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Umwälzung LXX

Hello, Freunde der Umwälzung LXX,

„Alexander Gerst ist ein Abenteurer. Er will weiter, weiter in das All fliegen. Er ist wie Kolumbus. Segeln hinter dem ­Horizont. Die Schwärze des Weltalls, hinter die Schwärze zu kommen, hinter das Rätsel. Wer sind wir? Wohin wollen wir? Helden wie Alexander Gerst werden die Antwort finden.“ (BILD.de)

Bei Helden wären wir bereits wieder angekommen. Bei deutschen Helden. Abenteurern anderer Nationen hätte BILD-Wagner keine Zeile gewidmet. Was nicht made in Germany ist oder – vornehmer formuliert – keine deutsche Identität aufzuweisen hat, ist für Weltraum-Abenteuer ungeeignet.

Schon bevor der Held dort angekommen ist, weiß er: er wird etwas Ungewöhnliches entdecken. Die Heimat. Die Erde als Heimat. Muss jeder Bildungsabenteurer ab jetzt einen Weltraumflug bei Bezos buchen, um diese umstürzende Erkenntnis zu gewinnen? Und wer sich einen solchen nicht leisten kann, wird aus der irdischen Heimat ausgestoßen?

Schon stehen die Milliardäre Schlange, um ihre Heimat, die ihnen bereits zu 99% gehört, aus ungewöhnlicher Besitzer-Perspektive neu zu entdecken. Wer sich täglich neu er-finden will, muss die Welt täglich neu finden. Zuerst aber muss er sie suchen, als ob er ein ewig Fremder wäre, mitten in der Finsternis im Nirgendwo abgeworfen: wo bin ich, wer bin ich und wenn ja, wie viele? Ist das Leben ein Traum? Sein oder Schein? Sein oder Nichtsein? Gibt es uns wirklich? Wahrheit und Wirklichkeit – nichts als Trug und Täuschung? Ich kann an allem zweifeln; nur an meinem Zweifel nicht. Ich zweifle, also bin ich.

„Mit Geworfenheit beschreibt Heidegger die Unausweichlichkeit des Daseins: Das ungefragt in die Welt geworfen worden sein. Der Begriff der Geworfenheit bezeichnet die willkürliche, undurchsichtige und unwissbare Natur, die

Faktizität des Daseins als konstitutive Bedingung des menschlichen Lebens. Heidegger spricht dabei auch von der (konstitutiven) Tatsache, da sein zu müssen.“

Welche Schmach, hier auf Erden sein zu müssen. In dieser unerträglichen, undurchsichtigen, willkürlichen und weiblichen Natur, über die MAN nichts wissen kann.

„Gedanken über die Welt ›im Ganzen‹ sind nicht wahrheitsfähig, sie haben keinen Gegenstand, auf den sie sich beziehen: Der Philosoph Markus Gabriel erklärt, warum es die Welt nicht gibt.“ (ZEIT.de)

Philosoph Richard D. Precht bahnt sich in seinem Buch einen einzigartigen „Pfad durch die schier unüberschaubare Fülle unseres Wissens über den Menschen“ – sodass jeder Leser am Ende konstatieren muss: wir wissen zu viel, also wissen wir nichts. Deshalb müsse man ausbrechen aus dem erstarrten Nichtwissen, das wir für Wissen halten und aufbrechen ins Unbekannte und Abenteuernde:

„Auf dem Bergsteigerkongress 2013 in Brixen forderte Precht ein Ausbrechen aus der Erstarrung und einen Aufbruch in Richtung einer mutigen Weiterentwicklung der persönlichen und sozialen Lebensumstände über mehr Wagnisbereitschaft.“

Wie lässt sich die Pädagogik der Gegenwart mit einem einzigen Begriff kennzeichnen? Sie ist Abenteuerpädagogik.

„Was Abenteuer für die Beteiligten so spannend macht, ist die Begegnung mit Angst, Mut, Risiko und Wagnis. Die Teilnehmer reagieren mit Angst und gleichzeitiger Neugier. Entscheidend ist der Umgang mit dem Gefühlszwiespalt, die Bündelung des Mutes, die Überwindung der Angst, das Wagnis. Ziel ist die Vermittlung von Erfahrungen und das Lernen, dass es lohnt, Neues zu wagen.“ (Wiki)

Nicht Neugier soll Kinder bewegen, sondern Angst-Neugier. Was uns nicht in Angst versetzt, ist unserer Neugier nicht wert. Kinder können noch nicht ihr „Altes“ überschauen, da müssen sie schon Ausschau halten nach dem Neuen. Da ihnen das Alte nicht vertraut ist, können sie es nicht unterscheiden vom Neuen. Sie betrachten als neu, was uralt sein kann. Keiner Sache dürfen sie sicher sein, permanent müssen sie das nächste Wagnis in Angriff nehmen. Angst ist der Generalbass allen Lärmens und Hastens.

Gehör ich zu den Besten? Bin ich gebildet, stressfest und durchsetzungsfähig genug, um Aufstiegschancen zu besitzen? Kann ich Konkurrenz um jeden Preis? Die Schulen schwingen die Zensurpeitsche, um die Angst der Jugendlichen vor künftigem Versagen im Kapitalismus ständig aufrechtzuerhalten.

„Die Angst aber wird als die „Grundbefindlichkeit“ bezeichnet, die sich radikal auf die Erfahrung des bloßen „Daß es ist“ des Daseins bezieht. Sie vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein, d. h. die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen, und es erschließt sich dem Dasein die Bedrohlichkeit bzw. die Unheimlichkeit, das Nicht-zuhause-sein seines In-der-Welt-seins. Dabei ist „das Wovor“ der Angst im Gegensatz zur Furcht völlig unbestimmt.“ (Heidegger)

Die Vereinzelung des Daseins, die Abwesenheit der vertrauten Welt, die Bedrohlichkeit und unbestimmte Fremdheit in der Welt: wer in der S-Bahn sitzt und sieht, wie jeder als verkabelter Einzelner weltenweit von seinem Nachbarn entfernt ist, muss weder Leibnizens Monadologie, noch Heideggers Sein und Zeit gelesen haben, um die Atomisierung des Einzelnen in der unheimlichen Welt mit eigenen Augen wahrzunehmen.

„Die Angst bewirkt weiter, dass der Geist sich im Versuch, sich selbst zu setzen, am Ende selbst verfehlt. Die Sünde ist für Kierkegaard ein misslungener Akt der Selbstsetzung des Geistes, bzw. der Freiheit. Auch auf der Ebene des der Sünde verfallenen Geistes lebt der Mensch wieder in Angst: „Die Sünde ist mit der Angst hineingekommen, aber die Sünde brachte wiederum die Angst mit sich.“ (Kierkegaard)

Für den dänischen Philosophen ist Gegenwart die komplette Übersetzung des Neuen Testaments in die Realität des Abendlandes:

„In der Welt habt ihr Angst, siehe, ich habe die Welt überwunden.“

Wer sich nicht dem heiligen Besieger der Angst unterwirft, muss sein Leben in Furcht und Schrecken zubringen. Der rasende Fortschritt ist das Opiat zur Dämpfung der untergründigen Angstattacken der Menschen.

Wenn Psychoexperten von Depression, Burnout, Phobien, Aggressionen sprechen, legen sie Wert auf Diagnosen, die mit dem christlichen Westen nichts zu tun haben dürfen. Ihre Erkenntnisse sollen zeitlos und geschichts-unabhängig erscheinen.

Erkenne ich mich selbst, habe ich noch lange nichts von der Vergangenheit verstanden. Studiere ich die Vergangenheit, kann ich für die Gegenwart keine Folgerungen ziehen. Gerade Historiker lehnen es ab, Vergangenheit zu studieren, um die Gegenwart besser zu verstehen. Alle Epochen seien so grundverschieden, dass sich Vergleiche verbieten würden. Von Toten könnten die Lebenden nichts lernen:

„Droht jetzt analog zur römischen Republik in Italien der Verlust der Freiheit? Treibt Italien in die Unregierbarkeit oder gar in die Diktatur eines starken Mannes? Zur Beantwortung dieser Fragen kann der Blick auf jene andere, die römische Republik nichts beitragen.“ (WELT.de)

Ist deutsche Bildung Lust am Wissen? An menschlichem oder göttlichem Wissen? Faust, Urbild aller deutschen Intellektuellen, hat die Schnauze voll von unsinnigem Wissen. Er will wissen, was Gott weiß: das Wesen aller Dinge:

„Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;

Und ziehe schon an die zehen Jahr
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum –
Und sehe, daß wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.

Drum hab ich mich der Magie ergeben,
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund;
Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält“.

Die Deutschen sind ihrer Bildung überdrüssig geworden. Was immer ihre Autoritäten ihnen beibrachten, mit ihrer alltäglichen Realität hatten Klassiker nichts zu tun. Bildungsniveau – etwa bei Thea Dorn – ist Schwatzen auf hohem Niveau.

Da es für Postmoderne keine Wahrheit gibt, haben sie ihren objektiven Erkenntnisbankrott angemeldet. Sie haben sich der Magie – des unendlichen Fortschritts und der Eroberung der Natur – ergeben. Menschengleiche Maschinen sind das magische Komplement ihrer aufgesetzten Bescheidenheit: Wir wissen nichts und werden nie etwas wissen.

Der Konstruktivismus ist die herrschende Ideologie der Wissenschaftler. Wirklichkeit erkennen sie nicht, sie konstruieren sie nach ihrem Bilde:

„Im Radikalen Konstruktivismus wird die menschliche Fähigkeit, objektive Realität zu erkennen, mit der Begründung bestritten, dass jeder Einzelne sich seine Wirklichkeit im eigenen Kopf „konstruiert“.

Die Moderne weigert sich, die Natur zu erkennen, wie sie ist. Eine erkennbare Natur gibt es für sie nicht. Wir schreiben ihr vor, was an ihr zu erkennen ist. Wir denken – und also ist sie. Wir machen und konstruieren – also hat sie zu sein. Wir bestimmen, was Natur ist.

„Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“ (Kant)

„Die Erde ist schätzungsweise viereinhalb Milliarden Jahre alt und seit 80 Millionen Jahren von Säugetieren bewohnt. Hominiden, die frühesten Menschen, entstanden vor dreieinhalb Millionen Jahren. Der Homo sapiens – der wissende Mensch, der nichts über sich wissen darf – wandelt seit einhundert- bis zweihunderttausend Jahren auf der Erde. Die ersten Hominiden nutzten die Natur, ohne störend in sie einzugreifen. Sie verwendeten Zweige, Äste, Blätter, Baumrinde, Ranken, Schilf und Holz als Werkzeuge, Gefäße, Wetterschutz und Körperschmuck. Sofern die archäologischen Funde ausreichen, kann man von Krieg und Kriegsgeschrei in der Frühzeit der Menschengattung nicht reden.

Das war der Anfang.

Wie ist es heute? Nehmen wir Marilyn Frenchs Aussagen über Amerika – aus den 80er Jahren:

„Unser Jahrhundert ist eine Periode des Wachstums und des Überflusses und zugleich der Ausrottung von Menschen und anderen Lebewesen – eine Ära, die jedes Maß verloren hat. Die einflussreichsten politischen Bewegungen unserer Zeit sind weder Gandhis Satyagraha noch die Demokratie. Wir leben im Jahrhundert des Holocausts, des Einsatzes der Atombombe und der massenhaften gewaltsamen Internierung von Menschen. Die Grundatmosphäre in den USA erweckt den Eindruck, als stünde die gesamte Nation vor dem Nervenzusammenbruch. Unser Privatleben ist verworren und voller Brüche. Unsere Männer legen gegenüber ihren Kindern eine Verantwortungslosigkeit an den Tag, in der sich ein Maß an Selbsthass manifestiert, das nicht hinter dem der terroristischen Mordanschläge zurücksteht. Sind unsere Kinder nicht ein Ausdruck unserer selbst? Frauen und Kinder sind unsere neuen Armen – eine immer weiter anwachsende Bevölkerungsschicht. Moralische Wertordnungen gelten als irrational. Wertmaßstäbe seien mit Vernunft nicht zu ergründen. Wir predigen Toleranz, doch hinter dem Mäntelchen der Ethik verbergen sich Macht und Herrschaft, die Überlegenheit des weißen Mannes über den Rest der Menschheit.“ (Jenseits der Macht)

Heute ist es vorbei mit der Vorherrschaft des weißen Mannes. Trumps Revolte gegen bislang gültige Gepflogenheiten will die Führungsposition Amerikas mit krachledernen Methoden zurückerobern.

„Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen, was ist der Mensch?“

Kants Grundfragen wären heute zu beantworten: alles hängt ab vom Auge des Betrachters. Jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit und Moral. Verbindliche Antworten gibt es nicht. Vernunft als gemeinsame Erkenntnismethode aller Menschen ist eine Fiktion. Gäbe es sie, wäre es Faschismus. Alles Gemeinsame ist vorgeschrieben. Alles Vorgeschriebene ist Despotie. „Aufklärung ist totalitär.“ (Adorno, Horkheimer)

Die Realität ist zu komplex, um erkannt zu werden – für den Pöbel. Eliten durchschauen alles – bis zum nächsten Finanzkollaps. Dann fragen sie sich, warum sie nichts durchschaut hatten? Keine Antwort. Da capo al fine. Hoffnung auf moralisches Lernen der Menschheit ist töricht. Hoffnung auf technische Perfektion, die alle moralischen Probleme der Menschheit mit links lösen wird, ist nationale Pflicht. Denn die Produktion solcher Maschinen soll die Basis „unseres Wohlstands“ sein. Wer nicht an die Digitalisierung glaubt, ist nicht nur ein rückwärtsgewandter Maschinenstürmer, sondern Partisan gegen die ökonomische Dominanz des Vaterlands.

Der Mensch ist politisch nicht entwicklungsfähig. Aber er kann Maschinen entwickeln, die so perfektionsfähig sind, dass sie die Probleme der Menschheit wie mit dem Zauberstab zum Verschwinden bringen. Da Maschinen von Menschen erfunden werden, ist es indirekt doch der Mensch, der mit Hilfe seiner Geschöpfe hoffen darf, seine Zukunft ins Grenzenlose auszudehnen.

Hier wiederholt sich die Geschichtslehre des männlichen Schöpfers. Der allmächtige Mann in Gestalt des Gottes ist unfähig, Geschöpfe zu seinem Wohlgefallen zu erfinden. Also zeugt er einen Sohn, der in seinem Auftrag die Blöße ausgleicht. Wie der göttliche Sohn zum Vater, so verhält sich die Maschine zum Menschen.

Auch der Sohn scheint unfähig, die Menschen zu erlösen. Er muss so viel Angst haben zu versagen, dass er seine Rückkehr von Termin zu Termin verschiebt. Seitdem ist Prokrastination die unheilbare Krankheit der Welt. Die brennendsten Probleme der Welt werden weggeschoben, missachtet – oder lächerlich gemacht.

Schon wieder werden wir erzogen, empört sich die WELT, wenn lebenerstickendes Plastik im Alltag verboten werden soll. Moral gilt nicht als Politik, Politik aber wird als faschistische Moral empfunden und zurückgewiesen. Ökologische Probleme werden nicht mehr zur Kenntnis genommen. Die Menschheit setzt alles auf eine Karte und wagt das Risiko aller Risiken, das Unendliche anzustreben, indem sie ihren Tod einkalkuliert.

„Es stirbt die Kreatur. Wo Insekten sterben, hungern Singvögel. Wir dürfen nicht länger zuschauen, denn wir stehen am Ende der Nahrungskette. Psychologisch gesehen stimmt etwas nicht mit einer Gesellschaft, die das Leben missachtet und die Zerstörung schönredet. Hierzulande erklären sogar Umweltpolitiker das Abnormale zur Normalität. Eine solche Leugnung der Realität ist gefährlich. Wir müssen daher ein neues Verständnis für Natur entwickeln, eine neue Story der Naturverbundenheit erzählen, wenn wir gut und gesund weiterleben wollen.“ (TAZ.de)

Psychologisch stimmt etwas nicht mit uns, wenn wir uns zugrunde richten? Nicht grundsätzlich und philosophisch? Das klingt niedlich und harmlos.

Wir brauchen eine neue Story der Naturverbundenheit, keine uralte, die es vor der Erfindung der pyramidalen Hochkulturen göttlicher Männer unendliche Zeiten lang gab? Vor der Inthronisation naturüberlegener Männergötter wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, die Natur zu beschädigen. Noch heute gibt es „wilde Stämme“, die seit unendlichen Zeiten in Eintracht mit der Natur leben. Sie werden als geschlossene Gesellschaften niedergemacht.

Poppers offene Gesellschaft ist selbstkritisch. Kritik aber ist nicht just for fun. Sie ist nur notwendig, wenn lebensgefährliche Entwicklungen drohen. Was aber, wenn die „geschlossenen Wilden“ eine Form einträchtigen Lebens mit Mensch und Natur gefunden hätten, die nicht mehr zu übertreffen wäre, weil alle Beteiligten auf ihre Kosten kämen?

Statische Perspektiven sind für moderne Bewegungsbeschleuniger ein Graus. Was sich nicht ändert, ist für sie tot. Ändern nicht im Sinne des Verbesserns, sondern um bloßen Veränderns willen. Ändern als l’art pour l’art. Eine Idylle ist für die Moderne Inbegriff der Heuchelei oder Faulheit oder geistiger Abgestorbenheit. „In einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe würden alle Talente der Menschen ewig in ihren Keimen verborgen bleiben.“ (Kant)

Ungeheuerlich, wenn die Talente der Menschen, sich mit digitalisierten Waffen gegenseitig zu füsilieren, ewig in ihren Keimen verborgen blieben. Wäre der Mensch von Natur aus gut – und bliebe es auch: wie grässlich. Die gesamte Geschichte der höheren Kultur wäre uns erspart geblieben. Das Böse in seiner extraordinären kreativen Kraft wäre nicht zum Einsatz gekommen. Warum zitiert Fortschrittsfanatiker Marx seinen fortschrittsfanatischen Lehrer Hegel:

„Man glaubt etwas sehr Großes zu sagen – heißt es bei Hegel – wenn man sagt: Der Mensch ist von Natur gut; aber man vergisst, dass man etwas weit Größeres sagt mit den Worten: Der Mensch ist von Natur böse.“

Heute muss alles die Form der offenen Frage annehmen. Kunststück, eine geschlossene Frage wäre eine Antwort. Antworten aber genießen den Ruf totalitärer Geschlossenheit.

„Ich werde offen auf die Italiener zugehen“, sagt die allseits offene Kanzlerin. Bis sie geschlossen von jenen Abschied nehmen wird, nachdem sie ihnen ihr Würge-Konzept aufoktroyiert hat.

Die offene Frage ist das Rätsel. Das unbeantwortbare Rätsel. Nur Religion darf Fragen stellen, die von Gott höchst selbst beantwortet werden.

„Herr, zu wem sollten wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.“

Der Ungläubige muss dem Rätsel ewig nachsinnen. Antworten darf er keine finden. Wären Problemlösungen aber keine Antworten? Warum können wir die Frage nicht beantworten: gibt es keine Lösungen für unsere Probleme? Warum finden wir sie nicht? Antwort: weil wir sie nicht finden dürfen. Lösungen wären Antworten, Antworten aber haben den Charme geschlossener Gesellschaften und des unterdrückten Bösen. Das dürfen wir dem Bösen nicht antun.

Der protestantische Gott ist Vorbild aller Feinde der Gutmenschen und Moralisten. Durch autonome Werke allein wollen sie ihre Probleme lösen. Würde Gott ihnen das durchgehen lassen, wäre er überflüssig. Nein, so flexibel ist der Herr nicht, dass er sich einen neuen Job zulegen könnte, wenn sein alter durch den Menschen wegrationalisiert werden würde.

Politiker können es nicht, Moralisten dürfen es nicht: das Rätsel lösen. Nur Alexander Gerst darf es. Welches Rätsel? Das Rätsel der Schwärze des Weltalls. Hinter der Schwärze muss sich die Auflösung aller menschlichen Probleme verstecken. Wer weiß denn sowas? Damit der Mensch nicht die innersten Rätsel der Schöpfung aufdecken kann – und sich damit ewig unglücklich machen würde –, hat Gottes Güte die Antwort auf alle Fragen im schwarzen Loch versteckt. Wenn wir hinter die Schliche dieses Loches kämen, wüssten wir alles über uns.

Das aber ist verboten und unmöglich. Doch genau dieses Unmögliche will der Teufelskerl Alexander aufdecken – behauptet BILD-Wagner. Und der muss es wissen. Denn er weiß, wozu deutsche Helden fähig sind.

Kammerdiener der Moral hingegen glauben zu wissen: BILD und Weltraumforschung belügen sich selbst – und damit die ganze Menschheit. Keine Weltraumforschung wird die Probleme der Menschheit lösen. Im Gegenteil: sie muss die Erde schlecht machen, um ihre teure Mission zu retten. Gewiss, Gerst spricht von Heimat. Wer aber einen Weltraumflug benötigt, um die gemeinsame Heimat der Menschen zu entdecken, der muss auf Erden zuviel in den Mond geguckt haben. Unsentimentale Weltraumideologen waren da schon viel deutlicher:

„Um die Weltraumfahrt zu rechtfertigen, müssen ihre Verfechter das Leben auf Erden schamlos schlecht machen. Und genau dies tun die Technokraten ohne Zögern: „Es kann durchaus so weit kommen,, sagt Arthur Clarke, „dass erst im Weltraum, angesichts einer Umwelt, die unwirtlicher und komplexer ist als irgendeine auf unserem Planeten, der Geist zur vollen Entfaltung gelangen wird. Mögen die Spießer auf der gemütlichen Erde bleiben, der wahre Genius wird nur im Weltraum gedeihen – im Reich der Maschine, nicht im Reich von Fleisch und Blut.“ (Mumford)

Das Reich der Maschine ist das Reich des Mannes, das Reich von Fleisch und Blut das der Frau. Vor aller Augen der Welt propagieren Männer ihren geplanten Abschied von Weib und Kind und ihre eigene grenzenlose Entwicklung. Und die ganze Welt – pardon, die Eliten derselben – klatschen Beifall. Andere Forscher machten aus ihrer Hoffnung kein Hehl, das Ende der Menschheit zu verhindern, indem Auserwählte in den Weltraum katapultiert werden, die den Bestand der Gattung garantieren könnten.

Muss das Leben ein unlösbares Rätsel bleiben, weil wir nie genug wissen? Können wir nur offen bleiben, wenn unsere Fragen unbeantwortet bleiben?

Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Gauguin stellte sein berühmtes Gemälde, das er nach diesen Fragen benannte, „innerhalb von vier Wochen Ende des Jahres 1897 in seiner selbstgebauten Hütte in Tahiti fertig. Das Gemälde hat einen testamentarischen Charakter: Gauguin selbst gibt an, es mit der Absicht geschaffen zu haben, anschließend Suizid zu begehen. Zu den Gründen zählten die Nachricht über den Tod seiner Tochter Aline, sein durch Syphilis und einen Herzanfall weiter verschlechterter Gesundheitszustand sowie anhaltende und zunehmend drängende Geldnot.“

Könnte es sein, dass Gauguin den innersten Nerv der Moderne traf? Weil er sein Leben nicht mehr leben wollte, stellte er sich unbeantwortbare Fragen. Er brauchte vor sich selbst eine Legitimation, um vom Leben Abschied zu nehmen. Also musste die Unlösbarkeit der Urfragen unerträglich für ihn sein. Faust hätte an seiner Stelle den Mephisto bedroht: beantworte mir auf der Stelle die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält – oder ich bringe mich um und du brauchst dich nicht mehr blicken zu lassen bei deinem himmlischen Arbeitgeber.

Da der Mensch sich verbietet, die Grundrätsel seiner Existenz zu beantworten, muss er suizidal werden. Da er suizidal ist, braucht er die Begründung seiner Ratlosigkeit: was nützt das ganze Leben, wenn ich nicht weiß, wer ich bin? Je mehr wir wissen, je weniger wissen wir über uns. Ach, das Leben ist sinnlos, wenn wir töricht und unwissend vor uns hindämmern.

Hängt die Qualität des Lebens von großkotzigen Fragen und Antworten ab? Sokrates glaubte nicht an die Heilkraft theoretischen Wissens. Sondern an die Heilkraft eines erfüllten moralischen Lebens. Als man ihm eine theoretische Frage stellte, antwortete er:

„Ich habe zur Beantwortung dieser Frage ganz und gar keine Muße. Die Ursache hiervon ist, mein Lieber, diese: Ich kann noch immer nicht nach dem delphischen Spruch mich selbst erkennen. Lächerlich also kommt es mir vor, solange ich hier noch unwissend bin, an andere Dinge zu denken. Daher lass ich das alles gut sein und … denke an mich selbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, noch verschlungener gebildet und ungetümer als Typhon, oder ein milderes und einfacheres Wesen, das sich eines göttlichen und edlen Teiles von Natur aus erfreut.“

Sokrates wandte sich nicht ab von der Naturforschung, wie viele Gelehrte meinen. Er wandte sich der Erforschung des Menschen zu, der ebenfalls zur Natur gehörte. Aber nicht zur äußeren, deren Erkenntnis zur Erkenntnis des Menschen nichts mehr beitragen konnte. Sondern zur inneren Selbsterforschung: was bin ich für ein Naturwesen? Ein menschenfeindliches oder eines, das in Eintracht mit anderen Menschen leben kann? Nach welchen gemeinsamen Regeln muss der Mensch leben, um ein gutes und erfülltes Leben zu führen?

Wissen, das den Menschen von der Erforschung seiner selbst ablenkt, ist inhumanes Wissen. Nur was uns menschlicher macht, ist wahres Wissen. Die Frage nach der Humanität des Menschen war die Urfrage nach der Möglichkeit der Demokratie.

Rätsel aller Rätsel: ist die Urfrage beantwortbar? Sollte der Mensch sie nicht beantworten, wird Geschichte für ihn die Antwort geben.  

 

Fortsetzung folgt.