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Umwälzung LXXVIII

Hello, Freunde der Umwälzung LXXVIII,

Kroosdeutschland ist wieder geboren. Kroosdeutschland ist wieder da. Kroosdeutschland ist immer Kroosdeutschland. Das kroosdeutsche Wunder. „Fußball ist ein simples Spiel. 22 Männer jagen 82 Minuten lang dem Ball hinterher, und den Kroosdeutschen wird ein Spieler herausgestellt, so dass 21 Männer 13 Minuten lang dem Ball hinterherjagen, und am Ende gewinnen die Kroosdeutschen irgendwie, verdammt.“ (SPIEGEL.de)

„Unsere kroosdeutsche Mannschaft war wie ein Schwimmer, der sich weiter und weiter vom rettenden Ufer entfernt. Und wenn wir ehrlich sind, dann waren wir bereits ertrunken. Als Toni Kroos sich den Ball zurechtlegte, dachten wir alle, dass das Schicksal besiegelt ist. In seinen Bewegungen ist nichts Hektisches zu sehen. Er wirkt wie ein Mensch, dessen Brücken abgebrochen sind. Es gibt keinen Weg zurück. Er ist allein. Er ist der letzte Leuchtturm. Er nimmt die Niederlage in Kauf. Und die Schmach. Toni Kroos ist ein Mann, der wenig lächelt, eigentlich ist er ein Mann mit einer Maske. (BILD.de)

16 Minuten war Deutschland schon ausgeschieden. Um letztendlich das Spiel in Unterzahl zu drehen. Der Mythos der nie aufgebenden Kroosdeutschen lebt wieder. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass alle Mannschaften jetzt alles dafür tun werden, uns solange wie möglich bei der WM aus dem Weg zu gehen.“ (BILD.de)

Gegen Kroosdeutschland will keiner spielen. Wenn die Kroosdeutschen in der Minderzahl sind, zurückgeblieben oder hoffnungslos unterlegen scheinen, kommen sie wie ein zu allem entschlossener Held, ja wie ein Leuchtturm aus der Tiefe des Raumes, regungs- und gefühllosen Gesichts, als trügen sie eherne Masken auf dem Heldenantlitz. Es führt kein Weg zurück, Alles oder Nichts, weder Niederlage noch

Schmach kann sie schrecken, sie folgen ihrem Schicksal, wohin es auch führt.

Oft schien es, als schliefe Kroosdeutschland wie der Kaiser in den Kyffhäusern, doch dann erwacht es wie aus schweren Träumen, schüttelt seine Löwenmähne und sein Gebrüll erschüttert die Welt.

Die Zurückgebliebenen und Letzten werden die Ersten sein. Die Verachteten und Gedemütigten werden den Sieg erringen. Auch jetzt sind sie die Letzten, auch wenn sie noch an der Spitze marschieren. Doch an der Spitze sind sie vereinsamt, die Horde der Verlierer rottet sich gegen sie zusammen. Ihre Heldin wird geschmäht, ihre Überlegenheit verhöhnt. Die Verbündeten ertragen es nicht, dass sie von einstigen Verlierern in den Schatten gestellt werden. Haben sie denn ihren Vorsprung, der ihnen jetzt zum Nachteil wird, nicht redlich verdient? Haben sie ihren deutschen Beruf nicht als Berufung verstanden?

„Wenn eine geschichtliche Leistung zustande kommen soll, so muss Aufgabe und Begnadung zusammentreffen. Daraus erst entsteht die Berufung. Wenn wir nach der Berufung der Deutschen fragen, die geschichtliche Krise Europas zu lösen, so handelt es sich um die äußere Berufung zur Aufgabe und zur inneren Berufung aus Begnadung. Es muss sich eine Nation groß und glänzend über die andere erheben, es muss eine Nation ihre Autorität über die andere festigen, es muss eine Nation ein imperiales Recht setzen und einen europäischen Nomos aufrichten. Wir sind Deutsche, gleichviel ob Minderheit oder Mehrheit, und als Deutsche sind wir die Ersten. Es geht nicht um Wirtschaft, sondern um die Vormacht der Deutschen. Nur ein von Deutschen geführtes Europa kann ein befriedetes Europa werden. Wir sind nicht andern gleich, sondern wir sind Deutsche. Wir werden zeigen, dass das Christentum seinem Wesen nach weder Moral noch Sittlichkeit ist. Vielmehr ist alle Moral nur verweltlichte Religion. Das weltliche Christentum ist daher schlechthin ein Gegenchristentum. Immer wieder – seit Augustin gegen Pelagius – hat sich die Kirche gegen die Moralisierung der Erlösungslehre wehren müssen. Auch die Reformatoren hatten gegen das moralisierende Missverständnis des Christentums zu kämpfen. Das deutsche Volk ist nicht eine Idee von Menschen, sondern eine Idee Gottes. Das Volk muss einem Entwicklungsgesetz folgen: das ist sein Schicksal.“ (Wilhelm Stapel, Der christliche Staatsmann, Eine Theologie des Nationalismus, 1932)

Der Beruf der Deutschen ist ihre Berufung. Wer aber hat sie gerufen?

„Wer den Schöpferwillen Gottes missachtet, verschließt sich seinem Gnadenwillen; und das Gnadengeheimnis der Kindschaft Gottes setzt die natürliche Volksgemeinschaft nicht als ein zufälliges und gleichgültiges Vorwort voraus, sondern ist seine Erhebung und Erfüllung. Eben darum aber – hierin glichen sich evangelische und katholische Denkfigur – bedurften Nationalsozialismus und Kirche einander. (zit: in Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich)

All diese Überzeugungen sind Früchte der Konservativen Revolution, die inzwischen wieder von CSU-Dobrindt den Deutschen gepredigt wird. Ungleichheit aller Völker, Überlegenheit der Deutschen und Verachtung der Demokratie: das ist der Kern der Konservativen Revolution. Ein führender Propagandist der Konservativen Revolution schrieb in den 20er Jahren:

„Im Politischen gibt es keine Wahl; jede Kultur und jedes einzelne Volk einer Kultur führt seine Geschäfte und erfüllt sein Schicksal in Formen, die mit ihm geboren und die dem Wesen nach unabänderlich sind. […] Wir brauchen die Befreiung von den Formen der englisch-französischen Demokratie. Wir haben eine eigene.“ (Oswald Spengler)

Die verhasste Demokratie war für Spengler Formlosigkeit in jedem Sinne als Prinzip“, Parlamentarismus war „verfassungsmäßige Anarchie“ und Republik nichts als „Verneinung jeder Art von Autorität“.

Auch der junge Thomas Mann bekannte sich in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zur Konservativen Revolution:

„Die Betrachtungen eines Unpolitischen lassen sich einer geistesgeschichtlichen Strömung zuordnen, die Konservative Revolution genannt wird. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Monarchie war vielen Intellektuellen die Idee gemeinsam, dass nur durch etwas revolutionär Neues die alten konservativen Ideale, die oft aus der Romantik und deren Abwehr gegen die französische Revolution herrührten, bewahrt werden könnten. Einig war man sich in der Ablehnung der Weimarer Republik. Thomas Mann verwandte sogar diese Formel als einer der ersten, ebenso den Begriff „drittes Reich“. In den Betrachtungen spricht er vom zukünftigen Volksstaat, den es zu verwirklichen gelte, der jenseits der westlichen Demokratie und des damit verbundenen Kapitalismus und jenseits des Sozialismus, wie er sich in Russland zu entwickeln im Begriff war, stehe. Mit den Betrachtungen will er die Sonderstellung Deutschlands zwischen Ost und West beweisen.“

Da wagt es ein Christdemokrat, sich zu den Feinden der Demokratie zu bekennen – und die Kanzlerin wirft diese Partei nicht auf der Stelle aus der Regierung? Wie pfiffig, gegen Populisten wüten zu dürfen, damit Parteifreunde ungeschoren davonkommen.  

„Der philanthropische Politiker also, angeblich so sehr um Menschenwürde besorgt, gerade er ist es, – und nicht etwa ein Ästhet – der mit Hilfe des Ehrenbegriffes „Menschlichkeit“ das Leben um allen Ernst, alle Würde, alle Schwere und Verantwortlichkeit zu bringen sucht, wie schon sein Verhältnis zur Justiz, zur Schuldfrage, zur Todesstrafe zeigt. Es handelt sich da im ganzen um eine moralische Verkitschung der Welt und des Lebens, der Geschmack abzugewinnen nicht jedermanns Sache ist und vor allem, finde ich, nicht Sache des Künstlers sein sollte: welcher nämlich das stärkste Interesse daran hat, daß dem Leben die schweren, todernsten Akzente nicht völlig abhanden kommen, und mit einer moralisch verschnittenen Welt nichts anzufangen wusste. Was als selbstverständlich in die Zivilisation eingegangen ist, wie der philanthropische Menschlichkeitsbegriff des 18. Jahrhunderts, sollte nicht länger als Kampfgeschrei herhalten müssen gegen alles, was ernst streng und lebensvoll über das Selbstverständliche hinausgeht – wie es eben mit dem Begriffe und Wortschall „Menschlichkeit“ jetzt sich zutrug und zuträgt, diesem mit allem Öle französischer Schönrednerei und angelsächsischen Cants (Heuchelei) gesalbten Lieblingsworts der rhetorischen Demokratie, womit sie ein in ernstem, schwerstem historischen Kampfe liegendes Volk tyrannisieren, entehren, besudeln zu können glaubt.“ (Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen)

Moral ist Verkitschung und Kastration der Welt. Heutige Amoralisten werden jauchzen. Womit die historische Ortung der moralfeindlichen Schlechtmenschenfraktion gelungen wäre: sie sind Abkömmlinge der antidemokratischen Konservativen Revolution. Wir werden mit Sicherheit annehmen können, dass Trump von Thomas Mann und der Konservativen Revolution noch nie ein Wort hörte – und dennoch gehört er dank seiner menschenfeindlichen Hochbegabung zu den Abkömmlingen der Konservativen Revolution.

„Das Gemeinste, was die Regierung Trump bisher zuwege gebracht hat, war aber das Auseinanderreißen von Familien an der südlichen Grenze. Kinder, auch Kleinkinder, wurden getrennt von ihren Eltern interniert, manche von ihnen in Käfigen. Sie bekamen Essen, sie bekamen Wasser, sie bekamen Medikamente; aber die Bewacher hatten die strikte Auflage, die Kinder nicht zu berühren. Auch nicht, um eine Zweijährige hochzuheben und zu trösten, die weint, weil sie ihre Mama braucht. Ein normaler Mensch kann sich ein solches Höllenszenario nicht ausdenken – dafür braucht es den Sadismus eines Donald Trump. Und die meisten Christen kämen nicht darauf, einen solchen Albtraum mit einem Zitat aus der Bibel zu rechtfertigen – dafür braucht es den Rassismus von Jeff Sessions, des Justizministers der Vereinigten Staaten.“ (WELT.de)

Klare Worte von Hannes Stein in der WELT, die sich sonst eher rühmt, liebevoll gegen Autos und ihre Erbauer zu sein (Poschardt). Nicht um moralischer Auto-Nomie willen, sondern zur Sicherung und Mehrung des Wohlstands der Deutschen. Wenn der ästhetische Ernst des Lebens, nach Thomas Mann, im Kampf um Leben und Tod, im Töten und Tötenlassen, im Demütigen und Beseitigen der Schwachen besteht, dann ist der amerikanische Präsident ein herausragender Künstler.

Nur in einem Punkt irrt Hannes Stein. Aus Jeff Sessions spricht kein platter Rassismus, sondern fundamentalistischer Glaube. Gott erwählt nicht nach Rassen, sondern aus unergründlicher Gnade. Eine andere Art der Bücherauslegung kann es gar nicht geben. Wer dem Inhalt einer Schrift nicht zustimmt, muss sich von ihr distanzieren. Dass Sessions aber den Paulustext von Römer 13 als Gesetz der USA betrachtet, ist mehr als Fundamentalismus. Das ist Theokratie, die langsam, aber sicher die Demokratie aushöhlt.

„Denn die Verfeinerung durch Leiden ist höher und menschlicher, als die durch Glück und Wohlleben, ich glaube daran.“ (Thomas Mann)

Für heldenhafte Deutsche gibt’s nichts Verwerflicheres als seichtes Glück. Faust will nie zum Augenblicke sagen: verweile doch, du bist so schön.

Thomas Mann bezieht sich auf drei Namen: auf Schopenhauer, Wagner und Nietzsche. Das ist eine Dreieinigkeit aus Hoffnungslosigkeit, daraus entspringender Erlösung durch Kunst und einer Herrenmoral, dem Gegenteil der Sklavenmoral:

„In der Sklavenmoral kommt nach Nietzsche das Mitleiden, die gefällige hilfsbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiß, die Demut, die Freundlichkeit zu Ehren. Die Sklavenmoral sei vor allem Nützlichkeits-Moral.“

Zurzeit entwickeln sich die Deutschen wieder zu Helden. Die englischen Krämer und Händler haben sie bereits über den Ärmelkanal nach Hause gejagt. Was sind deutsche Helden – oder Heroen?

„Das ist die Stellung der Heroen in der Weltgeschichte überhaupt; durch sie geht neue Welt auf.“ (Hegel)

Alles Neue in der Welt wird von Heroen erschaffen. Kleinvieh begnügt sich mit dem Immergleichen. Nur seltsam, dass die Krämer zu Helden der sich ewig verändernden Bedürfnisse und Produkte der Moderne geworden sind. Oder: gerade die Krämer wurden zu Heroen des Turbokapitalismus. Denn ohne Wagnis und Risiko läuft nichts.

Thomas Mann, konservativer Revolutionär, war 1914 ein Kriegsbegeisterter. Nach einer langen Nachkriegs-Friedensphase ist heute wieder der Krieg ausgebrochen. Der Wirtschaftskrieg. Sollte der Wirtschaftskrieg den Krieg mit Waffen verhindern, wäre es trotz aller unabsehbaren Folgen ein Fortschritt der Menschheit.

Den Krieg erlebte Thomas Mann „als Reinigung, Befreiung“ und als „ungeheure Hoffnung, der grässlichen Welt des Frieden zu entfliehen“. „Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte!“

Helden sorgen für eine tabula rasa, für eine reine Leinwand, damit sie ihre kühnen Entwürfe unbefleckt von der Vergangenheit realisieren können.

Die Deutschen hatten eine hochstehende künstlerische Kultur, der Westen eine platte konsumierende Zivilisation. Heute hat Deutschland seine Kultur abgestoßen und die niedrige Zivilisation des Westens übernommen – und dennoch fühlen sich die Deutschen dem Westen noch immer überlegen.

Wie unaufgeklärt und biblizistisch sind die Amerikaner, wenn sie die Heilige Schrift wörtlich verstehen. Kunststück, hatten sie doch keinerlei historisch-kritische Tradition der Bibelauslegung. Den Buchstaben verstehen sie in seiner platten Bedeutung. Die Deutschen hingegen verfügen über den Zauberstab einer beliebig wandelbaren Hermeneutik. Was sie der Bibel entnehmen wollen, das legen sie geschickt in sie hinein. In dieser Hinsicht sind fromme Amerikaner naiver und ehrlicher. Sie verachten die Anpassung der Deutschen an Aufklärung und universelle Moral als heidnischen Rückfall.

Für Thomas Mann war Kultur ein Reich für sich, oberhalb und unabhängig von aller Politik. Wer sich mit Politik einlässt, verunreinigt sich. Politik verwandelt die kulturelle Gesellschaft in den „geistlosen Zustand der Barbarei.“

„Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht. Deutschtum, das ist Kultur, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht und Literatur.“

Die Bewertung von Kultur und Zivilisation in deutschen Redaktionsstuben hat sich scheinbar auf den Kopf gestellt. Zuerst Politik und nationalistischer Sport, dann Wirtschaft. Kultur ist zum Pflichtfach für extraordinäre Ästheten geworden. Dennoch hat Politik seine Minderwertigkeit nicht verloren. Edelschreiber betrachten sie von einem objektiven Überstandpunkt, weit weg von aller subjektiven Parteinahme und moralischen Leidenschaft. Gut und Böse sind für sie Unterschiede von Kleinhirnen.

Mit solchen Alfanzereien geben sich Bewohner höherer Sphären nicht ab. Frank Plasberg will nicht die Demokratie heilen. Seine Betätigung als Moderator scheint er als reißerische Even-Ästhetik zu betrachten. Christopher Lauer, Ex-Pirat, bestätigt in einem ZEIT-Artikel aus eigener Erfahrung, dass politische Talkshows nicht auf Wahrheitssuche, sondern auf rhetorische Arena-Kompetenzen aus seien:

„Wären die sogenannten politischen Talkshows Unterhaltungssendungen, dann könnte ich eine solche Bewertung durch die Gastgeber noch nachvollziehen. Bei Menschen, die sich als politische Journalistinnen und Journalisten verstehen, lösen solche Urteile bei mir jedoch Irritationen aus. Sie reduzieren politische Akteure auf Darsteller in einer Show, bewerten nicht nach den Inhalten, sondern nur nach der Performanz.“ (ZEIT.de)

Politik ist nur scheinbar wichtiger geworden. Selbst Parteitage entscheiden über Führer und Vordenker nur aufgrund ihrer affektiven Bezirzungskompetenzen. Merkel wurde so gut wie nie nach dem Inhalt ihrer Reden, sondern nach ihrer kollektiv-therapeutischen Palliativwirkung bewertet. Sie gibt sich gelassen, nüchtern, gleichbleibend freundlich: die Fassade ihrer Darstellung ist entscheidend. Was sie inhaltlich sagt, fällt unter die Rubrik: Worte, Worte, nichts als Worte.

Die Medien stehen noch immer unter den Spätfolgen des deutschen Unterschieds von Kultur und Zivilisation. Zwar muss Politik pflichtgemäß wichtiger sein als alles andere, durch Aushöhlung des Wortes aber ist sie zum inhaltsleeren Klamauk geworden.

Ästhetik, Kunst des Scheins, ist zur höchsten Disziplin der deutschen Hoch-Kultur avanciert – die verkommen ist zur weißen Geräusch-Zivilisation. In der frühen Nachkriegszeit galt Amerika, das große demokratische Vorbild, als lächerlicher Effekthascherei-Kapitalismus. Das öffentliche Leben war eine Dauerarena, in der nur die Schauspielkunst der Matadore bewertet wurde. Schon längst hat Deutschland seine altdeutsche Kulturüberlegenheit an den Nagel gehängt und ist übergelaufen zum amerikanischen Schaulaufen.

Wenn Merkel in einer jordanischen Schule den Kindern lustig die Zunge rausstreckt, ist dies für hiesige Gazetten wichtiger als ihre Aussagen über das Elend der Flüchtlinge.

Die Eliten verstehen sich – in dauerallergischer Abgrenzung gegen den Pöbel, die Massen – noch immer als höchsten Stand mit der Ausstrahlung von Helden. Nein, den Begriff selbst würden sie ablehnen, aber die Definition ihrer risikobereiten, alles-riskierenden, kühnen und neuigkeitstrunkenen Abenteurerkunst ist nichts anderes als – Heroentum. Amerika lässt sich in dieser Erwähltheitsaura von niemandem übertreffen. Der Springerverlag lässt regelmäßig Superheroes der amerikanischen Erfindungskunst nach Deutschland einfliegen, um den Deutschen die Leviten zu lesen.

„Das Silicon Valley ist Startup-Deutschland weit voraus. Das Problem, so Thiel, sei eher ein kulturelles: Es gebe einen «tiefverwurzelten Pessimismus», es werde nicht gerne gesehen, «wenn jemand extrem ehrgeizig ist oder große und drastische Veränderungen durchsetzen will». Er ist überzeugt: «Deutschland ist wohl das Land, in dem die größte Lücke zwischen Realität und Potenzial klafft.»“ (GRÜNDERSZENE.de)

Insgeheim versteht sich Deutschland noch immer als Reich des kulturgesättigten Geistes, der sich nicht von heut auf morgen ändert. Wohl ist er nicht mehr zeitlos wie im alten Griechenland, doch so hektisch wie im mammonbesessenen Amerika: nein, das könne auch nicht sein.

In Deutschland gilt Bildung als Allheilmittel für Aufstiegsorientierte. In Amerika hingegen muss man an seine Träume glauben, die notwendigen Durchsetzungs-Ellenbogen besitzen und vor allem: Gott vertrauen. In Deutschland wagt es – noch – niemand, Gott im Zusammenhang mit Reichsein zu nennen.

Für Ernst Jünger ist ein Held, wer „die beinahe göttliche Stufe der Vollkommenheit erreicht hat, die selbstlose Hingabe an ein Ideal bis zum Opfertode.“ Selbstlos? Das würde kein Amerikaner verstehen. Vollkommenheit ist ein qualitativer Begriff und hat im Bereich grenzenlos-quantitativer Reichtümer nichts zu suchen.

Eher würden sich die Eliten von heute im Heldenbegriff von Karl Jaspers wiedererkennen. Für Jaspers war Heldentum „die Kraft des Aufsichselbstbestehens im Widerstand gegen die Übermacht der ungreifbaren Masse, gegen diesen Despoten, der still und unmerklich vernichtet.“

Jaspers war kein Freund der Demokratie. Das Volk war Masse für ihn, welche Herrschaft ablehne und keine Werte kenne außer jenen, „die der Eine dem Anderen jeweils abschaut.“ (ZEIT.de)

Ob bewusst oder nicht, wiederholt Jaspers die heroische Aristokratenideologie jener Griechen, die im Naturrecht der Starken die Schwachen an die Leine legen wollten. Für Gorgias, der lange vor Nietzsche den Willen zur Macht erfand, war es ein Naturgesetz, dass „nicht das Stärkere von dem Schwächeren gehindert, sondern das Schwächere von dem Stärkeren beherrscht und geführt werde, dass das Stärkere vorangehe und das Schwächere folge.“

Keine elitäre Denkfabrik würde sich heute trauen, mit dieser schneidenden Klarheit ihren Führungsanspruch anzumelden. Führungsklassen bevorzugen das unbemerkte Konditionieren mit angeblich gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen: die Vorgänge in Wirtschaft und Politik seien zu komplex, um vom einfachen Mann auf der Straße verstanden zu werden. Doch merkwürdig: wenn‘s zu Krisen kommt, sind immer die unterkomplexen Straßenwesen daran schuld. Hartz4 wurde verhängt, weil es drei Faulenzer in der BRD gegeben haben soll, die das gesamte Wirtschaftsgefüge der Republik zum Entgleisen brachten.

Regelmäßig fordern selbst linke Journalisten, den Volkseffekt der Demokratie zu minimieren. Volksbefragungen? Hätten sie nicht oft genug bewiesen, dass das Volk falsch abgestimmt habe? Habe sich das Volk durch seine Wahl Trumps nicht selbst geschadet?

Falsch: ihre Interessen waren vor allem emotionaler Natur. Sie wollten einen Oberen, der allen Freunden heidnischer Menschenrechte (und somit Gegnern biblischer Werte) das Fracksausen lehren sollte. Das ist mit Trump gelungen. Wirtschaftliche Nachteile müsse man im Rachefeldzug gegen Gottlose und Internationalisten in Kauf nehmen. Das irdische Leben ist ein Opfergang.

Volksbefragung in Sachen Europa, in Sachen Todesstrafe? Immer werden Tatsachen angeführt, die die demokratische Inkompetenz der Massen zeigen sollen. Dass sich die Meinungen der Völker ändern, die Positionen der Oberen auch nicht das Gelbe vom Ei sind, wird nicht zur Kenntnis genommen. Vor allem: wie kann das machtlose Volk die größte Schuld tragen an desaströsen Fehlleistungen, die nur von Mächtigen begangen sein können?

In Schuldfragen sind Medien schnell auf der Seite der Mächtigen, stets bereit, das Volk zusammenzustauchen – zu dem sie natürlich nie gehören.

Für Werner Sombart waren Engländer Krämerseelen ohne heldenhaften Mumm, weil sie eine Philosophie als Grundlage ihres Kapitalismus wählten, die im Land der Dichter und Denker nur mit Verachtung kommentiert wurde. Die Devise des „Utilitarismus“ (der Nützlichkeitsideologie) lautete schlicht: Sei tugendhaft, so wirst du glücklich. Es ist die Philosophie des gesunden Menschenverstandes. Frage immer, was dir nützlich ist, dann wirst du ein tugendhaftes, also glückliches Leben führen. Diese Lehre nannten sie die Stimme der Vernunft.

Hier bebten die deutschen Helden vor höhnischer Überlegenheit. Vernunft? Für Gefühl- und Phantasielose. Tugend und Moral? Für lächerliche Spießer. Deutsche Helden waren Genies, die ihrer inneren Offenbarung folgten. Die Tod und Teufel riskierten, um diese Offenbarungen in heldenhafte Taten umzusetzen. Die einen Pakt mit Mephisto schlossen und abenteuerliche Wetten abschlossen. Welch aparte Konstellation, dass heutige Teufelsakteure eine vernünftig scheinende, nüchterne und bescheiden auftretende Kanzlerin als Leiterin des Ganzen bevorzugen. Ihre Nerven sind bereits so angespannt, dass sie Mutter Merkel als Nervenberuhigungsmittel dringend benötigen.

Doch Vorsicht: der gesunde Menschenverstand mit einem disziplinierten methodischen Leben war – kapitalistische Frühzeit. Schnee von gestern. Heute sind alle Methoden erlaubt, und wenn sie noch so verrückt erscheinen. Nur Erfolg ist wichtig. Ob Start-up-Genies nüchtern sind wie Bill Gates oder scheinbare Harakiri-Aktionen bevorzugen: wichtig ist nur der finale Erfolg.

Und der ist nur begrenzt planbar. Entscheidend ist die Tollkühnheit, alles auf eine Karte zu setzen. Das Unmögliche muss gewagt werden, um das Außerordentliche zu erreichen. Zeit und Zufall entscheiden – nach Hayek – über Erfolg und Misserfolg, keine rationalen Methoden der Vernunft. Freilich: Zeit und Zufall stehen in Gottes Hand.

Kanzlerin Merkel scheint sich in einer ähnlichen Situation zu befinden wie Kroos, der Held Deutschlands, als er sich in schicksalhafter Einsamkeit zur Rettung Deutschland entschloss. BILD schreibt schon apokalyptisch von der „Endzeit“ Merkels. Ihr Stern sinkt in rasender Schnelle.

Selbst mit Frankreich gelingt kein cordon sanitaire. Italien, Gründungsmitglied der EWG, hasst Merkels Dominaverhalten nicht weniger als die Vishegradstaaten. Ihre engsten Verbündeten und Parteifreunde sind ihre aggressivsten Gegner. In den folgenden Tagen muss sie den Ball auf den entscheidenden Punkt legen und Anlauf nehmen. Wird sie sich wieder mit einem erbärmlichen Kompromiss über die Runden retten – oder in einsamer Heldinnenpose untergehen, um das Vaterland mit einer kühnen Tat aus dem Schlamassel zu retten?

Der junge Thomas Mann änderte seine antidemokratische Grundhaltung in den 20er Jahren und wandelte sich zum vorbildlichen Widerständler gegen das Hitlerregime, der später nach Amerika flüchtete, um von dort an seine deutschen Landsleute mit Radioansprachen zur Einsicht und Umkehr zu appellieren. 1922 bekannte er sich in seiner Rede: „Von deutscher Republik“ zur neuen Ordnung der Weimarer Republik.

Und dennoch verstand er sich nach wie vor als Konservativer. In seinem Vortrag beteuerte er gegen Kritiker von rechts: „Ich weiß von keiner Sinnesänderung. Ich habe vielleicht meine Gedanken geändert, – nicht meinen Sinn.“

So schlängelt sich Deutschland durchs Gestrüpp der Widersprüche und Zeiten. Für die dialektischen Weltmeister gilt vor allem: nur nicht klar werden. Alles offen lassen. Niemand weiß, was kommen wird. Lieber rot als tot. Wer wird denn heldenhaft untergehen wollen?


Fortsetzung folgt.