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Umwälzung LXXX

Hello, Freunde der Umwälzung LXXX,

„Der Deutsche, je knechtischer auf der einen Seite, desto zügelloser ist auf der anderen;   Beschränktheit und Maßlosigkeit, Originalität, ist der Satansengel, der uns mit Fäusten schlägt. Wir Deutschen sind passiv gegen das Bestehende, haben es ertragen. Ist es umgeworfen worden, so sind wir ebenso passiv. Durch andere ist es umgeworfen worden, wir haben es uns nehmen lassen, haben es geschehen lassen.“ (Hegel)

Wer heute kein Originalgenie ist, der ist nichts. Alles muss unbefleckt einer tabula rasa entsprungen sein, sonst ist es Müll der Vergangenheit. Früher empfanden sie: früher war alles besser. Heute denken sie: in Zukunft wird alles besser sein. Wer ein genialer Denker sein will, muss ein jungfräuliches System aus dem Boden stampfen. Wer den Fehler begeht, von anderen gelernt zu haben, ist ein Tropf. Lieber bleiben sie doof, als von andern zu lernen. Im Bereich der Technik spiegelverkehrt: wer hier nicht jeden Fortschrittsschrott der anderen blind übernimmt, wird untergepflügt.

„Ihr deutschen Jakobiner; die deutsche Revolution wird darum nicht milder und sanfter ausfallen, weil die Kantesche Kritik, der Fichtesche Transzendentalidealismus und gar die Naturphilosophie derselben vorausging. Durch diese Doktrinen haben sich revolutionäre Kräfte entwickelt, die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewunderung erfüllen können. Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden. Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt, der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die

französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte. jetzt ist es freilich ziemlich still; und gebärdet sich auch dort der eine oder der andre etwas lebhaft, so glaubt nur nicht, diese würden einst als wirkliche Akteure auftreten. Und die Stunde wird kommen. Wie auf den Stufen eines Amphitheaters werden die Völker sich um Deutschland herumgruppieren, um das große Kampfspiel zu betrachten. Ich rate Euch, Ihr Franzosen, verhaltet Euch alsdann sehr stille, und bei Leibe! hütet Euch zu applaudieren. Wir könnten das leicht mißverstehen, und Euch, in unserer unhöflichen Art, etwas barsch zur Ruhe verweisen; denn wenn wir früherhin, in unserem servil verdrossenen Zustande Euch manchmal überwältigen konnten, so vermöchten wir es noch weit eher im Übermute des jungen Freiheitsrausches – Ihr wißt ja selber, was man in einem solchen Zustande vermag, und Ihr seid nicht mehr in einem solchen Zustande – nehmt Euch in Acht! Ich meine es gut mit Euch, und deshalb sage ich Euch die bittere Wahrheit. Ihr habt von dem befreiten Deutschland mehr zu fürchten, als von der ganzen heiligen Allianz mitsamt allen Kroaten und Kosaken.“ (Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland)

Hegel hielt die Deutschen für passiv, Heine schrieb von ihrem zukünftigen revolutionären Donner, den sie über die Welt bringen würden. Alles Denken der Deutschen sei nur die lange, gewissenhafte Vorbereitung für die deutsche Revolution gewesen. Wer von beiden hatte recht?

Beide. Die Deutschen wüteten und donnerten entsetzlich über die Welt – indem sie glaubten, dem Gesetz einer omnipotenten Geschichte untertänig folgen zu müssen. Alle Unterwerfungen unter Gott oder Heilsgeschichte, sind Energieleistungen strikten Gehorsams.

„Frage: Von welcher Unart habe ich dir zuweilen gesprochen?

Antwort: Von einer Unart?

Frage: Ja; die dem lebenden Geschlecht anklebt.  

Antwort: Der Verstand der Deutschen, hast du mir gesagt, habe, durch einige scharfsinnigen Lehrer, einen Überreiz bekommen; sie reflektierten, wo sie empfinden oder handeln sollten, meinten, alles durch ihren Witz bewerkstelligen zu können, und gäben nichts mehr auf die alte, geheimnisvolle Kraft der Herzen.

Frage: Findest du nicht, daß die Unart, die du mir beschreibst, zum Teil auch auf deinem Vater ruht, indem er dich katechisiert?

Antwort: Ja, mein lieber Vater.

Frage: Woran hingen sie, mit unmäßiger und unedler Liebe?

Antwort: An Geld und Gut, trieben Handel und Wandel damit, daß ihnen der Schweiß, ordentlich des Mitleidens würdig, von der Stirn triefte, und meinten, ein ruhiges, gemächliches und sorgenfreies Leben sei alles, was sich in der Welt erringen ließe.

Frage: Warum also mag das Elend wohl, das in der Zeit ist, über sie gekommen, ihre Hütten zerstört und ihre Felder verheert worden sein?

Antwort: Um ihnen diese Güter völlig verächtlich zu machen, und sie anzuregen, nach den höheren und höchsten, die Gott den Menschen beschert hat, hinanzustreben.

Frage: Und welches sind die höchsten Güter der Menschen?

Frage: Und welches sind die höchsten Güter der Menschen?

Antwort: Gott, Vaterland, Kaiser, Freiheit, Liebe und Treue, Schönheit, Wissenschaft und Kunst.“

(Kleist, Katechismus der Deutschen)

Heute wäre Gott: Fortschritt, grenzenloses Wuchern ins Universum. Vaterland wäre Mutterland – mit väterlichen Inhalten. Kaiser wäre Kanzlerin, Freiheit unbehinderter Wirtschaftsexport in die Welt, Liebe, Treue, Schönheit wären Schrott von gestern. Wissenschaft wäre Motor des Unendlichen, Kunst eine lukrative Geldanlage. Das ruhige und sorgenfreie Leben wäre der Gottseibeiuns; bloßes Geld und Gut wären vorgestrig, sie müssten ersetzt werden durch: noch mehr Geld und noch mehr Gut.

Auch mit ihrer Unzufriedenheit dürften sie nicht selbst-zufrieden sein. Wie aber kann man unzufrieden sein und mit der Unzufriedenheit erneut unzufrieden, um für immer mit sich zerrissen zu sein? Daran tüfteln sie noch mit digitalen Originalkreationen. Alle Fragen, die sie nicht lösen können, müssen ihre Roboter lösen – mit denen sie so lange unzufrieden sind, solange die Maschinen sie nicht überholt und abserviert haben. Alles ist gut, was Menschen von der Tenne fegt, alles schlecht, was ihr Glück auf Erden untersützt.

An einem Alten aber halten sie unvermindert fest: Elend und Destruktion müssen sie selbst produzieren, auf dass sie ihre erzielten Abfallberge schreddern können, um das Un-vor-denkbare herzustellen. Das Un-vor-denkbare ist das Einmalige und nie Dagewesene: das Solitäre. Tritt das Solitäre ein, erwachen ihre toten Maschinen zum Leben und werden – nein, nicht zu Menschen, das wäre unter ihrer Würde, sondern – zu Göttern.

Die Evolution hat die Menschen mit so viel Intelligenz ausgestattet, dass sie ihre Mängel selbst entdecken sollen, um sich überflüssig zu machen und potenteren Nachfolgern das Feld zu überlassen. Das ist die bezaubernde Demut eines Geschlechts, das seine eigene Minderwertigkeit wahrnehmen soll, um sich begründet selbst aus dem Wege zu räumen.

Nachrufe auf Verstorbene wurden bislang posthum gehalten. Auch hier ist ein phantastischer Paradigmenwechsel eingetreten: homo sapiens tut nichts anderes mehr, als sich prophylaktisch aus dem Weg zu räumen und schon jetzt im Leben Hymnen auf seinen Untergang anzustimmen. Wir preisen den Fortschritt, um unserem selbstverursachten Untergang entgegenzujubeln. Was nicht der Selbstauslöschung dient, wird von Zukunfts-Agenturen eliminiert.

Womit wir wie durch ein Wunder beim Lieblingssport der Deutschen angekommen wären. Im Nachhinein haben es alle gewusst: die Niederlage war bewusstseinslos gewollt und mit allen Mitteln geistiger Abwesenheit angestrebt worden. Dass sie siegen wollten, war nur die Pflichtmelodie, um das verbotene, aber heiß erwünschte Gegenteil zuwege zu bringen.

Herr: es ist Zeit. Die Erfolge waren groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Niederlagen los.

So also waren die Helden, die in die Fremde fahren mussten, um die erfolgreiche Nachkriegsgeschichte zu beenden:

„Behäbig, ideenlos, unachtsam, emotionslos, von Bequemlichkeit und Lässigkeit geprägt, leer in Köpfen und Körpern, sie exekutierten das Ende der Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzung. Kein Feuer, keine Leidenschaft, es fehlte der Mut, der Glaube, die Begeisterung. Alles war wie bleiern, kraftlos und seelenlos. Die Helden hatten keinen Willen, waren geleitet von der Macht der Gewohnheit. Sie arbeiteten nicht hart genug, um etwas Gutes zu erreichen. Es fehlte ihnen die Leichtigkeit. Löw habe das Momentum nicht auf seiner Seite gehabt. Heute waren wir alle sehr traurig.“

Momentum ist Kairos, der richtige Augenblick, festgelegt von Schicksalsmächten. Löw stand nicht auf der Seite der siegenden Geschichte.

Einstürzende Schulbauten, marode Straßen, Stuttgart 21, BER, endlose Wohnungsnot, über 200 000 fehlende Kitaplätze, wachsende Kluft zwischen Oben und Unten, Reich und Arm, Kollaps der Regierung, schändliche Kompromisse und ewige Selbstwidersprüche, Klimaverschärfung, betrügerische Autobauer, unfähige Führungsklassen, Gülleverseuchung des Bodens, Pflegenotstand, Lehrer- und Richtermangel, BAMF, Flüchtlingsprobleme, Zerfall Europas und des Westens, die Gesellschaft in anschwellenden Zukunftsängsten, zunehmende Militarisierung der Welt, unaufhörliche Destruktion der Natur, weltweite Überwachung und Kontrolle durch das elektronische Netz, imperiale Flucht in das Weltall: die Liste unlösbar scheinender Probleme wächst von Tag zu Tag. Kein Kommentar von niemandem.

Sollte der Gesamtkollaps eintreten, werden die letzten Überlebenden zurückschauen und das heute noch unfassbare Bekenntnis ablegen: haben wir es nicht gewusst? Die Apokalypse, haben wir sie nicht gewollt? Wir waren zu überheblich, zu selbstsicher, zu träge, zu lethargisch, zu ideen- und seelenlos (siehe oben unter „Mannschaft“). Wir hatten keinen Willen, wir haben uns selbst überschätzt, wir waren zu leichtsinnig, ja, wenn wir ganz ehrlich sind: wir wollten es. Wir wollten das Ende, wir hatten keine Perspektiven, wir wussten nicht mehr, was leben in Heiterkeit und Genügsamkeit bedeutet. Wir waren süchtig nach Abwechslung, wir hatten schon alles erlebt, wir brauchten das Außerordentliche, das sich nicht mehr überbieten lässt. Und wenn es der Untergang war. Der kokette Dauerblick in den Abgrund führte unvermeidlich zum Sturz in denselben.

„Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen!“ (Nietzsche)

„Frieden ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Dauerndes Glück ist Langeweile. Einen langen Krieg ertragen wenige, ohne seelisch zu verderben, einen langen Frieden erträgt niemand.“ (Oswald Spengler)

„Darum kommt über euch, Bewohner der Erde, Schrecken, Grube und Strick. Und ob einer entflöhe vor dem Geschrei des Schreckens, so wird er doch in die Grube fallen; kommt er aus der Grube, so wird er doch im Strick gefangen werden. Denn die Fenster der Höhe sind aufgetan, und die Grundfesten der Erde beben. Es wird die Erde mit Krachen zerbrechen, zerbersten und zerfallen. Die Erde wird taumeln wie ein Trunkener und wird hin und her geworfen wie ein Hängebett; denn ihre Missetat drückt sie, daß sie fallen muß und kann nicht stehenbleiben“.

„Es wird aber des HERRN Tag kommen wie ein Dieb in der Nacht, an welchem die Himmel zergehen werden mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden verbrennen. So nun das alles soll zergehen, wie sollt ihr denn geschickt sein mit heiligem Wandel und gottseligem Wesen, daß ihr wartet und eilet zu der Zukunft des Tages des HERRN, an welchem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden!“

„Bald aber nach der Trübsal derselben Zeit werden Sonne und Mond den Schein verlieren, und Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden sich bewegen. Und alsdann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohnes am Himmel. Und alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden und werden sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und er wird senden seine Engel mit hellen Posaunen, und sie werden sammeln seine Auserwählten von den vier Winden, von einem Ende des Himmels zu dem anderen.“

Wer an lineare Zeit glaubt, kann dem Ende der Welt nicht entgehen. Die rasende Unendlichkeit, in die sich der Mensch stürzt, stürzt dem Ende entgegen. Wir halten uns für grenzenlos, um unsere zwanghafte Sehnsucht nach dem AUFPRALL nicht zur Kenntnis zu nehmen. Der Mensch ist das einzige Tier auf Erden, das seine Begrenztheit nicht wahrhaben will.

Wie wirkten die deutschen Champions erleichtert, als das Ende mit Schrecken da war. Sie hatten über ihre Verhältnisse gelebt – und fühlten sich sicher: überlegene Qualität kann nicht von heute auf morgen verschwinden. Wir haben uns ans Siegen gewöhnt. Siegermentalität ist zu unserer zweiten Natur geworden.

Gibt es einen Nationalcharakter? Kann die Nation sich in der Überheblichkeit der MANNSCHAFT erkennen?

Auf den ersten Blick nicht, aber auf den zweiten. Die Nation flüchtet sich in Zorn und Trauer, um sich nicht im Spiegel ihrer Heroen zu betrachten. Die zusammenwachsende Weltkultur lässt die Charaktere der Völker immer ähnlicher werden.

Es dämmert den meisten, dass es niemanden geben wird, der dem globalen Verhängnis entkommt. Die Reichsten auf ihren entferntesten Paradies-Inseln werden von Plastikmassen überflutet, von rasenden Tornados ins Meer gespült. Niemand wird ungeschoren davonkommen. Auf dem Mars werden sie sich auf engstem Raum zerfleischen, die naturfeindliche Umgebung wird unerträglich sein. Eine Rückkehr auf die verwüstete Erde ist ausgeschlossen. Die Reise ins menschenfeindliche Weltall wird eine Reise ohne Wiederkehr.

Haben die Deutschen einen kollektiven Charakter?

„Die Deutschen gelten anderen Völkern ziemlich unisono als sehr regelorientiert und ordnungsliebend. Im sozialen Umgang seien sie eher distanziert und kühl. Durch die Chequers-Affäre kamen im Sommer 1990 kritische Ansichten der britischen Regierung von Margaret Thatcher über den Charakter der Deutschen ans Licht, die zu Turbulenzen in den deutsch-britischen Beziehungen führten. Demnach wurden den Deutschen folgende bleibende Merkmale zugeschrieben: fehlendes Einfühlungsvermögen, starke Tendenz zu Selbstmitleid, Einschmeichelei, Angst, Aggressivität, Rechthaberei, Drangsalierung, Egoismus, Minderwertigkeitskomplex, Sentimentalität, Neigung zum Exzess, zu Übertreibung und Maßlosigkeit sowie zur Fehleinschätzung eigener Kräfte und Fähigkeiten.“

Von all diesen lieblichen Eigenschaften ist in deutschen Selbstbeschreibungen nie die Rede. Die schärfste Selbstkritik begnügt sich mit dem Hinweis auf zwanghafte Ordnung und Pünktlichkeit.

Wenn Deutsche siegen, sind sie maßlos triumphierende Helden. Wenn sie unterliegen, baden sie in Selbstmitleid ob der Häme der anderen. Ihre Häme gegen andere nehmen sie nicht zur Kenntnis. Wer es wagt, ein Spiel Spiel zu nennen, muss sich den Vorwurf anhören, er hasse seine Nation. Kann man eine Nation ernst nehmen, deren Selbstbewusstsein am Boden zerstört ist, weil elf Dropskicker ein Spiel verloren haben?

Ein reicher Hamburger wurde gefragt, warum die Nation so verstört sei? Ihm persönlich gehe es kommod, sagte er, doch wenn er an seine Kinder und Enkel denke …! Ihm geht es also gut, wenn er seinen Liebsten sagen muss: ich weiß nicht, was aus euch werden wird? Ich fürchte das Schlimmste für euch, doch das lässt mich kalt? Jede Generation hat für sich selbst zu sorgen?

Es gibt tatsächlich Deutsche, die sich privilegiert fühlen, weil sie die goldenen Jahrzehnte erleben durften. Nicht ohne die unausgesprochene Botschaft: haben wir uns die goldenen Jahre nicht redlich verdient? Ihre schuldlosen Nachkommen hätten demnach das Gegenteil verdient? Das lässt sich an dünkelhaftem Hochmut nicht mehr überbieten.

Die deutsche Bewegung, in hohem Maße identisch mit der Konservativen Revolution, ist eine Bewegung des Nihilismus. Nietzsche ist ihr bewunderter Fahrensmann:

„Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Nothwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der an’s Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“ (Nietzsche)

„Der Nihilist sieht sich gerade deshalb als einzigen Gläubigen, weil er die Zerstörung in ihrem ganzen Umfang wahrzunehmen wagt. Der westeuropäische Nihilismus ist Ausdruck eines Überdrusses, wie er sich am verfeinerten und durchsichtig gewordenen Ende einer Kultur ergeben mag, wo alles schon einmal durchlebt, durchfühlt und durchdacht worden ist. Dazu gehören die französischen Philosophen des Ekels und des Absurden. Ganz anders der „russische“ Nihilismus, der ein Nihilismus der Fülle ist. Der deutsche Nihilismus steht zwischen dem französischen und russischen. Ernst Jünger: „Die Beschäftigung des Deutschen zu dieser Zeit ist die, von allen Ecken der Welt Material herbeizuschleppen, um den Brand zu nähren, den er unter seinen Begriffe gestiftet hat. So ist es denn kein Wunder, dass alles, was brennbar ist, in vollen Flammen steht.“

„Im Zusammenhang der Konservativen Revolution geht es um jenen bewusst zugreifenden, von sittlichem Verantwortungsgefühl erfüllten und den Durchgang durch die Zerstörung gläubig bejahenden Typus des Nihilisten, den wir den deutschen nennen. „In Zeiten der Krankheit, der Niederlage werden die Gifte zum Medikament.“ „Es ist ein Aufstand, der des Sprengstoffs bedarf, damit der Lebensraum leergefegt werde für eine neue Hierarchie.“ „Unsere Hoffnung ruht in den jungen Leuten, die an Temperaturerhöhung leiden, weil in ihnen der grüne Eiter des Ekels frisst“.

„Der innerste Kreis des Nihilismus ist der Glaube an die unbedingte Zerstörung, die in unbedingte Schöpfung umschlägt. Denn Fäulnis geschieht nicht im wesentlichen Kern … An das, was übrig bleibt ist unsere Hoffnung geknüpft.“ (Alle Nihilismuszitate aus Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932)

Zerstörung schlägt in Schöpfung um. Das bedeutet der Begriff „Umschlag“. „Der rasende Ablauf, in den sich die Neuzeit mehr und mehr gestürzt hat, kann nach Meinung der Nihilisten nicht durch Ausweichen oder Bremsen überwunden werden, sondern nur durch seine Steigerung und Übersteigerung – eine Übersteigerung, die zum Umschlagen führt.“

Der Nihilist will zerstören, um neu zu schaffen. Das Alte ist verbraucht, es lässt sich nicht mehr regenerieren. Es lässt sich nur vernichten – um aus dem Nichts eine neue Schöpfung zu kreieren. Das ist christlicher Glaube als geschichtsphilosophischer Nihilismus. Die Schöpfung aus Nichts muss ins Nichts zurückkehren, um sich total zu erneuern. Das ist der Kern jedes politischen Totalitarismus. Auch bei Marx. Die böse Welt muss durch sich selbst zerbersten, um eine neue wie durch Wunder zu gebären.

Nun kommt ein Gedankenkreis, der in der heutigen Seinsumnachtung völlig unterging. Und der daran erinnert, dass das Abendland aus zwei Ursprüngen besteht, die au fond unverträglich sind: der zyklischen Zeit der Griechen – und der linearen Heilsgeschichte der Christen. Der totalitäre Nihilismus will alles zerstören, um durch den Durchgang durch das Nichts Alles wiederzugewinnen. Das wäre der christliche Aspekt.

Doch die graecomanen Deutschen – vor dem Weltkrieg – hatten noch letzte unbewusste Ahnungen von der zyklischen Zeit. Ernst Jünger erahnt die zyklische Zeit unter all dem Rasen der Gegenwart, die sich überschlagen und selbst zerstören muss, um zur Ruhe zu kommen: „Es geht um das Heraustreten aus dem Ablauf der Zeit durch dessen Beschleunigung bis zu dem Punkte, wo das Surren der Motoren zur Stille wird, wo die sich überschlagende Gerade (der linearen Zeit) zu Kreis und Kugel zurückbiegt. Es scheint dieses Umschlagen für den Kykliker ein Vorgang zu sein, der von einzelnen Anhängern des „linearen“ Weltbildes immer wieder vollzogen wurde.“ Da der Kykliker die lineare Zeit als trügerischen Schein und Augentrug betrachtet, will er das kyklische Sein wieder herstellen und den Schein der linearen Heilsgeschichte vernichten. (Bei A. Mohler)

Wie überwand Nietzsche seinen anfänglichen Nihilismus? Durch den Glauben an die Wiederkehr aller Dinge. Der tief vergrabene Glaube an die zyklische Zeit der Griechen sollte hergestellt werden durch die apokalyptische Vernichtung der Heilsgeschichte.

Rousseaus Hoffnung eines Zurück zur Natur wird bei den deutschen Nihilisten zur totalitären Vernichtungs- und Erlösungspolitik. Die sado-masochistischen Verknüpfungen und „Kompromisse“ der griechischen und christlichen Strömungen enden in einer vulkanischen Explosion – die nach dem Krieg durch die christlichen Elemente der siegenden Westmächte wieder überdeckt wurde.

Was Hegel mit unendlich vielen dialektischen Nadelstichen zusammennähte, um beide Traditionen miteinander zu versöhnen, hielt der Realität nicht stand und sprengte unter Anhängern der Apokalypse, die vor keinen Verbrechen zurückscheuten, das ganze Abendland in die Luft. Die friedliche Sehnsucht nach der ruhigen Zeit der Natur war nicht stark genug. Der übermächtigen Tradition einer totalitären Apokalypse-Besessenheit musste sie sich beugen.

„Die Sprengung der linearen Zeit verändert für den Kykliker das, was wir Geschichte nennen.“ Für Mohler ist das Leitbild der Konservativen Revolution die Wiederkehr der zyklischen Zeit. Man könnte sagen: die deutschen Nihilisten sind auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Aber nicht, wie bei Marcel Proust, nach der verdrängten Zeit der Kindheit, sondern nach der verdrängten Zeit der zyklischen Griechen.

Für Mohler ist die Sehnsucht nach der zyklischen Zeit der Mittelpunkt der Konservativen Revolution. Versteht sich, dass die Kirchen sich nicht die Gelegenheit entgehen ließen, von der eschatologischen Heilslinie des Nationalsozialismus und ihrer eigenen Verstrickung in die Völkerverbrechen abzulenken und alle Schuld den „heidnischen“ Elementen der NS-Ideologie in die Schuhe zu schieben.

Bei den Griechen gab es bereits erste Tendenzen zu pessimistischen Geschichtsdeutungen – so bei Hesiod. Doch die Stoiker fingen dieses „ungriechische“ Lebensgefühl ein, indem sie ihre zyklische Naturzeit durch einen Weltenbrand gehen ließen – der aber nicht in einer Gesamtkatastrophe endete, sondern alles erneuerte, um den Kreis des Lebens von vorne zu beginnen.

Auch der platonische Urfaschismus – der sich später zu einem christlich-theokratischen Totalitarismus verschärfen sollte – war eine Ausnahme von der urgriechischen zyklischen Ewigkeit.

Die Nazi-Gelehrten interessierten sich nur für die klassische Schönheit der griechischen Skulpturen und Tempel und für die kriegerische Tapferkeit der Hellenen. Von einer Nähe zur humanen Polis Athens kann keine Rede sein. Fast alle deutschen Dichter und Denker ab dem 18. Jahrhundert – die Klassiker inbegriffen – waren keine Freunde von Solon, Perikles und Sokrates.

Was ist deutsch? Diese Frage ist eine historisch-biografische und keine normative. Sie hilft uns, die Deutschen besser zu verstehen. Alles verstehen aber heißt nicht, alles verzeihen.

Wichtiger wäre die Frage: Wohin sollten die Deutschen sich entwickeln, um einen friedlichen Beitrag zur Humanisierung der Welt zu leisten?

Wie sind die Deutschen? Sind sie aus ihrer sündenstolzen Rolle vorbildlicher Schüler der Demokratie herausgewachsen, um sich mit ihren Befreiern auf gleicher Augenhöhe zu treffen? Davon kann keine Rede sein. Cocteau hat es messerscharf formuliert:

„Amerika ist Amerika. Deutschland aber will Deutschland und außerdem noch Amerika sein.“

Erst wenn es Deutschland gelingt, seinen engsten Freunden im Westen furchtlos die Meinung zu sagen – und sagen zu lassen, kann es eine mündige Nation genannt werden.

 

Fortsetzung folgt.