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Umwälzung LXIX

Hello, Freunde der Umwälzung LXIX,

„Menschsein bedeutet, sich im Besitz der Menschenwürde zu befinden. Die Menschenwürde ist die Grundlage der Menschenrechte, also jener ethischen Werte, die das Verhalten innerhalb der Gesellschaft regeln. Menschsein ist als absoluter Wert zu verstehen, die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv als relativer. Und diese Erkenntnis sollte unsere Debatte über die Menschen in Deutschland bestimmen.“ (SPIEGEL.de)

Bemerkenswerte Sätze von Ulrich Wickert, die in Deutschland selten zu hören sind. Wickert beruft sich auf den französischen Aufklärer Montesquieu, der von sich sagte, „er sei aus Notwendigkeit Mensch, aus Zufall Franzose. Während Montesquieu eine Person zuerst Mensch sein lässt und ihn dann mit einer jeweiligen zufällig erworbenen nationalen Identität versieht, wird den Deutschen vorgeworfen, sie würden umgekehrt denken: „«Ich bin aufgrund meines Wesens Deutscher und dank meiner deutschen Qualität Mensch.» Andersherum gesagt: Ich bin als Deutscher ein besserer Mensch.“

Schon wären wir am Kern des Problems: die Deutschen wollen die Besseren sein. Wollen das nicht alle Nationen? Amerikaner, Chinesen, Russen, Polen, Israelis, Engländer, Franzosen? Viele Völker nennen sich selbst: die Menschen, die Erwählten – für andere bleibt dann nur noch: Barbaren, Ungläubige, Heiden; Verworfene und Verfluchte.

Gelegentlich auch „die Wilden“. Hier schwankt die Einschätzung. Anfänglich waren die bösen Wilden dazu da, um ausgerottet zu werden. In der Aufklärung verwandelten sie sich in edle Wilde. Danach wieder ein Rösselsprung zurück.

Edle Wilde sind heute „geschlossene Gesellschaften“, bitterarme, zivilisations- und fortschrittsunfähige Eingeborene, deren Tage auf Erden gezählt sind. Man muss sie nicht mehr köpfen, wie die ersten Missionare in Nächstenliebe anordneten. Man plündert ihre Urwälder, gräbt ihnen das Wasser ab – und schon sind sie

gezwungen, ihre Heimat aufzugeben oder für immer abzutreten. Apokalyptische Bedrohung ist bei Wilden alltägliche Realität.

Woran der Westen glaubt, aber (noch) nicht in die Tat umsetzen will, das verdrängt er in den Untergrund oder exportiert es in die Fremde. Es ist derselbe Vorgang wie im Innern der Nationen: die mächtige Mitte der Gesellschaft verschiebt alles, was sie für richtig hält, öffentlich aber nicht vertreten kann, an die linken und rechten Ränder. Die dürfen geprügelt werden, damit die Mitte rein und schuldlos bleibt.

Ist es kein hehrer Anspruch, zu den Besten zu gehören? In der Moderne muss man Spitze sein oder leise weinend abtreten. Sie reden von Wettbewerb oder leistungsfördernder Konkurrenz. Ranking in allen Dingen. Die besten Unis, die intelligentesten Wunder-Babys, die heißesten Bräute, die verwegensten Zocker und kühnsten Unternehmer, die algorithmischsten Algorithmen, die gottebenbildlichsten ex-nihilo-Genies und futuristischsten Sterblichkeitsüberwinder.

Der einst edle Wettstreit um Erkenntnis und Humanität verwandelte sich in Tausenden von Jahren unerbittlicher Seligkeits-Konkurrenz in einen Ausscheidungswettbewerb um die besten Plätze auf Erden.

Die moderne Gesellschaft ist noch immer, was sie von Anfang an war: eine hierarchische Pyramide. Der Erde am nächsten: die Schwachen und Unwürdigen, gut genug, um verachtete Arbeit zu leisten. Dem Himmel am nächsten: die Starken und Erfolgreichen, die sich mit Hilfe der Arbeit der Schwachen ihre Himmelsleitern ins Grenzenlose bauen.

Das war die erste Arbeitsteilung, die in Wirklichkeit eine Teilung in erfolg-lose Arbeit und arbeits-losen Erfolg war. Natürlich waren die Erfolgreichen nicht untätig. Ihre Taten erfanden, organisierten und definierten den Gewinn der Arbeit als ihren Profit.

Zu den Profiteuren fremder Arbeit gesellten sich von Anfang an Priester und Astrologen, deren Sinnsuche die gigantische Kluftbildung in den Gesellschaften erklärte und absegnete. Die Verklärung der Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Hierarchien wurde zum Hauptzweck des Klerus, der sich mit den Mächtigen und Reichen zur Elite der 6000 Jahre alten maskulinen Hochkulturen verband.

Es ist nicht so, dass die Eliten der Gegenwart das Problem der Gerechtigkeit eliminiert hätten. Sie halten es für gerecht, dass Starke und Intelligente die Oberhand über die Schwachen und Einfältigen erringen. Gerechte Verhältnisse unter Abgehängten hingegen: dieser Streit ist für sie uninteressant. Den Malochern würde er nur jene Energie rauben, die sie für ihre Zubringerdienste benötigten.

In Hoch-Zeiten des Kapitalismus sind exorbitante Leistungsgewinne der Oberen immer legitim: sie sind die Kapitäne auf hoher See, die allein den Kurs steuern, allein die Verantwortung tragen und denen ergo 99% aller Gewinne zustehen würden. Weshalb 1% der Weltbevölkerung 99% aller Weltgewinne zusammenraffen darf, um der Evolution Recht zu geben.

Für die Führungsklassen ist die Welt gerecht, wenn die Starken die Gewinne der Welt einstreichen. Das Naturrecht der Starken hatte sich in Athen vehement gegen die Entstehung der Demokratie zur Wehr gesetzt: diese neumodische Staatsverfassung sei allein auf den Vorteil der „schlechten Leute“ eingestellt, die sich auf Kosten der „rechten und guten Leute“ – die ihnen in allen Dingen weit überlegen seien – amüsieren würden.

Der Hass zwischen Demokraten und Oligarchen erreichte seinen Höhepunkt im Schwur der Reichen: „Ich will dem Volke feindlich gesinnt sein und, so viel ich kann, zu seinem Schaden beitragen.“ Gradheit und Wahrhaftigkeit waren den Nimmersatten gleichbedeutend mit Torheit: Lüge, Täuschung und Meineid dagegen galten ihnen als kürzester Weg zum Erfolg. Wer an der herkömmlichen Moral festhielte, war in ihren Augen ein Schwächling und ungebildeter Klotz.“ (Nach Nestle)

Unschwer zu erkennen, dass Typus Trump keine Erfindung der Neuzeit ist. Erst dem Naturrecht der Schwachen gelang es, das Naturrecht der Gewaltigen so weit auszuschalten, dass Demokratie als Gemeinschaft der Freien und Gleichen entstehen konnte. Trump ist das Ergebnis eines siegreichen Naturrechts der Starken im Gehäuse eines demokratischen Naturrechts der Schwachen.

Die beiden konträren Moralsysteme erhalten im biblischen Land das Gepräge einer göttlichen Belohnung der Gerechten mit Reichtum – und der konträren Segnung der Armen. Gewöhnlich wird dem jüdischen Alten Testament eher das Modell des Reichtums zugeordnet, dem christlichen Neuen Testament das der gottgewollten Armut. Ein wesentlicher Grund für christlichen Antisemitismus, der den Juden religiöse Habgier zuschrieb, während die Jünger Jesu die Armut seligpreisen würden.

In Wirklichkeit gibt es in beiden Testamenten – mit unterschiedlicher Gewichtung – Lob und Kritik an Reichtum und Armut. Der geniale Vorzug aller heiligen Schriften ist ihre Ambiguität (Zweideutigkeit). Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Jeder darf sich bestätigt fühlen, dass seine Moral in der Schrift als göttliche ausgezeichnet wird.

Bei solch einer schillernden ethischen Willkür ist an strenge Moral nicht zu denken. Nicht nur, dass man jede beliebige ethische Norm gerechtfertigt findet, man kann seine persönliche Moral auch nach Belieben ins Gegenteil verkehren – und dennoch der Meinung sein, man habe seine ursprüngliche nie verletzt.

Diese Beliebigkeit der Moralen unter dem Vorzeichen einer strengen Gottesmoral ist ein wesentlicher Grund für den propagandistischen Erfolg der Bibel. Man darf alles – und gleichzeitig das Gegenteil. Das Gegenteil darf man verdammen – und es gleichzeitig tun. Das Gute darf man als Gutes und Böses tun, sein jeweiliges Gegenteil sowohl als Gutes ausgeben oder als Böses verdammen. Wenn Gutes und Böses nach Belieben getan werden kann, wird das Gute immer mehr in die Rolle gedrängt, zur Legitimation des Bösen zu werden.

Während sich der Kampf zwischen Naturrecht der Starken und Schwachen in Athen zum eindeutigen Nomos (Gesetz) der Demokratie entwickelte, entfaltete sich die konträre Preisung der Reichen und der Armen in der Bibel zur willkürlichen Anti-Nomie (Gesetzlosigkeit).

Der grundlegende Kampf zwischen beiden Moralsystemen des Nomos und der Antinomie bestimmt die Geschichte des Abendlands. Aufseiten des Logos befindet sich die strenge Logik, die jeden Widerspruch als amoralisch anprangert, auf der anderen die Dialektik, die jeden Widerspruch mit Gottes und Hegels Hilfe zur vorübergehenden Antithese erklärt, die am Ende aller Dinge sich in göttliche Harmonie auflösen wird.

Die Aufklärer schlugen sich auf die Seite des logisch strengen Nomos. Alle regressiven Epochen ins Religiöse – wie Reformation und Romantik – freuten sich der Widersprüche als himmlische Bestätigung ihrer wirrer Reden.

Wer bestimmt über die Besten einer Disziplin – und nach welchen Kriterien? Wer bestimmt, welche Disziplinen die besten sind? Immer diejenigen, welche die Macht über die Begriffe an sich rissen, also immer die intellektuell Beweglicheren und moralisch Unbedenklichen: die Eliten.

Ein Lügenmärchen, dass Eliten an einem gerechten Bildungssystem interessiert wären. Sie sind nur daran interessiert, dass ihre Abhängigen ausreichend aus-gebildet wären, um ihre Maschinen zu bedienen. Darüber hinaus sollen sie nichts wissen, schon gar nicht fähig sein, die gehirn-vernebelnden Mythen der Macht zu durchschauen.

Prometheus raubte den Göttern Herrschaftswissen und brachte es den Menschen, um ihre Autonomie zu stärken. Zur Strafe wurde er im Kaukasus festgeschmiedet. Eva aß verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis. Für die Sünde des Wissenwollens wurde das gesamte Menschengeschlecht in Ketten der Verdammnis gelegt. Götter und Eliten sind nicht im Geringsten daran interessiert, ihre Geschöpfe wissend zu machen.

Medien fürchten den Liebesverlust der Mächtigen, wenn sie ihre Nachrichtenlieferanten allzu sehr am Kragen packen. Sie haben sich die Vermittlerfunktion der Priester angeeignet, um die Macht der Mächtigen mit dem Schein der Unangreifbarkeit zu umgeben. Alles soll sich ständig verändern – mit Ausnahme der Macht der Mächtigen. Fortschritt soll alles verändern – mit Ausnahme des Fortschritts selbst.

Verdienen die Oberen ihre wahnsinnigen Einkommen? Nach welchen Kriterien wird gemessen, dass sie ungeheuer viel mehr Profit einstreichen als ihre Abhängigen? Es gibt keine quantitativen Methoden, mit denen man herausfinden könnte, warum ein Chef das 30fache oder 300fache ordinärer Malocher verdienen sollte.

Ein Mythos, dass man phänomenale Fähigkeiten haben müsse, um die Gesetze des Kapitalismus zu bedienen. Alpha-Industrielle kennen nur die Regeln eines gut geölten Profitkapitalismus, bei dem alles wie von selbst läuft. Gerät der Kapitalismus ins Schlingern, ist für die meisten Matthäi am letzten. Das gilt besonders für Geldmagnaten, die den Bankrott geradezu provozieren, um an ihm noch mehr zu verdienen als in normalen Zeiten. Denn der Staat selbst rettet sie vor dem Untergang mit der Begründung: jene seien zu groß, als dass man sie untergehen lassen dürfte.

Der Unterschied der Verdienste ist die Einschätzungssache jener, die sich das Privileg erbeuteten, einschätzen zu dürfen. Die sonst jede Zahl quantitativ absichern, begnügen sich hier mit subjektiven Festlegungen per ordre de mufti. Nicht Leistungsfähigkeit wird geprüft, sondern ein Geruchstest durchgeführt: passt der Kandidat zu unserer inzestuösen Männeratmosphäre? Hat er den rechten Stallgeruch? Spricht er unsere Sprache? Ist er ein lupenreiner Mitläufer? Ist er vor allem kein „selbsternannter“ Gutmensch und moralischer Erbsenzähler?

Nach welchen Kriterien werden Politiker beurteilt? Nach ihrer Fähigkeit, ihre Politik zu artikulieren und argumentativ zu verteidigen?

Zum ersten Mal muss Merkel in einer Fragestunde des Bundestags den Abgeordneten Rede und Antwort stehen. In ihrer endlosen Regierungszeit konnte sie sich vor solchen Konfrontationen bislang erfolgreich drücken. Undenkbar für eine vitale Demokratie.

Doch bei deutschen Mutterfans fällt solche Schwäche nicht ins Gewicht. Ihre Anhänger spüren wohl die logische Inkompetenz ihrer heiligen Frau. Dennoch sind sie ihr dankbar, dass sie Ruhe und Gelassenheit verströmt. Dieses Opiat darf nicht falsifiziert werden. Die Anhänger fürchten: wenn‘s drauf ankommt, könnte Merkel nicht standhalten. Das wäre eine nationale Katastrophe. Väter versagen ohnehin, nun würde auch noch Muttern versagen – das verkraftet niemand. Eine ernsthafte Alternative zu Merkel gibt’s ohnehin nicht. Deutschland ist verdammt zu einer Pastorentochter mit guten Beziehungen nach ganz Oben.

„Sie führe nicht durch Reden und Appelle, sagt Merkel. Sie tut so, als sei es eine deutsche Tugend, ohne viel Geschwätz ans Ziel zu kommen. Dabei ist es in Wahrheit so, dass sie die Mühe scheut, mit dem richtigen Wort die Bürger von Ideen zu überzeugen, die im Moment noch keine Mehrheit haben“. Schreibt Rene Pfister im SPIEGEL. (SPIEGEL.de)

Das sind demokratiefeindliche Sätze. Regieren ohne Worte ist preußisches Obrigkeitsverhalten, das stummen Gehorsam fordert. Nein, sie scheut nicht die Mühe, richtige Worte für ihre Politik zu finden: solche Mühe hält sie für sinnlos. Als Lutheranerin müsste sie dem Motto verpflichtet sein: solo verbo – allein durch das Wort. Doch das hält sie für kontraproduktiv. Die Deutschen sind ihr nicht fromm genug, um das Wort Gottes zu verstehen. Die Vernunft des heidnischen Arguments aber lehnt sie noch entschiedener ab. Für sie ist Vernunft der Heiden Torheit vor Gott.

„Irgendetwas müsse passieren, sagt Merkel voller Sorge, als sie, beeindruckt von der Tatkraft der Pekinger Führung, nach Berlin zurückreist. Um dann im gleichen Atemzug zu erklären, warum eben leider nichts passieren kann.“

Irgendetwas? Das ist gedanklicher Ausverkauf. Mit der Begründung, ein Irgendetwas könne es gar nicht geben. Dafür sorgten Seehofer & die GROKO. Nicht an ihr liegt es also, sondern immer an den anderen. Ihre oft gepriesenen Tugenden Nüchternheit und Gelassenheit entlarven sich bei näherem Hinsehen als getarnte Burnout-Symptome.

„In Gedanken ist Merkel eine Revolutionärin, sie findet, dass alles viel schneller gehen muss, in Europa, in Deutschland, das es nicht einmal schafft, einen Flughafen in der Hauptstadt zu bauen, während in China innerhalb von wenigen Jahren Millionenmetropolen aus dem Boden gestampft werden.“

Merkel ist das Gegenteil einer Revolutionärin: eine von fiebrigem Wettbewerbsdenken erfüllte Traumtänzerin, die immer mehr von der Angst heimgesucht wird, Deutschland könne seine dominante Rolle in der Weltwirtschaft verlieren. Was dagegen zu machen sei? Ob angeheiztes Wirtschaftswachstum ökologisch überhaupt verträglich ist, scheint der ehemaligen Umweltministerin gleichgültig. Ihre ehemaligen Öko-Ziele hat sie längst dem wirtschaftlichen Moloch geopfert.

„Mitten im Wahlkampf des Jahres 2017, in einem Festzelt in Trudering, sagte Merkel einen Satz, der in seiner Tragweite ungeheuerlich war: Europa müsse sein Schicksal nun selbst in die Hand nehmen. Es war der Abschied von der Nachkriegsordnung, in der sich die Europäer immer dann, wenn es unangenehm wurde, auf den großen Bruder in Amerika verlassen konnten. Inzwischen hat sie die Sätze von Trudering mehrmals wiederholt. Doch sie füllt sie nicht mit Leben.“

Sie redet nichts. Wenn sie sich aber einmal im Bierdunst vergisst, redet sie Dinge, deren Tragweite sie nicht überblickt. Ich habe geredet, nun seid ihr dran, meine kryptischen Worte zu entziffern. Sie spricht in Rätseln wie Gott im Buch Daniel: mene, mene, tekel, upharsin. Nun deutet mal, ihr bibelvergessenen Deutschen – die ich kaum noch ertragen kann.

„Von Karl Marx stammt der Satz, dass Philosophen die Welt nur verschieden interpretierten, es aber darauf ankomme, sie zu verändern. Merkel, so viel lässt sich sagen, gehört eindeutig zur Spezies der Philosophen. Sie war noch nie eine Frau der großen Pläne, aber was in ihren späten Jahren immer mehr ins Auge sticht, ist eine geradezu unheimliche Diskrepanz zwischen der Analyse der Lage, die düsterer kaum sein könnte – und Merkels praktischer Politik.“

Merkel ist das Gegenteil einer Philosophin. Philosophen sind nicht zwanghaft auf Düsternis abonniert. Marx irrte gewaltig, als er Philosophieren zu folgenlosem Interpretieren verstümmelte. Sollten Pfisters Wahrnehmungen der internen Merkel zutreffen, spielt Merkel ein verwerfliches Doppelspiel. Nach außen die begütigende Gesundbeterin, nach innen die hoffnungslose Apokalyptikerin. Hier führt jemand sein Volk erbarmungslos an der Nase herum.

„Man kann Merkel nicht vorwerfen, dass sie die Lage schönreden würde. Wenn man ihr zuhört, kann einem angst und bange werden. Schaut man durch ihre Brille auf die Welt, dann erscheinen am Horizont schon die Reiter der Apokalypse.“

Diese Analyse müsste wie ein Blitz in die paradiesischen deutschen Verhältnisse einschlagen. Eklatanter könnte die Kluft zwischen Sein und Schein nicht sein. Merkel ist das Gegenteil einer biederen, berechenbaren Politikerin. Sie ist gefährlicher als Trump, weil sie eine hermetische Rolle spielt, während ihr Kollege kein Geheimnis aus seinem Tohuwabohu macht.

„Die Kanzlerin macht derzeit häufiger Ausflüge in die Geschichte, auch als sie vor vier Wochen in der Residenz des deutschen Botschafters in Washington saß, kam sie zurück auf jenen Vertrag, der nach den blutigen Wirren der Reformation eine 60-jährige Phase des Friedens zwischen Protestanten und Katholiken einleitete. Es schien, als hätten die Menschen endlich zur Vernunft gefunden, aber das war ein Trugbild, wie sich bald herausstellte. 1618 begann ein Krieg, wie ihn der Kontinent noch nie gesehen hatte, und als das Inferno 30 Jahre später endete, waren weite Teile Deutschlands entvölkert, von vielen Städten standen nur noch die Ruinen.“

Das also ist die protestantische Innensicht der Dinge – die sie bislang streng der Öffentlichkeit vorenthielt. Den Augsburger Religionsfrieden hält sie für einen Akt der Vernunft. „Wessen das Land, dessen die Religion“, war die zentrale Abmachung des Vertrags. Nur noch allein die Fürsten sollten über die Religion ihres Landes bestimmen. Eine schlimmere Glaubensdespotie lässt sich kaum denken. Dies einen Akt der Vernunft nennen, ist der helle Wahn.

«Ob wir aus der Geschichte gelernt haben, wird sich in den nächsten Jahrzehnten zeigen», sagte Merkel in Washington nach einem Mittagessen mit Donald Trump.“

Ob wir aus der Geschichte gelernt haben, wird sich zeigen, wenn wir alle tot sind? Wer ist wir? Es handelt sich um den Plural der Minderwertigkeit, hinter dem sich individuelles Versagen versteckt. Wenn alle irren, fällt es nicht auf, wenn auch ich irre. Wenn jedes Lernen Jahrzehnte warten muss, um bestätigt oder widerlegt zu werden, können wir uns einbalsamieren lassen. Merkel glaubt nicht an die Lernfähigkeit der Menschen. Gott wäre überflüssig, wenn der Mensch lernend sein Schicksal bestimmen könnte. Lernen – verboten!

Rene Pfister ist es gelungen, verborgene Seiten der Kanzlerin ans Licht zu bringen. Sollte er mit seinem Artikel die Deutschen warnen wollen, wird er scheitern. Die Deutschen sehnen sich nach einer Heiligen an der Spitze. Ob sie wirklich fromm ist oder nur schauspielert, ist ihnen gleichgültig. Sie wollen betrogen werden – und also werden sie betrogen. Ihre nationale Identität wird von Merkels frömmelndem Gaukelspiel vortrefflich abgebildet.

Merkels Politik beschleunigt den Zerfall der EU. Ihre Wirtschaftsdominanz erdrosselt die schwächere Wirtschaftskraft der Verbündeten, ihre Eifersucht auf Macron blockiert das notwendige Zusammenrücken der EU-Mitglieder, ihr Quietismus lähmt das demokratische Engagement der Deutschen.

Von Montesquieus markanten Einsichten ist deutsche Identität weit entfernt. So weit wie Voltaire von Luther. Von Geburt aus Mensch? Das genügt nicht. Der biologischen Tatsache muss der bewusste Entschluss folgen, Natur in politische Kultur zu verwandeln. Der Mensch muss mit Leidenschaft wollen, dass alle Menschen eine Schicksalsgemeinschaft bilden, in der sich alle gleichwertig begegnen.

Verglichen mit diesem revolutionären Akt sind nationale Prägungen wie Landschaft, Küche und Rituale von untergeordnetem Belang. Söders Kreuzzug wird von Wickert nicht als demokratie-feindliche Aktion verurteilt:

„Denn trotz leerer Kirchen gehört ein bestimmter, über die Jahrhunderte gewachsener Ausdruck christlichen Gedankenguts zum unbewussten Teil der deutschen Identität. Söders Kreuz wird bei den nächsten Wahlen in Bayern Erfolg zeitigen. Weil es das Gemüt trifft. Insoweit hat das Kreuz eine Heimat in Deutschland, nicht der Islam. Das lässt sich genauso wenig leugnen, wie dass es Heimat oder eine deutsche Identität gibt.“

Wickerts „unbewusste Identität“ ist eine biographische Prägung, keine durchdachte und gewollte Identität. Sein bestimmt nicht das Bewusstsein. Es bestimmt nicht das Ich, sondern Ich bestimmt das Es. Wo Es war, soll Ich werden. Was auch immer der Mensch seine Heimat nennt: niemand denkt daran, sie ihm streitig zu machen. Mit politischer Identität aber haben zufällige Impressionen nichts zu tun.

Die gegenwärtige Weltpolitik leidet unter Abgrenzung, Selbsterhöhung, Fremdenfeindschaft und Verachtung anderer Völker.

Eine kosmopolitische Identität lädt ein, die Probleme der Welt in globaler Menschenfreundschaft zu lösen.

 

Fortsetzung folgt.