, das vor allem die egoistischen Interessen seiner privilegierten Schützlinge verfolgt, der hat es nicht nötig, sich ein ungetrübtes Bild seiner Tätigkeiten zu machen. Wozu die Verantwortungs-Hysterie, wenn man auf einen gnädigen Gott hoffen darf?

So gewöhnten sich die westlichen Lieblinge Gottes an einen reduzierten Tunnelblick nach vorn, in die Zukunft. Weder im Zorn noch in Selbstkritik zurückschauen: das ist die Verdrängungs-Devise der Futuristen. Wer sich für sein Schicksal nicht zuständig fühlt, überlässt alle Dinge ihrem Selbstlauf. Eingreifen, korrigieren – wäre Hybris, ein Aufstand gegen die Fürsorglichkeit eines Gottes, der seine Schützlinge kennt und für sie sorgt.

Die Wucht selbstlaufender Prozesse steht in keinem Verhältnis zur leichtsinnigen Unbesorgtheit der Führungsschichten, aber auch der Völker, die sie kontrollieren müssten. Es ist, als ob eine rasende Führungslok durch gutes Zureden gesteuert und gezähmt werden sollte. So auch in Berlin.

Der Gegenstand des Zerwürfnisses steht in keinem Verhältnis zur Melodramatik der Inszenierung. Auf den ersten Blick. Genau genommen aber gibt es nichts ohne adäquate Ursachen. Ex nihilo nihil fit, von nichts kommt nichts.

In der Analyse der Ereignisse machen es sich die Medien fast immer zu leicht. Sie halten vieles für bloße Show – ohne darüber nachzudenken, woher die Energie zu dieser Show kommt. So bleibt alles auf der Oberfläche, verbunden mit dem kostenlosen Tadel, doch bitte nicht ständig zu übertreiben. Das aber wird den Dingen nicht gerecht und trägt nichts bei zu ihrem Verständnis. Wer nichts versteht, kann die Wiederholung desselben Übels nicht vermeiden.

Ein typisches Beispiel ist der Satz Rudolf Augsteins, der von Michael Sauga im SPIEGEL zitiert wurde:

„SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein: «Es kommt nicht darauf an, dass die Demokratie funktioniert, sondern dass sie von der Bevölkerung als funktionierend empfunden wird.»“ (SPIEGEL.de)

Eine katastrophale Fehleinschätzung des SPIEGEL-Gründers, vermutlich aus seiner letzten Lebensphase. Wie kann ein Sturmgeschütz der Demokratie die Gefahren der Demokratie bekämpfen, wenn es gar nicht um reale Mängel geht, sondern nur um die einsichtslosen manipulierbaren Gefühle der Bevölkerung? Offensichtlich hatte Augstein keine gute Meinung mehr von der Gesellschaft, als er deren Gefühle für unfähig hielt, die Lage der Dinge zu erkennen.

Gefühle sind nicht allwissend, aber auch nicht das Gegenteil. In jedem Gefühl lassen sich Reste einer verlässlichen Realitätswahrnehmung aufspüren. Wär‘s anders, könnte es keine Psychotherapie geben, die mit anamnestischen Gefühlen arbeitet. Schlussfolgerungen aus Gefühlen können irren, Gefühle aber haben stets eine reale Verankerung. Man muss sie allerdings suchen und andere nicht gleich zu Traumtänzern erklären.

Das Zitat zeigt eine ziemliche Verachtung des Volkes, als ob dessen Gefühle beliebig beeinfluss- und verfälschbar wären. Davon kann keine Rede sein. Wenn dieses Zitat die Basis der analytischen Fähigkeiten des SPIEGEL wäre, könnte er sein Sturmgeschütz endgültig einmotten. Menschen, deren Gefühle in keinem erkennbaren Zusammenhang mit ihrer Realität stehen, wären pathologische Fälle für die Psychiatrie.

Die Medien haben ihre analytischen Methoden noch nirgendwo zu Protokoll gegeben. Sie verlassen sich auf die Intaktheit ihres Einfühlungsvermögens. Dieses aber hängt ab von persönlichen Erfahrungen. Zu den Erfahrungen gehören typische Schutzmechanismen und Wahrnehmungsdefizite der jeweiligen Klasse, aus der die Schreiber kommen.

Da die meisten dem Bürgertum entstammen, sehen sie die Welt wie Bürger, die sich mit standesgemäßer Intelligenz und Leistungsfähigkeit ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft erobert haben. Menschen anderer Herkunft zu verstehen, fällt ihnen schwer, da sie die Einseitigkeit ihrer Weltsicht nicht wahrhaben wollen. Die bürgerliche Mitte ist das selbstverständliche Paradigma ihres Fühlens und Bewertens.

Nehmen wir die typische Reaktion der bürgerlichen Medien auf „unangepasstes Verhalten“ der extraordinären Art wie Verbrechen oder terroristische Anschläge. Wie überbehütete Kinder, die zum ersten Mal mit der hässlichen Wirklichkeit zusammentreffen, überschlagen sich die Schlagzeilen in abscheuerregender Entsetztheit über das unbekannte Böse. Sie haben noch nie ein Gefängnis von innen gesehen, sich noch nie mit sozialer Not konfrontiert, noch nie defekte Familien und verwahrloste Kinder aus der Nähe erlebt. Sie überschlagen sich in Ausdrücken des Grauens, das mit der Misere der Welt nichts zu tun haben will. Selbstgerecht und verängstigt aufschreien, dann unmittelbar zurückflüchten in die Sicherheit ihrer bürgerlichen Mitte: so sind die typischen Berichte der Medien über das Böse in der Welt.

BILD hat keine Schwierigkeiten, Bösewichter als Teufelsbraten zu dämonisieren. Wer die Maladen und Missglückten zu verstehen sucht, wird von BILD-Reichelt als Verstehensideologe vom Tisch gewischt.

Dem Bösen auf der einen Seite entspricht das Himmlische auf der anderen, das in blinder Gläubigkeit angebetet wird:

„Warum haben wir dann nicht gewonnen. Da gilt dieselbe Antwort für den Fußball wie für das ganze Leben: Unser Glaube schützt uns nicht vor Kummer, vor Niederlagen, vor Prüfungen. Wer in die Bibel schaut, findet viele, viele Leidensgeschichten. Von Hiob über Jesus bis Paulus. Dagegen ist ein WM-Aus ein Klacks.“ (BILD.de)

BILD-Reichelt übertrifft seinen Kollegen mit fußballerischen Impressionen einer besonderen himmlischen Erleuchtung:

„Als wir 2014 Fußball-Weltmeister wurden und unsere Heldenmannschaft nach Berlin einflog, um auf der Fanmeile zu feiern, stand ich auf dem Dach des Springer-Verlags. Von dort aus sah ich die Boeing 747, den „Siegerflieger“, wie sie tief über die Siegessäule flog und mit einem Winken der Tragflächen die Menschen da unten und das ganze Land grüßte, bevor dieses unvergessene Flugzeug runtertauchte auf die Landebahn von Tegel. Dieser Anblick, den ich mit einem guten Freund erlebte, war einer der schönsten Momente meines Lebens. Warum? Weil Fußball mir mehr bedeutet, als Worte es ausdrücken könnten und Vernunft es begründen könnte.“ (BILD.de)

Wenn eine Nation eine Sportart zur Religion erklärt, darf man sich über den Wahn einer kollektiven Schmach nicht wundern. Es ist die Mixtur aus wirtschaftlicher Wettbewerbs-Brutalität und religiösen Fieberanfällen, die den Nationalcharakter der Deutschen prägt. Ein Rückfall in romantisch-religiöse Leidenschaft für heilige Kriege fern im Osten.

Wenn politische Lethargie zusammenfällt mit hoch aufgestauten Problemen im Beschleunigungszustand, kommt es unausweichlich zum „rasenden Stillstand“ – wie einst vor Verdun:

„Rasender Stillstand. Am 21. Februar 1916 beginnt der Kampf um die Festung Verdun und dauert bis zum 16. Dezember.“ (BR.de)

Die Petitesse des Berliner Koalitionsstreits steht in schreiendem Missverhältnis zu den zugrundeliegenden katastrophalen Menschheitsproblemen der Gegenwart. Wie den Flüchtlingen helfen, ohne Angst zu haben, von Sturmwogen hinweg gespült zu werden?

Die EU-Partner einigten sich darauf, dass sie sich nicht geeinigt haben. In ihren Worten: jedes Land kann freiwillig tun, was es für richtig hält. Auf solch eine Trivialität muss man sich einigen? Und hätte man sich nicht geeinigt, wären die Länder zur Hilfe gezwungen worden?

Die Trostlosigkeit der Berliner Politik ist die Trostlosigkeit Europas. Da behauptet Merkel etwas und verschiedene Länder erklären sie zur Lügnerin. Das Ganze wird als Sieg für Europa ausgegeben.

Ein Wunder sei geschehen, erklärte Giovanni di Lorenzo bei Anne Will, der im Übrigen nicht verstehen konnte, warum Europa durch einen Sturz Merkels – nur wegen einiger Flüchtlinge – gefährdet werden soll. Auch Ex-Außenminister Gabriel sieht Europa in Gefahr, wenn seine Mutterfigur aus dem Amt scheiden würde. Eine ganze Nation steht am Abgrund, wenn eine Politikerin ihren Abschied nehmen müsste, die den Verfall Europas bedenkenlos mit organisiert hat? Das ist keine Anerkennung mehr, das ist Idolatrie. Religiöse Gefühle, wohin man blickt.

Wie kann man das Flüchtlingsproblem lösen? Hier eine seltene Antwort von einem führenden Journalisten:

„Lösungen? In aller Aufrichtigkeit: Ich weiß keine.“ (ZEIT.de)

Die Berliner verhakeln sich in Kleinigkeiten – die großen Linien des globalen Millionenproblems missachten sie. Die Ratlosigkeit eines Aufrechten steht in direktem Widerspruch zur Silbenstecherei der Politiker, die tun, als hätten sie alles im Griff. Dabei sind sie ebenso ratlos wie Theo Sommer – nur nicht so ehrlich und aufrichtig.

Wenn Probleme der Menschheit schon so akkumuliert sind, dass man kaum eine theoretische Lösung sieht, wie soll da eine praktische gefunden werden? Politiker irren im Nebel – und tun, als beherrschten sie die Bühne.

Die Nation muss in Spannung versetzt werden durch dramaturgisches Warten. Journalisten werden zu Schlüsselloch-Guckern degradiert. Zwei führende Politiker haben Streit und blähen ihn auf zum nationalen Ausnahmezustand. Die medialen Beobachter demütigen sich mit der Rolle von Kreml-Astrologen: was dringt durch die Ritzen der Gemäuer? Völlig undenkbar, dass die beiden Kontrahenten in einer TV-Debatte sich ihre Argumente um die Ohren hauen würden – sodass das Publikum sich selbst eine Meinung bilden könnte über ihre dialogische Kompetenz.

Warten auf Godot in mehreren Auftritten, retardierenden Momenten, Verschärfungen, unerwarteten Finten und Gerissenheiten. Das ist bayrisch-preußischer Bauernstadl – ohne die derbe Ehrlichkeit der Bauern.

Woher die Attraktivität des Wartens? Das hat mit dem unbewussten Warten auf den Erlöser zu tun.

Mittlerweilen gibt es eine Wissenschaft des Wartens:

«Warten ist kein Selbstzweck», schreibt Paris. Es ist zielgerichtet. Warten wir also immer auf etwas? Kurz gesagt: Ja. Warten ohne Ziel ist wie Paartanz ohne Partner. «Es ist immer auch ein Hoffen auf etwas Zukünftiges. Deshalb wissen wir nicht immer genau, worauf wir eigentlich warten.» Auch in den Warteschlangen des Sozialismus wusste man nicht, was es am Ende zu kaufen gab, ein Ziel hatten die Wartenden aber dennoch.“ (ZEIT.de)

Könnte es sein, dass wir permanent abwarten, weil wir Schiss haben, den Scheinakteuren der Politik – die uns zum ewigen Warten verdonnern – schlicht und einfach die Meinung zu sagen? Wir trauen uns nicht, weil wir zu feige sind, das Maul aufzumachen?

Zur Strafe müssen wir weiter warten – bis zum Sankt Nimmerleinstag.

 

Fortsetzung folgt.