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Umwälzung LXIV

Hello, Freunde der Umwälzung LXIV,

zur deutschen Identität gehört keine Frau – sondern viele Frauen. Ihre Mütter sind für sie die Größten, sagen die Deutschen. Danach erst die Väter. Das klingt erstaunlich, doch wen soll man schon nennen, wenn große Deutsche einem partout nicht einfallen? Laut Umfrage des objektiven ZDF waren Adenauer, Luther und Marx die größten Deutschen. In dieser Liste hatten Frauen nichts zu suchen.

Zu den größten Vorbildern der Welt gehören Nelson Mandela, Michail Gorbatschow und Mahatma Gandhi: kein einziger Westler, kein einziger konfessioneller Christ, kein Angehöriger neoliberaler Welteliten, kein technischer Fortschrittler.

Inzwischen sind die Namen der drei in Deutschland verschollen. Nimmt man noch Martin Luther King, hätten wir einen weiteren Führer der Unterdrückten auf der Liste der Berühmten.

Laut Umfragen deutscher Medien gehört Günther Jauch regelmäßig zu den Größten der Einheimischen. Er bemüht sich redlich, das Bildungsniveau der Deutschen zu heben, damit das Land der Dichter und Denker wieder sichtbar werde. Würde Steinmeier – was Gott verhüten mag – ausfallen, wäre Jauch apolitisch genug, um dessen pastorales Amt ohne Qualitätsverlust zu übernehmen. Den Segen der Deutschen hätte er.

Gibt es eine deutsche Identität? Früher liebten sie das Wort Einfalt: eine Falte in der Seele. Das Urbuch der Deutschen heißt Simplicius Simplicissimus. Am Anfang war der zurückgebliebene einfältige Trottel, der nach Frankreich musste, um die große Welt kennenzulernen. Heute überfluten die Vielfältigen die Welt – um noch

deutscher und einfältiger zurückzukehren, als sie jemals waren. Weltimpressionen ohne Welterkenntnis lassen das Heimatliche noch heller leuchten.

„Deutsche Frauen, deutsche Treue,
deutscher Wein und deutscher Sang
sollen in der Welt behalten
ihren alten schönen Klang.“

Erneut keine deutschen Männer. Der Ruhm der Deutschen soll in die Welt hinaus dringen, der Ruhm der Welt auf keinen Fall nach Deutschland hinein. Das ist oberstes Gebot des deutschen Patriotismus, der sich merkwürdigerweise von Vater ableitet. Die zweite Strophe machte Mutter Merkels Erfolg erst möglich. Ob sie gut singen oder bechern kann, haben uns ihre Lieblingsmedien nicht mitgeteilt. Im Turnen war sie kein Vorbild, doch beim Erklimmen schwindelnder Höhen ist sie zäh wie Leder, verriet ihr alpinistischer Seelenfreund Messner.

Gäbe es eine wirkliche Identität der Deutschen – müssten ihre Vorbilder nicht ungefähr die gleichen sein? Wie kann sich bei solch einem Wirrwarr der Idole ein Gleiches herausbilden? Ist Identität nicht Triumph des Gleichen?

Was wäre das Gegenteil von Identität? Das Ungleiche, Verschiedene, das immer Wechselnde, das Konträre? Wäre Multikulti, einstiges Lieblingswort der Grünen, das gesuchte Gegenteil des Identischen: das Nicht-Identische, Bunte, in allen Farben Schillernde? Haben die Grünen ihre Multikulti-Euphorie abgelegt, sind sie zu Anhängern deutscher Identität geworden?

Wäre Identität die Fähigkeit, fremde Kulturen danach zu unterscheiden, ob sie demokratische Regeln beachten oder nicht, könnten die Deutschen nach Lage der Dinge keine Identität vorweisen. Der Unterschied zwischen allgemein geltenden demokratischen Gesetzen, die durch nichts aufgehoben werden können – und bunten Traditionen des täglichen Lebens, die – sofern sie jene Regeln beachten – nationale Eigenheiten nur bereichern, scheint in deutschen Landen unbekannt.

Dabei ist die Regel simpel: alles, was das Grundgesetz respektiert, soll als gleichberechtigte Lebensqualität begrüßt werden. Alles, was das Grundgesetz attackiert und verletzt, ist demokratiefeindlich und muss sanktioniert werden.

Nicht alle Regelverletzungen geschehen aus Hass gegen Forderungen humaner Freiheit. Vieles ist Flüchtlingen, die keinen demokratischen Alltag kennen, nur fremd und unbekannt. Weshalb sie eine bestimmte Angewöhnungszeit benötigen, um sich zu akklimatisieren.

Eine wehrhafte Demokratie lässt gesetzesfeindliche Taten nicht ungesühnt. Gleichwohl freut sie sich über das Andere und Fremde, das sich den Regeln der Polis nicht widersetzt.

Wie reagierte Deutschland, als nicht nur europäische, sondern auch außereuropäische Flüchtlinge muslimischen Glaubens einwanderten? Aus falscher Angst vor Illiberalität duldete die deutsche Gesellschaft fundamentalistische Predigten gegen Vernunft und Aufklärung – und bekämpfte harmlose Bekleidungssitten und Lebensgewohnheiten.

Kopftücher, die das Gesicht nicht verhüllen, verletzen keine basalen Grundrechte, wenn Symbole anderer Religionen erlaubt sind. Wer aber Kreuze in öffentlichen Gebäuden anbringen lässt, dürfte fremde Religionsmerkmale nicht verbieten – wenn er nicht gegen den Grundsatz der Gleichheit verstoßen will.

Unmissverständlicher wären laizistische Regeln, wonach alle religiösen Zeichen in öffentlichen Räumen nichts zu suchen haben. Glaubenssysteme sind privat und können in der Öffentlichkeit nur geduldet werden, wenn es der frommen Hermeneutik gelingt, ihre religiösen Überzeugungen in Demokratieverträglichkeit zu übersetzen.

In Deutschland wird alles Muslimische unterschiedslos geächtet, alles Christliche und Jüdische problemlos durchgewunken – auch wenn es mit demokratischen Grundrechten kollidiert. Selbst wenn Jesus oder Abraham höchstselbst etwas gefordert hätten: widersprechen ihre Forderungen dem Grundgesetz, müssen sie chancenlos bleiben.

Christentum und Judentum sind eine verhängnisvolle Kumpanei eingegangen. Ihre eigenen totalitären Glaubenskerne verharmlosen sie, den gleichen Glaubenskern der Muslime verdammen sie. Muslime lieben den Tod, wir lieben das Leben. So ziehen Christen & Juden eine scharfe Grenze zwischen der Religion Mohammeds und ihrer eigenen.

Geprägt durch Aufklärung haben Christen den unfehlbaren Kern ihrer Religion fürs tägliche Leben aufgeweicht, was nicht bedeutet, dass sie ihn eliminiert hätten. Sie haben ihn nur versteckt und beiseite geschoben, um ihre zeitgemäße Mitläuferideologie nicht zu unterlaufen. Kurz vor seinem Amtsende erinnerte der frühere EKD-Vorsitzende Schneider an die Existenz der Hölle, die kein seriöser Christ unterschlagen dürfe.

„idea: Rein statistisch ist im Neuen Testament mehr von der Hölle als vom Himmel die Rede. Was bedeutet Hölle für Sie?

Schneider: Daß unser Leben nicht belanglos ist, sondern Konsequenzen hat, daß Gott darüber beim Jüngsten Gericht ein Urteil fällen wird. Und dieses Urteil kann uns in Abgründe führen, also in die Hölle. Natürlich habe ich die Hoffnung, daß Gottes Gnade größer sein wird als alles, was ich mir vorstellen kann. Aber das darf ich nicht voraussetzen.“ (Evangelische Kirche im Rheinland)

Himmel und Hölle sind totalitäre Begriffe. Gehorsam gegen klerikale Gesetze wird mit unendlicher Seligkeit belohnt, Ungehorsam mit grenzenloser Pein bestraft. Hier zerreißt der aufklärungs-kompatible Schleier biblischer Deutungen. Vernunft und Autonomie werden hier ans Kreuz genagelt.

Auch der Islam beginnt, seine uralten Aufklärungsinhalte, die er jahrhundertelang verschüttet hatte, wieder zu beleben. Das ändert nichts an seinem totalitären Kern, der seine Geltung niemals aufgeben wird. Würde er es tun, könnten die zur Vernunft gekommenen Gläubigen auf eine kanonische Schrift verzichten. Koran und Bibel wären Bücher wie andere, die man mit Gewinn lesen kann oder nicht.

Unfehlbare Schrift und humane Deutung sind unverträglich. Alle Erlöserreligionen hassen das irdische Leben und sehnen sich nach dem Tod. Das Dasein auf Erden ist nur sündiger Vorlauf in Schmerz und Tränen, um das Leben in jenseitiger Seligkeit zu verdienen.

„Selig die Trauernden, denn sie sollen getröstet werden. Selig, die hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden.“

Die Vertröstung der Elenden auf einen Sankt Nimmerleinstag hätte auch Marx unterschreiben können. Das Opium des Volkes hob er auf, um es durch ein Opium des Proletariats zu ersetzen.

Die Bigotterie der Deutschen besteht in der Selbsttäuschung, als Christen aufgeklärt zu sein, während Muslime noch immer dem totalitären Kern ihres Glaubens verhaftet seien. Bei orthodoxen Juden schauen sie durch die Finger, weil sie diese „Toleranz“ als Teil ihrer tätigen Reue und Buße für ihre Völkerverbrechen betrachten. Hätten die Deutschen eine demokratische Identität, würden sie keine antidemokratischen Mücken seihen und Kamele schlucken.

Die Multikulti-Lässigkeit der Grünen übersah die totalitären Elemente der Erlöserreligionen. Die Gegner des Multikulti hingegen übersahen die Vielfalt der nicht-totalitären Anteile fremder Glaubenssysteme. Bei soviel Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit kann es keine Identität geben.

Identität ist vor allem Eindeutigkeit und Berechenbarkeit. Davon kann hierzulande keine Rede sein. In Urteilen über das Kopftuchtragen widerspricht ein Gericht dem anderen. Was die Polygamie muslimischer Männer betrifft, urteilen deutsche Gerichte einmal im Sinne muslimischer Scharia-Gerichte, ein andermal nach hiesigem Recht. Mit Rechtssicherheit hat das nichts zu tun.

Je eindeutiger die roten Linien der Identität, je gelassener könnten selbstbewusste Demokraten reagieren. Wer sich seiner Sache sicher ist, muss nicht jede Kleinigkeit mit dem Vorschlaghammer kurieren. Es ist die Attraktivität einer Demokratie, dass ihre Humanität vorbildlich und überzeugend wirkt.

Wer Demokratie mit Doppelmoral verwechselt und sie mit List und Gewalt anderen Völkern aufpfropfen will, hat sie verraten. Dass der Westen seine demokratische Überlegenheit nur noch durch wirtschaftliche Dominanz und militärische Stärke beweisen will, zeigt den Stand seines Niedergangs.

Fremde Kulturen, die schon lange unter der Doppelmoral des Westens litten, haben sich endgültig entschlossen, den Westen zu schwächen, indem sie alle nichtdemokratischen Systeme stärken.

Thea Dorn bezieht sich auf das deutsche Humanum, wenn sie eine patriotische Identität reklamieren will. Es scheint, als ob sie eher mit ihrer Bildung hausieren ginge, als eine von der Mehrheit unterstützte Intellektualität definieren zu können. Eine Umfrage ergab, dass Deutsche keinen einzigen Dichter noch Denker nennen können, den sie als Leitfigur der heutigen Demokratie zu schätzen wissen. Okay, Umfrage erlogen, das Ergebnis ist dennoch mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig.

Wie würden die Deutschen antworten, wenn man ihnen die Fragen stellte:

„Halten sie folgende Zitate für typisch deutsch?

„Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehen.“

„Er nennts Vernunft und brauchts allein, nur tierischer als jedes Tier zu sein“.

Erlösungsbedürftig wird der Mensch nicht durch Sünde, sondern durch sein „unstillbares Streben“.

Wer genial sein will, muss dem Prinzip folgen: “Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“

Das Böse ist heute „unbedingte Ruh“; das Gute der unbedingte Wille, alle Grenzen des Natürlichen und Menschlichen zu sprengen.“

Wäre Faust typisch deutsch, gäbe es scharfe Klassengegensätze. Doch, Faust ist typisch deutsch – für deutsche Eliten. Kreative Eliten kennen keine Moral, wenn sie ihre Macht über Mensch und Natur mit skrupellosen Methoden erweitern. Das niedere Volk schaudert vor dem amoralischen Zynismus ihrer Leistungsträger. Da es aber von jenen abhängig ist, halten sie Arbeitsplätze für wichtiger als reine Moral – aber mit großem Bauchgrimmen, das sie unterdrücken müssen.

Das faustische Prinzip gilt als urdeutsches Lebensmotto. Wie viel Prozent der Deutschen kennen es? Wie viele würden es für richtig halten, wenn sie wüssten, worum es geht? Goethe als Identitätsstifter der Deutschen? Oder Kant? Schiller? Warum gibt es keine Umfragen, um das Wissen der Deutschen über ihre identitäts-stiftende Kultur herauszufinden?

Die norddeutschen Bundesländer wollen einen neuen Feiertag nach Luther benennen. Luther war der verhängnisvollste Antisemit, der erbarmungsloseste Feind aller irdischen Gerechtigkeit, der schrecklichste Verächter der Frauen: Weiber sollen Kinder gebären und verrecken, dafür hat Gott sie erschaffen. Für Protestanten ist Luther ein Frauenfreund, weil er eine entlaufene Nonne heiratete. Er war ein Vertreter totalitärer Staatsgewalt: alle Obrigkeit kommt von Gott. Auch die schlimmsten Tyrannen sind von Gott eingesetzt. Vernunft und autonome Moral waren für ihn Erfindungen des Teufels. Wer sich auf moralische Taten (Werte) beruft, soll zur Hölle fahren. Irdische Freiheit kommt bei Luther nicht vor. Moderne Moralverächter können Merkel die Hand reichen: sie sind gute Lutheraner.

Die Linken verehren Marx noch immer, obgleich kaum einer von ihnen in einem marxistischen Staat leben wollte. Noch immer nehmen sie nicht wahr: Marx war rassistischer Sozialdarwinist und Feind aller politischen Autonomie, der die Menschen einer omnipotenten Geschichte unterwarf.

Lutherische, marxistische Identität der Deutschen?

Wenn es schon keine deutsche Identität gibt, dann hoffentlich eine europäische oder westliche? Europa zerbricht, der Westen kollabiert. Bücher, die den Niedergang der Demokratie beschreiben – in klammheimlicher Hoffnung oder unverfrorener Dreistigkeit – nehmen überhand. In Deutschland wird jede moralische Utopie als geistige Krankheit diffamiert, in Silicon Valley werden technische Visionen und totalitär überwachte Staaten in höchsten Tönen gerühmt – und die deutschen Intellektuellen jubeln.

In seiner „Lage zum Tag“ nennt Dirk Kurbjuweit im SPIEGEL zwei Bücher. Das eine ist von Patrick Deneen, der kühn behauptet, die Demokratie sei bereits an ihrem Paradox gescheitert. Dem Paradox einer totalen Freiheit:

„Die Freiheit drängt ins Totale, in die totale Freiheit, die aber so zerstörerisch ist wie alle totalitären Systeme, hier durch Exzesse des Ökonomismus, durch Zerstörung von Werten, durch eine Diktatur der Technologie, die das Menschliche im Menschen überwinden wird, indem sie ihn mit den Maschinen verschmelzen lässt.“ (SPIEGEL.de)

Nichts in einer Demokratie ist total oder absolut. Alles, was sich total setzt, ist totalitär. Freiheit in einer Demokratie ist die Freiheit aller und nicht die eines Einzelnen, der vor Kraft nicht laufen kann. Die Rechte anderer achten, ist für Demokraten keine Einschränkung der Freiheit, sondern ihre freudige Konkretisierung. Wer seine eigene Person für absolut setzt, ist kein demokratischer Liberaler, sondern ein monströses Ebenbild Gottes. Woher der Wind bei Deneen weht, zeigt der folgende katholische Artikel:

„Die Stärken liberaler Demokratien würden vorwiegend auf kultureller Substanz beruhen, die der Liberalismus als gegeben voraussetze, ohne ihren religiösen Ursprung zu verstehen. Diesen würde der Liberalismus als irrational oder irrelevant ansehen, weshalb er kulturelle Substanz nicht regenerieren könne und sie zunehmend verbrauche. Für Christen ergebe sich daraus der Auftrag, dem Eindringen liberaler Ideologie in die Kirche entgegenzuwirken und Räume zu schaffen, die auch nach der Selbstzerstörung liberaler Gesellschaften funktionsfähig blieben.“ (Bund Sankt Michael)

Säkularer Liberalismus zerstöre sich selbst, weil er nicht in Gott gründe. Demokratie werde untergehen. Also sollten sich die Christen auf eine nachdemokratische Epoche vorbereiten. Das ist ein subversiver Anschlag gegen die Demokratie im Namen der Religion, die sich brüstet, den wahren Liberalismus erfunden zu haben: die Freiheit in Gott, identisch mit absolutem Gehorsam gegen jede Obrigkeit.

Das zweite Buch, das Kurbjuweit nennt, ist von Kishore Mahbubani, einem Politologen aus Singapur.

„Sein neues Buch beginnt so: „Warum fühlt sich der Westen so verloren? Die Antwort ist simpel. Im frühen 21. Jahrhundert ist die Geschichte um eine Ecke gebogen, vielleicht die wichtigste Ecke der Menschheit – aber der Westen weigert sich, diese neue historische Ära zu akzeptieren oder sich ihr anzupassen.“

Vor zehn Jahren führte Kurbjuweit, zusammen mit seinem Kollegen Feldenkirchen, ein Gespräch mit dem Autor (SPIEGEL.de):

Mahbubani attackierte den Westen aus allen Rohren:

„Millionen Menschen haben unter dem Export der westlichen Demokratie gelitten. Die hat der Westen auf dem Gewissen. Jede Gesellschaft entwickelt ihre eigene Kultur, ihre eigenen Regeln. Die Zeit der Belehrungen ist vorbei. Es gab mal eine ungewöhnliche Epoche, in der der Westen die Welt dominiert hat, sie kolonialisiert, sie kontrolliert hat. Diese Epoche ist jetzt vorbei. Endgültig. Hört endlich auf, uns zu erzählen, wie wir unsere Gesellschaften organisieren sollen! Werdet klüger, werdet einfühlsamer in eurem Verhältnis zum Rest der Welt. Lernt, anderen zuzuhören. Ansonsten wird es jenen Kampf der Kulturen geben, den ihr so fürchtet. Es ist wie in einer Schulklasse. Wenn einer den Rest die ganze Zeit tyrannisiert, entstehen Hass und Zorn. Der Westen war der Klassentyrann der letzten 200 Jahre. Auch Deutschland hat all seine moralische Glaubwürdigkeit verloren und sollte andere nicht über Menschenrechte belehren. Echter moralischer Mut wäre es, wenn Frau Merkel in den Gaza-Streifen ginge und auf das Unrecht dort hinweisen würde. Aber dieser Mut fehlt ihr offenbar. Wenn man andere belehren will, muss man darauf achten, dass man nicht nur die schwachen Länder belehrt, sondern auch die starken. Ihr müsst euren Einsatz für Menschenrechte mal unter Beweis stellen, wenn es euren eigentlichen Interessen widerspricht. Wenn es unangenehm wird. Deshalb rate ich Ländern wie Deutschland: Shut up! Redet nicht mehr über Menschenrechte! Wegen der Reaktion auf den 11. September. Seit der Westen sich bedroht fühlt, gerät Ihre ganze Freiheitsphilosophie ins Wanken. Plötzlich darf der Staat seine Bürger nach Belieben überwachen. Sie haben Ihre Freiheitsrechte über Bord geworfen. Und niemand schreit auf. In den vergangenen 200 Jahren war der Austausch von Ideen eine Einbahnstraße. Die meisten guten Ideen kamen aus dem Westen. Jetzt wird es Zeit, dass die Ideen auch in die umgekehrte Richtung wandern.“

Das ist eine Standpauke, die sich gewaschen hat – und niemand dürfte sagen, sie sei an den Haaren herbeigezogen. Sie war überfällig und müsste von jedem Westler regelmäßig inhaliert werden. Alle heutigen Probleme sind Folgen dieser Frontstellung ehemaliger Kolonialstaaten gegen den hochmütigen und menschenschindenden Westen.

Man muss nicht alle Einzelheiten des Anklägers bejahen, um seine grundsätzliche Analyse für richtig zu halten. Obgleich Kurbjuweit und Feldenkirchen zu den kritischeren Geistern des SPIEGEL gehören, sind sie nicht in der Lage, ihren Gesprächspartner zu verstehen, seine Vorwürfe prinzipiell für wahr zu halten und westliche Selbstkritik zu üben. Ihre „Fragen“ sind ungewöhnlich gereizt und aggressiv. Offensichtlich trafen die Angriffe ins Schwarze.

Heute wäre ein solches Gefecht kaum noch möglich. Damals konnte man noch die Reste eines zu Ende gehenden globalen Weltbewusstseins erleben. Heute haben sich West und Ost, ehemalige Kolonialherren und -sklaven, nichts mehr zu sagen. Man erbaut Mauern und vertieft die Gräben. Die Sprache, die noch gesprochen wird, ist die der Bedrohung und der Waffen.

Einen Dialog der Weltkulturen gibt es nicht mehr. Der Westen hat nicht verstanden, was in jenen Ländern vor sich ging, die sich von seiner Dominanz losrissen. Er glaubt sich auf der sicheren Seite der Geschichte, wenn er Demokratie skandiert.

Demokratie muss herhalten, um alle Menschenrechtsverletzungen, von unfairer Wirtschaftsknebelung bis zu militärischer Besetzung, zu rechtfertigen. Dass Neoliberalismus allein ausreicht, um alle westlichen Demokratien als Orgien der Ungerechtigkeit zu entlarven, wollen die Selbstgerechten des Westens nicht wahrhaben.

Nun schlagen die Geschlagenen zurück. Womit? Mit noch effizienterer Ökonomie und einer immer überlegener werdenden Technik. Wer Wind gesät hat, erntet jetzt den Sturm. China wird eines Tages die Weltmacht Nummer eins werden und Amerika ablösen. Da beißt keine Maus den Faden ab.

Das wissen alle Westeliten. Die Frage, die sie sich stellen, ist einfach: sollen wir China gewähren lassen und uns dem neuen uralten Weltreich der Mitte unterwerfen – oder muss es einen dritten Weltkrieg geben, um die ultimative Vorherrschaft des Westens für immer zu besiegeln?

Theo Sommer hat China einen Artikel gewidmet:

„Xis Führungswille verändert das globale Mächtemuster. Nicht länger sieht er die Volksrepublik als Regionalmacht. Der Präsident will sie ins „Zentrum der Weltbühne“ rücken. Zur größten, zur führenden Wissenschaftsmacht will er sie machen, zur stärksten Militärmacht, zur Innovationsgroßmacht, zur Anführerin im Kampf gegen den Klimawandel, zur Weltfußballmacht – in einem Wort: zur Weltführungsmacht. Eine „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ will er aufbauen, der er „weise chinesische Ideen für Problemlösungen“ anbietet und eine „Harmonie der Vielfalt“, was nichts anderes heißt als die kompromisslose Anerkennung aller chinesischen Positionen.“ (ZEIT.de)

Sommer glaubt nicht an die ultimative militärische Auseinandersetzung:

„Chinas Wiederaufstieg zu Macht und Reichtum hat die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Weltordnung bereits ausgehebelt. Im Streben nach der Nachfolgeordnung werden Deutschland und China nicht durchweg auf der gleichen Seite stehen. Doch wenn sie sich auf die gemeinsamen Interessen konzentrieren, zumal die Meisterung des Klimawandels und die Bewahrung und Fortentwicklung des Freihandels, werden sie die Konflikte leichter abfedern können, die zwischen ihnen entstehen mögen.“

Was Sommer aber ignoriert, ist die Perspektive der Amerikaner. Was denken Donald Trump, John Bolton und ihre apokalyptischen Endzeit-Horden? Kann Gods own country in Zukunft noch eine Prise Vernunft walten lassen?

Deutschland und die EU sind dabei, ihre einstige Vorbildlichkeit auf dem Altar der Rückgratlosen zu opfern. Jeder Weltmacht werden sie sich beugen. Dennoch tun sie, als ob sie aus Quotengründen mitzündeln müssten. Anstatt eine vorbildliche Staatengemeinschaft zu sein und für friedliche Kooperation der Nationen einzutreten, haben sie nichts Besseres zu tun, als Hubschrauber zu bestellen, die nicht fliegen und U-Boote, die nicht tauchen können. Weder wagen sie den Frieden, noch rüsten sie ernsthaft für den Krieg. Alles was sie tun, ist fahrlässiges Als-Ob.

Lauheit, Geistesverlassenheit und moralische Duckmäuserei stiften keine Identität. Die Lauen wird der Herr aus seinem Munde spucken.

 

Fortsetzung folgt.