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Umwälzung LXXIII

Hello, Freunde der Umwälzung LXXIII,

ein Gleichnis von der verlorenen Tochter – undenkbar in einem Buch männlicher Erlöser und Erlöster. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn war für Adolf von Harnack das Zentrum christlichen Glaubens.

Politische Patriarchen zelebrieren in zunehmendem Maß Geschichten des Heiligen.

„Da schlug er in sich und sprach: Wie viel Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir und bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, lief und fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße. Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringet das beste Kleid hervor und tut es ihm an, und gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße, und bringet ein gemästet Kalb her und schlachtet’s; lasset uns essen und fröhlich sein! denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an fröhlich zu sein.
Aber der älteste Sohn war auf dem Felde. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er das Gesänge und den Reigen; und er rief zu sich der Knechte einen und fragte, was das wäre. Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat ein gemästet Kalb geschlachtet, daß er ihn gesund wieder hat. Da ward er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. Er aber antwortete und sprach zum Vater: Siehe, so viel Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, daß ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der sein Gut mit Huren verschlungen hat, hast du ihm ein

gemästet Kalb geschlachtet.“

Nach dem fröhlichen Gipfel von Singapur hatten Macron & Merkel bei Trump angerufen und sich bitter bei ihm beschwert: Uns hast du in Kanada vor aller Welt gedemütigt, deinen treuen Nachbarn Justin gar in die Hölle geschickt. Diesen stalinistischen Massenmörder aber herzt du vor aller Welt, als hättest du einen verlorenen Sohn wiedergefunden. Nein, uns geht es ausnahmsweise nicht um Zölle und Weltwirtschaft. Ja, auch wir haben Seelen. Mit uns feierst du nie fröhliche Feste. Dieses kleine und fette Monstrum aber trägst du auf Händen.

Wer es schafft, durch Gnade und Ungnade die Menschen in zwei Klassen zu unterteilen, der hat es geschafft: er ist zum Vater der Welt geworden. Dabei geht es nicht nur um Gunst und Ungunst. Es geht um Tod und Leben.

Es ist nicht die Mutter: der Vater erweckt die Kinder zum Leben. Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden. Frauen bringen nur biologische Kümmer-Kreaturen zur Welt, Väter erst erwecken sie zum wahren Leben. In Singapur erlebte der gottlose Kim seine westliche Taufe. Er wurde aufgenommen in die Gemeinde der Heiligen. Allein durch Order des Vaters; die Geschwister wurden nicht gefragt.

Was ist eine väterliche Religion? Dass die dunklen und verworrenen Zeiten der Mütter endlich vorbei sind, in denen es hieß: pater semper incertus, der Vater ist immer unsicher. Ab jetzt war es sicher: nur Väter schaffen und erzeugen das Leben. Was bedeutet die Anrede: Vater unser? Luthers Antwort: „Gott will uns damit locken, dass wir glauben sollen, er sei unserer rechter Vater und wir seine rechten Kinder.“

Das biologische Kind der Frau wird ertränkt, um es im Quell des Lebens wahrhaft zur Welt zu bringen. Das war der primäre Paukenschlag des Geschlechterkampfes. Seitdem hat die Religion des väterlichen Erlösers als westliche Moderne die Welt erobert. Könnte man sich vorstellen, dass Melania Trump eine Show betreibt wie ihr Mann bei G7, um danach die Frau des nordkoreanischen Diktators wie ein missratenes Kind zu hätscheln und zu tätscheln, weil es auf den rechten Weg zurückgefunden hat?  

„Das älteste Dokument patriarchalischer Ideologie ist das Enuma elish, ein sumerisches Epos, vermutlich aus den Jahren um 1350 vdZ. Bis zu diesem Werk war die Mythologie von mächtigen weiblichen Göttinnen beherrscht. Im Enuma elish erlangt Gott Marduk nach einer vollkommenen Unterwerfung der Frau die absolute Macht. Er vernichtet Tiamat, die Urmutter und Schöpferin aller Dinge, die zum Prinzip des Chaos und der Untätigkeit degradiert wurde.“

Enuma elish gilt bis heute: Frauen kommen nicht in den Vorstand, weil sie nichts bringen, durch Gebären die Welt des Kindes der hohen Männerwelt vorziehen. Seit Eva waren Frauen an allem Elend der Welt schuld. Die schuldige Rolle der Frauen hat sich inzwischen ausgeweitet auf ausgebeutete Länder, einheimische Parasiten, verantwortungslose Arme, technische Ignoranten, engstirnige Moralisten und sonstige Überflüssige.

Alleinstehende Mütter sind die Ärmsten der Armen. Als Hartz4-Empfänger wird ihnen das Kindergeld verweigert, das ihnen von Rechts wegen zustünde. Gutverdienende hingegen erhalten ihren Gebärbonus. Durch Bestrafung der Schwächsten spart der kinderliebende und fürsorgliche Staat Milliarden, mit denen er seine Armee aufrüsten kann, damit der amerikanische Vater der Welt der Kanzlerin den Handschlag nicht erneut verweigert.

„Die Frauen, die die Menschheit hätten bessern können, wurden von jenen daran gehindert, die es vorzogen, Dampfmaschinen zu verbessern. Das westliche Patriarchat entwickelte eine Kultur, die auf Gewinnsucht, Aggression und Rangordnungen fußte.“ (Harriet Stanton Blatch)

Das männliche Machtprinzip ist Spalten. Teile und herrsche. Der verkommene reuige Sohn wird dem pflichtbewussten Moralisten, das verlorene Schaf allen gehorsamen Schafen vorgezogen.

„Im Himmel wird mehr Freude sein über einen Sünder denn über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“

Das war die Enthauptung des mündigen Menschen, der den Anspruch erhob, aus eigener Kraft die moralischen Gesetze einzuhalten. Kein Geringerer als der Erlöser übergab den selbstbewussten autonomen Menschen der Ächtung und Höllenstrafe.

Die Gutmenschen jener Zeit waren die Juden – die „Pharisäer und Schriftgelehrten“ –, die überzeugt waren, die Bedingungen des Bundes mit Gott selbst erfüllen zu können. Eine wesentliche Ursache des späteren Antisemitismus war die christliche Verachtung der „hochmütigen Juden“, die auf die Gnadenwirkungen des Höchsten glaubten, verzichten zu können.

Der heutige Hass der Christen gegen Moralisten entstammt noch immer ihrer Ablehnung der jüdischen Vermessenheit, mit Jahwe auf gleicher Augenhöhe einen Vertrag zu schließen. Erst nach der babylonischen Gefangenschaft und mit Entstehung des Prophetentums schlich sich die Gnade in das jüdische Denken, das sich allmählich in die christliche Reformbewegung verwandelte.

Die Bevorzugung des einzigen Versagers vor den vielen, die der Buße nicht bedurften, war eine ungewollte, versteckte Anerkennung der vielen moralisch Tüchtigen. Dieser moralisch leistungsfähigen Majorität musste der Stachel gezogen werden, damit der Gnadengott zum Erlöser der Welt avancieren konnte.

Die Prophetie war eine scharfe Anklage gegen den Frühkapitalismus jener Zeit. Fast jede Religion beginnt als berechtigte soziale Reformbewegung. Entweder wird sie politisch, wenn die Menschen sich stark genug fühlen, die Reform aus eigenen Kräften durchzuführen. Oder sie wird transzendent, wenn sie aus Schwäche alles in die Hände eines Gottes legt.

Das war die Tragik des Christentums, aus berechtigter Empörung gegen politische Missstände entstanden zu sein, sich aber das Heft des Handelns von oberen Mächten aus der Hand nehmen zu lassen. Aus Empörung wird Religion, die jede Empörung zur sozialen Folgenlosigkeit verurteilt und alle Energien des Menschen in den Himmel ableitet.

Berechtigte Kritik an einzelnen Punkten wird zur Gesamtverurteilung von Mensch und Natur. Stellvertreter des Himmels übernehmen das Kommando und verurteilen die Menschen vollends zur flehentlichen Passivität. Der Himmel, Zufluchtsort der Verdammten, wird zum Feind der Erde – und damit zum Feind aller Menschen. Nur diejenigen entgehen der Feindschaft, die sein Gnadenangebot nicht zurückweisen.

Warum gelang es dem Christentum, die Welt zu erobern? Weil es das Elend der Schwachen und Ausgebeuteten ernst nahm und ihnen eine vollkommene Gegenwelt versprach – deren Struktur die irdische Welt auf den Kopf zu stellen schien, sie letztlich aber nur bestätigte, indem sie irdische Macht mit überirdischer bezwingen wollte.

Am Anfang war christliche Rebellion eine vollständige Umdrehung aller irdischen Werte – am Ende aber wurde die Gegen-Macht gegen die Welt zur Allmacht einer Gegenwelt, der es gelang, die marode Welt durch fanatische Entschlossenheit zu überrennen und in die Hand der Priester zu legen. Die fromme Gegenwelt wurde zur allmächtigen Überwelt, die keineswegs alle Macht verachtete, sondern alles Irdische der Vollmacht des Göttlichen unterwarf.

Die kapitalismuskritische Empörung endete als Bankrotterklärung vor den ungerechten Verhältnissen der Welt und als Flucht in die Innerlichkeit. Als der Leidensfuror der Christen die Welt in die Knie gezwungen hatte, etablierten die Priester ihre jenseitig verankerte Übermacht als diesseitige Oberherrschaft über die Welt. Aus irdischen Stechmücken war ein Jenseitskoloss auf Erden entstanden, der alle natürliche Spontaneität zur Sünde erklärte und den Menschen jedwede Sinnenlust und selbständiges Denken mit himmlischen Ruten austrieb. Die konstantinische Staatswerdung der Kirche war kein Sündenfall, sondern die Entlarvung einer irdischen Gegenmacht als Omnipotenz über die Welt.

Würde man christliche Glaubenslehre als politische Agenda formulieren, müsste man sagen: kritisiere die Welt, verlege den Erfüllungsort deiner Kritik ins unüberprüfbare und unerreichbare Jenseits, in das du scheinbar flüchtest, um die sieche widerstandslos gewordene Welt zu übernehmen, indem du die imaginäre Gegenwelt als reale Allmacht über die Welt stülpst.

Dieses vertrackte Abrakadabra schützt dich nach allen Seiten. Wird dir vorgeworfen, du möchtest die irdische Macht stürzen, um eine Gegenmacht zu etablieren, kannst du sagen: ich gebe dem Kaiser, was des Kaisers ist. Unser Reich ist nicht von dieser Welt, unserer zukünftigen eilen wir entgegen.

Wird dir vorgeworfen, du machest nur Scheinkritik, in Wirklichkeit aber lässt du alles unverändert, kannst du sagen: kein Stein wird auf dem anderen bleiben, wenn der Herr kommt und das Regiment über die Welt übernimmt. Das Alte wird vergehen, das Neue alles anders machen.

Wer zwei Welten zur Verfügung hat, kann nach Belieben von der einen in die andere flüchten. Der Glaube kann sich als bloße Innerlichkeit oder als knallharte Politik ausgeben. Man wird ja wohl noch seines Glaubens leben dürfen, man wird sich ja wohl noch aus Glaubensgründen in die Politik einmischen dürfen: jede erdenkbare Taktik einer leidenden und siegreichen Kirche darf eingesetzt werden, um die Torheit der Welt mit der Weisheit Gottes zu überlisten. Hegels List der Vernunft war ein Schatten der List Gottes, mit der er den Ränkespielen des Teufels begegnet.

Da der Urprotest gegen die ungerechte kapitalistische Welt ohne Gerechtigkeit unmöglich ist, die göttliche Überwelt zugleich aber eine totalitäre sein muss, besteht die Heilige Schrift aus zwei Moralen: einer humanistisch klingenden Sozialmoral – und einer Moral nach dem Motto: Gottes Allmacht ist Recht, basta.

In irdischen Begriffen: die Bibel besteht aus dem Naturrecht der Schwachen und dem Naturrecht der Starken. Zwei Moralsystemen, die antagonistischer nicht sein könnten. Wir sprechen von moralischer Antinomie, die biblische Worte für alle Gelegenheiten – und deren Widersprüche bereithält.

Für soziale Rebellen, die sich schwach fühlen gegen die Mächtigen der Welt, ist das willkürliche Moralsystem eine Wunderwaffe, um die Gegner mit der Macht des beliebigen Wortes zu schlagen. Das verelendete und ungebildete Volk hatte noch keine Kriterien, um seinen eigenen Glauben zu überprüfen. Die Berufung auf die Allzweckwaffe der Offenbarung wirkte auf Dauer wie ein Zaubermittel gegen die Unvernunft einer brutalen Obrigkeit.

Die aus Griechenland gekommene Logik der Vernunft wirkte nur durch Argumente, deren Veränderungskraft viel Zeit benötigte, um die Menschen zu überzeugen und die neue Überzeugung in Politik umzusetzen. Solche langfristigen Perspektiven überforderten die Geduld der Verelendeten. Sie wollten Veränderung hier und jetzt, also brauchten sie Hilfe, der alles zu Gebote stand: göttliche Autorität und aggressive Über- oder Gegenvernunft. Sanftmut und religiöse Raserei, Nächstenliebe als totalitäre Zwangsbeglückung, Appell an Gerechtigkeit und Bedrohung mit göttlicher Vergeltung, die nur wenigen eine Chance gibt und die Allzuvielen dem Teufel übergibt: das werden die Instrumente einer unschlagbaren Kirche.

Angst und Schrecken vor dem Ewigen und Unkorrigierbaren waren das rechte Treibmittel, um auch die Unentschlossenen jeder irdischen Vernunft abspenstig zu machen. Die Verängstigten konnte man stärken, die allzu Selbstsicheren konnte man einschüchtern. Das Evangelium wurde zur Wunderwaffe in der Hand von Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten und nur noch gewinnen konnten.

Marxens Lehre war nur ein dünner Aufguss dieser christlichen Allzweckwaffe. Der Prolet konnte sich als furchterregender Revoluzzer auf der Couch fühlen, der auf den Anruf der Geschichte zu warten hatte, die ihm verkündigen würde: Jetzt ist Kairos. Jetzt kannst du loslegen, denn Ich, die allmächtige Geschichte, bin auf deiner Seite. Auf dein eigenes Denken kannst du dich nicht verlassen, denn Ich denke für euch alle. Deine moralische Autonomie kannst du ad acta legen, denn ich verkörpere die wechselnde Moral der Geschichte – bis zum Reich der Freiheit, wo moralisch nichts mehr entschieden werden muss, denn alles wird moralisch perfekt sein.

Zwei bad guys beherrschen die politische Agenda der Welt. Der eine ist noch immer der mächtigste Mann der Welt, der sich in dem anderen bad guy erkennt und ihn als zurückgekehrten verlorenen Sohn adoptiert, um seinen westlichen Verbündeten, die er als Heuchler empfindet, einen Hieb zu versetzen. Er spaltet die Welt in Gerechte, die er immer mehr hasst, und in Ausgestoßene, in denen er sich in hohem Maße wiedererkennt. Also muss er sich zum Vater der Welt aufschwingen und sich des verlorenen Sohnes annehmen, um die Vernünftigen und Gerechten zu düpieren. Das ist ihm gelungen.

Die westlichen Moralheuchler müssen sich nun fragen: Sollte es wahr sein, dass bad guys mehr erreichen als die Korrekten? Dass man mit Bösem mehr Gutes erreichen kann als mit Gutem?

Gerade für Deutsche eine verrückte Frage. Zeigt es doch, dass ihre deutsche Bildung von deutscher Kultur so viel versteht wie von der chinesischen: nämlich nichts. Wessen Bildungsidol behauptete von sich: Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft? Wessen Gott hatte in die Welt posaunt: Ich schaffe das Heil und schaffe das Unheil, ich bin’s, der Herr, der dies alles wirkt? Stimmten nicht alle deutschen Philosophen, selbst Aufklärer, darin überein, dass nicht das langweilige Gute, sondern das ätzende und aggressive Böse die Dinge der Welt zum Fortschritt anstachelt?

Deutsche wollen partout keine Moralisten sein, sondern ausgebuffte Interessen-Machiavellisten. Wenn andere allerdings sich ungeniert zu diesem Machiavellismus bekennen – beginnt ein moralischer Aufschrei im heiligen Germanien.

Merke: nur wir dürfen unmoralisch sein. Alle anderen haben sich an Anstand und Moral zu halten. Nur wir sind fähig, dem Teufel in den Rachen zu greifen, ohne dass er uns die Hand abbeißt. Das Böse ist unser liebstes Spielzeug, das wir nach Belieben bändigen. Wie Faust sind wir es gewohnt, Mephisto als Sparringspartner zu nutzen, ohne dass er die geringste Chance hätte, uns seines Weges zu führen.

Um diese uralte und versteinerte Doppelmoral aufzubrechen, kommt Trump wie gerufen. Er zerstört die Vexierspiele aus beliebigem Guten und Bösen, indem er mimt, was er ist: ein Mephisto, der den edlen Faust auflaufen lässt. Mit dem Selbstbewusstsein eines Selfmademan, der sich identisch fühlt mit der biblischen Tradition seines Landes, spielt er nicht nur den Bösen, er ist es – aber im Auftrag eines Allerhöchsten. Er fühlt sich berufen, die verlorene Vormacht seines Landes zurückzuerobern, indem er der Welt den Luther gibt: sündige tapfer, aber glaube. Verlass dich nicht auf deine Werke, sondern verlass dich auf meine höhere Vernunft, die die Vernunft der Menschen ad absurdum führt.

Trump therapiert die Welt mit paradoxen Interventionen. Dem Lebensmüden auf dem Dach ruft er zu: spring, Feigling, du traust dich ja gar nicht, dir den Hals zu brechen. Und siehe: Kim, schon lange begierig, in der großen Welt eine Rolle zu spielen, nicht länger in seinem goldenen Gefängnis auszuharren, sieht seine Chance – und ergreift die plötzlich ausgestreckte Hand des Provokateurs, der selbst ein charismatisches Wunder benötigt, um es der Welt zu zeigen. Wie der Herr seine messianischen Fähigkeiten andeutete, indem er Wasser in Wein verwandelte, so verwandelt Trump einen Giftzwerg in einen umgänglichen jungen Mann, der den ehemaligen Feind hocherfreut als gütige Vaterfigur akzepiert.  

Womit die Deutschen nicht mehr rechnen, sind Politiker, die sich von Gott getrieben fühlen. Dazu gehört auch ihre Kanzlerin, die kaum anders amoralisch agiert als der transatlantische Bösewicht. Ihr Darstellungsmodus ist nur ein anderer. Sie ist noch auf der Stufe der leidenden Kirche, die der Welt die Umwertung aller Welt vorgaukelt, gleichzeitig die darwinistischen Werte der Welt in frommer Unbefangenheit exekutiert. Das kann sie sich erlauben, denn sie muss nichts erklären. Die Deutschen brauchen ihre narkotische Wirkung und wollen ihr gar nicht auf die bigotte Spur kommen. Sie müssten sie ja Hals über Kopf aus dem Kanzleramt jagen. Das ginge zu weit und würde nur den Kirchenschlaf der Gerechten stören – die selbst so gern mit dem Abgrund kokettieren.

Zwei Bösewichte haben der Welt vorgemacht, wie man uralte Gräben überspringen und Frieden schließen kann. Die westlichen Gerechten halten den Atem an und wollen es nicht glauben. Sie platzen vor Neid, dürfen es aber nicht verraten. Was tun? Das Ganze zum Manöver mit kurzer Halbwertszeit degradieren. Kim für den Gerisseneren ausgeben und zum Sieger erklären.

Nehmen wir an, die beiden meinten es ernst und konkretisierten den avisierten Frieden. Da niemand in die Zukunft schauen kann, darf diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden.

Wie müssten die Selbst-Gerechten des Westens sich zu diesen verheißungsvollen Perspektiven verhalten? Sie müssten sie unterstützen, die beiden Protagonisten loben und bestärken. Haben Merkel & Macron bei Kim und Donald schon angerufen und ihre Glückwünsche geäußert? Selbst wenn, würden sie der Öffentlichkeit keinen Ton verraten. Eben noch war Merkel ernüchtert und deprimiert. Nun, über Nacht sollte sie verhaltenes Lob spenden?

Das Echo in der westlichen Welt – im Gegensatz zu Russland, China – ist eher negativ. Die deutschen Medien wären die letzten, die guten Taten applaudieren würden. Das widerspricht ihren objektiven Logenplätzen oberhalb aller irdischen Nichtigkeiten. Wenn es um Zuckerberg, Bezos, Bill Gates oder sonstige Titanen aus Übersee ginge, dann, ja dann wären sie außer sich vor Begeisterung über die Mutigen, die keine Risiko und kein Scheitern fürchten.

Doch im gutmenschlichen Bereich wird schon am Anfang konstatiert: dies alles steht nur auf dem Papier. Nur gute Vorsätze bis jetzt, sonst nichts. Ja, was soll denn sonst am Anfang stehen als gute Absichten? Sie können erfolgreich sein – oder sie können baden gehen. Man müsste abwarten, um die Absichten mit den Taten zu vergleichen.

Im Abwarten sind deutsche Medien überfordert. Sie schauen durch alle Schlüssellöcher der Mächtigen und wollen auf der Stelle Taten sehen. Mit anderen Worten: sie wollen Wunder erleben. Unmögliches wird sofort erledigt, auf Wunsch wird gezaubert: das ist es, was sie sehen wollen. Wie etwa in der politischen Pfingstbewegung eines Macron oder anfänglich bei einem gewissen Schulz.

Davon lassen sie sich eine Weile begeistern, damit sie hinreißende Berichte schreiben können. Irgendwann aber ist Schluss, dann muss der Heilige Geist wieder beerdigt werden. Er könnte sonst noch erfolgreich werden und das wäre für unbeteiligte Beobachter unerträglich. Schließlich kommt der erleichterte Seufzer: auch Kandidat Schulz kann nicht über Wasser laufen. Wussten wir nicht schon immer, dass die Welt eine trübselige Angelegenheit war – und bleiben wird? Das ist die Rechtfertigung der Beobachter: nicht aus ihren Werken, sondern aus der selbstgefälligen Passivität ihrer Zuschauerrolle.

Gerechte wünschen sich jetzt lieber eine Verschärfung der Spannungen als eine Entspannung durch Volltrunkene. In einem Punkt hat Trump recht: der Westen ist erstarrt in seiner moralischen Bigotterie. Er hält sich für moralisch überlegen, will die Welt aber mit allen amoralischen Raffinessen übers Ohr hauen. Hillary an Trumps Stelle hätte keine einzige Sekunde daran gedacht, einem „Massenmörder“ die Hand zu reichen. Merkel hält sich für die Geschehnisse der Geschichte ohnehin nicht zuständig.

Müssten nicht alle Friedensfreunde der Welt bei Kim anrufen und ihn bestärken, seine Denuklearisierung tatsächlich durchzuführen? Müsste man ihm nicht Hoffnung machen, ein wertvolles Mitgliedsland der Völkergemeinschaft zu werden, wenn er hält, was er verspricht?

Nichts wird geschehen. Lieber eskalierende Zerwürfnisse, die das Vorurteil einer sündigen Welt bestätigen – als Frieden durch einen satanischen Außenseiter, der der Welt eine verführerische, aber vermessene und brandgefährliche Utopie vorgaukeln darf. Nur technische Utopien sind in der Moderne erlaubt. Nach dem Friedensbluff zweier va banque-Spieler klingen apokalyptische Schreckensmeldungen wie Erholung.

„Reicht ein Fortschritt zwischen Trump und Kim, die Atomuhr um ein, zwei Minuten zurückzustellen? Das „Science und Security Board“ beim Bulletin of the AtomicScientists wird die Verhandlungen beobachten, beraten und wie immer schweigen, bis es dann seine nächste Entscheidung verkündet. Auf Entwarnung darf man wohl nicht hoffen, selbst wenn die Verhandlungen in Singapur einen Durchbruch bringen. Die Erbfeindschaft zwischen den Atommächten Indien und Pakistan existiert noch immer. Das atomabkommen mit Iran steht vor dem Kollaps, die dortigen Machthaber sprechen schon davon, wieder mehr Uran anzureichern. Israel und die USA drohen mit Konsequenzen. Ein Krieg, der durch die jahrelangen mühsamen Verhandlungen abgewendet schien, wird wieder wahrscheinlicher. Die Modernisierung der Arsenale schreitet voran. Es gibt zu viele schlechte Nachrichten, als dass eine einzige gute die Uhrmacher beeindrucken würde.“ (Sueddeutsche.de)

Gewiss, Gefahren müssen scharf und klar erkannt werden. Und dennoch ist es entscheidend, welche Schlussfolgerungen aus ihnen gezogen werden. Konstatieren allein genügt nicht. Jedes „Ist“ hat zwei Möglichkeiten: entweder wird es unveränderlich bleiben – oder es kann sich verändern.

Deutscher Realismus geht stets einher mit pessimistischen Prognosen – oft subkutaner Art. Humanistischer Realismus dagegen fragt immer: wie kann das Ist sich zum Besseren wenden? Antwort: indem man es für möglich hält. Das wäre ein Glaube. Kein Glaube an einen allmächtigen Vater, sondern an die Kraft menschlicher Vernunft.

Die unheilvolle Wende von Enuma elish muss revidiert werden.

 

Fortsetzung folgt.