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Umwälzung LXII

Hello, Freunde der Umwälzung LXII,

okay, schaffen wir die Moral ab.

Heldenhaft kämpfen die Deutschen – nicht gegen Vernichtung der Natur, gegen die Verwüstung menschlicher Beziehungen, gegen den drohenden Untergang des homo sapiens. Sie kämpfen gegen das einzige Mittel, mit dem man all jene Gefahren bannen könnte. Sie wüten und toben gegen die Moral.

Die deutsche Ideologie lautet: Nicht Gutes bewirkt Gutes, nur Böses kann uns von allen Übeln befreien. Dabei geht es nicht um Fragen: Was ist das Gute? Welche der vielen Moralen ist fähig, uns aus dem Schlamassel zu ziehen? Es geht um generelle Abschaffung der Moral.

Kinder werden geboren und mit Moral erzogen. Werden sie erwachsen, wird ihnen Moral aus dem Leibe geprügelt. Nicht mehr mit dem ehrlichen Prügel, sondern mit erfundenen Natur- und Geschichtsgesetzen, die keine Menschengesetze sein dürfen: mit Ausschluss, Deklassierung, Verelendung und Verderben. Die Moral der Kindheit muss von der Amoral der Erwachsenen lebenslang unterdrückt und mundtot gemacht werden. Amoral wurde für unpolitische Deutsche zum Elixier der Machtpolitik, mit der sie endlich Anschluss fanden an ihre mächtigen Nachbarstaaten.

Moral wurde zum Bezähmungsmittel der Kleinen, der Untertanen, des Pöbels und der Massen. Für Führungsklassen und politisch Denkende verschmolz Amoral mit der Moral der Machtinteressen – die mit dem Namen Machiavelli verbunden wurden. Machiavellismus der Herrschenden wurde schließlich zur Moral der Untertanen, um ihnen das erhebende Gefühl zu geben, zu den Herrschenden zu gehören. Amoralische Interessen wurden Opium fürs Volk, um den Unfreien Illusionen von Freiheit und Macht zu verschaffen. Woran erkennt man den gefügigen Untertanen? Dass er

gehorsam bleibt bis zum Tod. Denn er fühlt sich gar nicht als Untertan, sondern als Mitglied derer, die das Sagen haben  weil er am Stammtisch so herrlich gegen Moral schwadroniert.

Im Bereich der Familie und des Dorfes galt die Moral der Fürsorglichkeit. Zwischen Oben und Unten herrschte eine Machtmoral, sie sich als patriarchalische Fürsorglichkeit ausgab. Im Bereich internationaler Außenbeziehungen herrschten Gesetze des Machiavellismus.

Solange die Völker auf sich allein gestellt waren, mussten sie externe List und Gewalt anwenden, um nicht unterzugehen. Je mehr sie zusammenrückten und sich als Weltgemeinschaft zu verstehen begannen, je mehr verwandelte sich die bisherige Binnenmoral zur planetarischen Weltmoral – mit Ausnahme der ungehemmten Machtgesetze zwischen Habenden und Überflüssigen, die sich in allen Völkern einnisteten.

Werden alle Menschen zu Schwestern und Brüdern, muss das Monopol der Macht einer solidarischen Völkermoral weichen. Das war – nach dem Völkerverbrechen der Nationalsozialisten – die vorbildliche Nachkriegszeit unter der Ägide der UNO.

Warum erleben wir seit wenigen Jahren den Rückfall in den früheren Barbarismus völkischer Einzelinteressen? Aus drei Gründen:

a) Der rücksichtslose Egoismus der Jahrhunderte lässt sich in wenigen Generationen nicht aus den Herzen der Menschen entfernen.

b) Solange die christliche Religion den Westen beherrscht, regiert die Antinomie der christlichen Moral: alles ist erlaubt, wenn es im Namen des Glaubens erfolgt. Ein klares Gut oder Böse – Kennzeichen aufgeklärter Autonomie – existiert nicht. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich: hier geht es um unbedingte Loyalität mit einer Person, nicht um personenunabhängige Ethik.

Medien verabscheuen das Entweder-Oder, in der Meinung, dies sei „manichäisch“ (sie meinen christlich, trauen sich aber nicht, das Christentum anzugreifen). In einem Eingottglauben gibt es kein strenges Entweder-Oder, kein striktes Gut oder Böse. Denn der eine Gott ist Gott und Teufel, Gut und Böse in einer Person.

Im Tohuwabohu zwischen griechischer Autonomie und religiöser Heteronomie sind alle Zuschreibungen ver-rückt. Das strenge Entweder-Oder soll manichäisch sein, damit das Christentum unbehelligt bleibe. In Wirklichkeit entstammt es heidnischer Logik.

Wenn Edelschreiber die Grautöne bevorzugen, glauben sie, dem Zwang eines verdorbenen Christentums entronnen zu sein, ohne zu bemerken, dass ihre Vorliebe für Grautöne noch immer der alles-erlaubenden Antinomie des Christentums verhaftet bleibt.

Was sie überdies verwechseln, ist der faktische Widerspruch der Menschen – in denen Gutes und Böses psychisch gegeneinander stehen –, mit dem logischen Widerspruch des Normativen. Es gibt psychische Widersprüche – sie sollen aber nicht sein, damit der Mensch eindeutig werde. Eindeutig werden ist das Ziel des reifen Menschen, der mit sich identisch werden will.

Psychische Gesundheit ist Widerspruchslosigkeit. Wer mit sich ins Reine kommen will, muss seine Widersprüche erkannt haben, um sie nach und nach zu überwinden. Neurosen und Psychosen sind unerkannte Widersprüche, die einem das Leben schwer machen, ohne dass man die Ursachen seines Unwohlseins kennen würde.

Unangepasstheit ist nicht das Kennzeichen einer psychischen Krankheit (denn Massenneurose schützt vor Einzelneurose), sondern mit sich im Kampf liegen. In einer kranken Gesellschaft sind Gesunde Außenseiter. Als solche aber sind sie per se nicht krank.

Religiöse Regression ist vor allem eine direkte Antwort auf überhand nehmende Probleme, deren Lösung die Menschheit sich immer weniger zutraut. Je hilfloser Menschen werden, je mehr flüchten sie unter die Obhut allmächtiger Götter. Gibt es keine Hoffnung mehr, flüchten sie in die Selbstbetäubung eines beschleunigten Untergangs.

c) Die interne Herrschaftsmoral kapitalistischer Demokratien zerstört von innen die Norm der UN-Menschenrechte. Als der Neoliberalismus die letzten Selbstbeschränkungen des Kapitalismus über Bord warf, überschwemmte eine Sintflut an Amoral alle kapitalismus-beherrschten Nationen.

Sowohl von neoliberaler als auch von marxistischer Seite hören wir, dass die Entwicklung des Kapitalismus nichts mit Moral zu tun habe. Seine Überwindung auch nicht: ein autonomer Geschichtsprozess lässt den triumphalen Kapitalismus bis zu seiner Vollendung expandieren. Dort schlägt Vollendung um in totale Selbstzerstörung – identisch mit dem Punkt tiefster Erniedrigung der Proleten, die über Nacht aus Letzten Erste werden. Nicht aus eigener Kraft, sondern dank der automatischen Fähigkeit der Geschichte, aus Bösem Gutes zu tun.

Beide Seiten des Kalten Krieges verschmähten Moral. Wen wundert es, dass ihre Nachfolger auf Moral gänzlich verzichten können?

Es kann auch nicht verwundern, dass Moral im Westen verschmäht wird. Verwunderlich ist höchstens, dass der Westen sich moralisch aller Welt überlegen fühlt. Woher kommt diese absurde Fehleinschätzung? Von Resten ihrer demokratischen Aufklärung, die sich in den Verfassungen der Völker niederschlugen. Sie schauen auf den Buchstaben ihrer Ursprungsmanifeste und sind überzeugt, dass diese mit dem Geist – nicht dem Buchstaben – ihrer Frohen Botschaft identisch sein müssen. Mit dem Herzen lernen sie Religion, mit dem Kopf Demokratie. Kommt Demokratie ins Wanken, siegt das heiße Herz über den abstrakten Kopf.

Die Verfassungen der Demokratien sind moralisch – aber kraftlos. Die Köpfe der Demokraten sind moralisch – sofern man bereit ist, Politik und Moral gleichzusetzen.

Warum dürfen Demokratien nicht moralisch sein? Weil die abendländischen Staaten Erben Augustins und Luthers sind. Staat ist für sie eine civitas diaboli, also von minderwertig-sündiger Potenz. Kirche hingegen ist für sie eine Stadt Gottes, eine vollkommene Einrichtung.

Demokratie ist eine politische Moral. Deshalb wird sie von Christen instinktiv als Hybris der Heiden abgelehnt. Wenn überhaupt, ist Moral eine Tugend des Privaten – die Polis hingegen muss eine sündige Einrichtung bleiben. Nächstenliebe der Frommen ist nur die situative Reaktion auf einen Notfall, der von Gott den Menschen vor die Füße geworfen wird. Ist der Notfall behoben, kann der Helfer ins Dunkel der Geschichte abschwirren.

In der Polis ist Menschenfreundlichkeit ein allgemeines Gesetz, mit dem sich die Menschen verlässlich und berechenbar unterstützen. Hier wird nichts dem Zufall überlassen. Bei den Griechen ist Menschenfreundlichkeit die Sorge aller für alle. Privatistische Fürsorge war für sie idiotisch. Denn alles Unpolitische war Idiotie. Der Rückfall politischer Fürsorge in die Zufälligkeit einer atomisierten Liebestat war der Rückfall aus einem allgemeinen, jeden Menschen betreffenden Solidarakt in eine apolitische Idiotie.

Christen werfen der heidnischen Polis kalte Lieblosigkeit vor. Sie hätte ihre Schwachen und Notleidenden im Stich gelassen. Das ist das Gegenteil der Wahrheit. Die ganze Verfassung der Polis war eine Einrichtung der Gerechtigkeit. Solon begrenzte den Reichtum der Reichen und erklärte die Schuldscheine der Armen für ungültig. Als das politische Engagement in Athen immer mehr Zeit erforderte, wurden Tagesgelder (Diäten) ausgezahlt, um den wirtschaftlich Schwachen zu ermöglichen, sich ebenso für ihre Polis einzusetzen wie die Reichen.

„Der athenische Staat unterstützte nicht bloss die im Kriege Verstümmelten, sonder alle Bürger, die wegen körperlicher Gebrechen nicht ihren Unterhalt erwerben konnten. Auch die Kinder der Gefallenen wurden bis zu ihrer Grossjährigkeit unterstützt.“ (L. Schmidt, Die Ethik der alten Griechen)

Noch heute gilt bei uns unpolitisches Almosengeben höherwertiger und „liebevoller“ als unpersönliches Ausgeben der Staatsknete. Kann ein Ausdruck hässlicher sein als dieser, der vom kalten Staat Faulenzern und Parasiten vor die Füße geworfen wird? Dabei ist sie keine Gabe des Staates – den es in einer vitalen Demokratie nicht geben kann –, sondern die Gabe moralischer Menschen an gleichwertige Menschen. Anerkannte Menschen haben das elementare Bedürfnis, nicht nur für sich, sondern für das Gemeinwesen tätig zu sein. Sie müssen dazu nicht durch materiellen Lohn und soziale Demütigung motiviert oder gar gezwungen werden.

Die Bedeutung der Moral ist klassenabhängig. Die unteren Klassen, ohne Aufstiegsschäden, aber imprägniert mit dem Schuldgefühl, versagt zu haben, sind der Moral ihrer Kindheit noch am nächsten. Kein Wunder, dass sie von den Oberen wie Kinder und Unmündige behandelt werden.

Eliten kennen keine Moral im Gebiet ihrer Tüchtigkeit. Sie kennen nur Effizienz und Erfolg. Die Ökonomen im Gebiet des Produzierens und Geldmachens, die Intellektuellen im Gebiet des genialen Geistes und der Kunst – zwei Gebiete jenseits vulgärer Moral. Wer kreativ und abenteuerlich ist, kann sich keine berechenbare, immer gleiche Wiederholungsmoral leisten. Er steht entblößten Hauptes vor dem Genius des Unberechenbaren und Vernunftlosen. Weshalb Trump ein amerikanisches Genie sein muss, das mit magischen Methoden den gordischen Knoten durchhauen kann, jenen Knoten, der für normale Sterbliche unlösbar ist. (ZDF-Kleber)

Kunst ist das Reich der höheren Geister, die sich mit ordinärer Politik nicht abgeben. Das hat sich in der späten Klassik und frühen Romantik herausgemendelt und ist bis heute das Unterscheidungsmerkmal deutscher Klassen geblieben. Brandgefährlich wurde es, als künstlerische Freiheit ins Reich der Realität abstieg und Visionen des Heiligen und Enthemmten in Politik verwandelte. Die NS-Despotie war die Herrschaft ästhetischer Schwärmer, die sich von nicht-ästhetischen Spießern und Moralisten nicht das Gesetz des Handelns vorschreiben lassen wollten.

Eine Klassengesellschaft erkennt man nicht nur an der verzerrten Verteilung des Mammons, sondern an der unterschiedlichen Wertigkeit der Moral. Wenn Eliten aus bestimmten Gründen die moralische Kompetenz des Pöbels benötigen, loben sie die Willkommenskultur der Bevölkerung beim Empfang der Flüchtlinge über alle Maßen. Wenn aber die Flüchtlinge „uns nur Unsummen kosten“, außer kriminellen Taten nichts bringen, verwandelt sich der Pöbel in einen dämlichen Moralisten, dessen Gutmenschlichkeit dem Staat allerhand eingebrockt hat.

Für Machiavellisten der Führungsklassen ist Moral nur ein Reglementierungsmittel der Massen. Ansonsten haben sie nur zynischen Spott übrig für den ekelhaften Gestank der Tugend. Inwieweit haben sich die Deutschen nach dem amoralischen Desaster des Dritten Reiches moralische Kompetenz angeeignet? Die Aufarbeitung ihrer Völkerverbrechen war eine politisch-moralische Aufgabe. Persönliche Moral sollte demokratische Politik möglich machen. Ist ihnen die Lösung der Aufgabe geglückt?

Für Führungsklassen ist diese Frage falsch gestellt. Denn Politik habe mit Moral so wenig zu tun wie privates ökologisches Wohlverhalten mit Klimapolitik. Dass persönliche Moral jener Fond ist, aus dem politische Entscheidungen getroffen werden, ist für deutsche Untertanen und Tüchtigkeits-Barbaren nicht nachvollziehbar. Politische Entscheidungen fallen nicht vom Himmel. Sie werden im Bauch der Moral gezeugt und erblicken das Licht der Welt als politische Säuglinge, die ihre mitgebrachten Qualitäten im Reich der Realität überprüfen, bewähren und korrigieren müssen. Stets haben moralische Urgründe das letzte Wort beim Beurteilen ihrer politischen Folgen.

Die Medien halten sich für besonders qualifiziert, den moralischen Charakter ihres Publikums zu bewerten, Warum? Weil sie glauben, außerhalb der Moral zu stehen. Ihre Objektivität ist das noli-me-tangere gegenüber jeder moralischen Parteilichkeit. Moral ist für sie nichts als das subjektive Interesse diverser Klassen und Gruppen. Wer sich hier ein unbefangenes Urteil erlauben wolle, müsse jede Nähe zur Moral meiden wie die Pest. So machen sie sich weder mit dem Bösen noch mit dem Guten gemein.

Ein unglaublicher Satz: es ist eine Gemeinheit, Partei zu ergreifen für das Gute. Damit hätten die Edelschreiber niemals Widerständler sein können gegen die NS-Schergen. Per definitionem lehnen sie die Aufarbeitung ihres Versagens ab.

Die deutschen Medien müssen sich völlig neu erfinden. Tun sie es nicht, bleiben sie Wasserträger der Mächtigen, deren Machenschaften sie mit Talmibegriffen dekorieren. Keiner einzigen Verwüstung des Landes boten sie bislang energisch Widerstand. Den Neoliberalismus begrüßten sie begeistert als Befreiung vom sozialen Muff des rheinischen Kapitalismus. Da der Neoliberalismus England und Amerika erobert hatte, witterten die deutschen Medien Weltniveau, wenn sie sich dem Geist ihrer Befreier unterwerfen würden. Von Anfang an wurden Oskar Lafontaines Bedenken gegen Schröders Anschluss an Blair als Bremsspuren eines Neandertalers verspottet.

Die ökologische Bewegung wurde anfänglich unterstützt, als sie noch weltenweite Spuren hinterließ. Als der Neoliberalismus aus Macht- und Profitgründen auch die Ökologie erstickte, gingen sie abrupt auf Distanz und warnten vor apokalytischem Alarmismus und unbewiesenen Aussagen der Wissenschaftler.

„Anfangs standen die Journalisten hier Schlange für Interviews. Dann wurde das fiese Wort des „Alarmismus“ geprägt. Es stammt aus reaktionären amerikanischen Kreisen und wurde begierig von interessierter Seite in Deutschland aufgegriffen: Hasselmann, Crutzen, Schellnhuber und andere Warner aus der Wissenschaft, das sind Unken und Spaßbremsen. Wer dagegen relativierte und runterspielte, war besonnener Realist. Ich erinnere mich an ein Interview 1995, als Journalisten mich regelrecht aufzustacheln versuchten, die Klimakrise noch dramatischer darzustellen. Zehn Jahre später haben die Medien dann eine Kehrtwendung vollzogen und uns als lächerliche Apokalyptiker hingestellt.“ (Schellnhuber in der SZ)

Poschardt predigt leidenschaftlich gegen antisemitische Amoral und setzt sich ein im Kampf gegen Einschränkungen der journalistischen Meinungsfreiheit. Den moralischen Kampf gegen ökologische Verwüstungen hält er indes für – albern.

Da Medien immer einen wechselnden Zeitgeist als Quotengarantie benötigen, können sie es sich nicht erlauben – denken sie –, sich vom Firlefanz des Tages unabhängig zu machen. Dem flüchtigen Tage verpflichtet zu sein, haben sie im Begriff ihres Berufs verewigt. Über den Tag aber ist nicht nur zu berichten. Er muss auch bewertet werden. Bewertet aber kann er nur werden mit übertägigen Wahrheitsbegriffen. Demokratie ist ein Wahrheitsbegriff. Wer Wahrheit aus dem demokratischen Wesen eliminieren will, eliminiert die Demokratie.

„Das Parlament ist nicht dazu da, die Wahrheit zu finden. Es wäre daher sinnvoll, von der Idee Abschied zu nehmen, es könne den öffentlichen Raum wirklich geben. Polis, Piazza, Marktplatz – diese Foren der Politik gibt es schon lange nicht mehr. Moderne Gesellschaften sind zu groß, zu fragmentiert.“ (WELT.de)

Thomas Schmid geht so weit, Walter Lippmanns Absage an die Demokratie als vorbildlich zu zitieren:

„Weder von Öffentlichkeit noch von Demokratie hielt er besonders viel. Er schrieb: „Ich denke, Demokratie ist eine abwegige Idealvorstellung.“

Das ist eine Absage an die Demokratie – und die Demokratie reagiert nicht mehr. Auch die Medien nicht. Schmid schändet Demokratie zu einer anonymen Megamaschine jener Art, wie Lewis Mumford sie in seinem monumentalen „Mythos der Maschine“ beschrieben hat.

Setzt ein Prominenter sich ausnahmsweise gegen antidemokratische Elemente ein, wird er sofort als selbsternannter Gutmensch disqualifiziert.

„Jan Böhmermann – die selbsternannte Spitze des Guten. Böhmermann versucht nun einen „Aufstand der Anständigen“. Er meint: „Wir haben aus Versehen eine Bürgerrechtsbewegung ins Leben gerufen.“ Das ist kokett, denn Böhmermann macht wenig aus Versehen. Und er gibt die Speerspitze des Guten wohl ganz gern. Womöglich hinterlässt die „Rückeroberung“ vor allem eines: ein noch größeres Schlachtfeld, noch mehr Polarisierung.“ (SPIEGEL.de)

Selbst-ernannt: nichts ist schlimmer als ein Selbst zu sein im Land derer, die von Oben berufen und ernannt werden müssen. Selbst ist Autonomie. Wer sich in einer Demokratie autonom betätigt, ist ein Angeber. Vollends absurd wird es, wenn Moralisten vorgeworfen wird, sie verstießen gegen ihre eigenen Tugendnormen. Ist das nun ein Plädoyer für oder gegen Moral?

Petitionen sind Überprüfungsmittel einer aufmerksamen Gesellschaft. Im SPIEGEL werden sie lächerlich gemacht. Was sollen sie bringen? Hier machen sich nur einige Gutmenschen wichtig.

„Deutschland im Petitionsrausch. Ob gegen Hartz IV oder für das Comeback der Glühbirne: Immer mehr Menschen nutzen Onlinepetitionen, um sich Gehör zu verschaffen. Warum? Und was bringt das überhaupt?“ (SPIEGEL.de)

Jan Fleischhauer schäumt vor amoralischer Empörung gegen Moral:

„Jan Böhmermann will jetzt Politiker sein. Er hat sich vorgenommen, das Internet in einen Platz zu verwandeln, in dem Liebe und Vernunft regieren. Das habe ich nicht erfunden, um ihn lächerlich zu machen, das hat er selbst so gesagt. Die Wirklichkeit zu kommentieren, reicht Böhmermann nicht mehr, er will sie gestalten. Im „Neo Magazin Royale“ kann man sehr schön sehen, was passiert, wenn Humor Gutes bewirken soll. Humor zieht seine Kraft aus allem Möglichen, aus dem Tragischen, dem Albernen, dem Anarchischen. Nur die Pädagogik ist als Schürfgebiet leider denkbar ungeeignet. Vermutlich hat Böhmermann einen zu kleinen Schwanz. So wie Donald Trump.“ (SPIEGEL.de)

In einer Demokratie hat jeder mitzugestalten, sonst ist er kein Demokrat. Wie Schmid plädiert Fleischhauer für Abschaffung einer lebendigen Demokratie. Lieber mit zynischem Humor untergehen als mit Moral überleben. Sollte die Menschheit einst über Bord gehen: wie werden sie sich krümmen vor Lachen. Humor gilt als Teil der höheren Ästhetik und ist keiner Politik untertan. Pädagogik muss in Deutschland ein humorfreies sado-masochistisches Unternehmen sein.

In einem Interview mit der „Jüdischen Allgemeinen“ will Fleischhauer den Deutschen jedes Eintreten für Menschenrechte geradezu verbieten. Als Deutsche seien sie besonders unqualifiziert, Israels Besatzungspolitik zu kritisieren:

„Herr Fleischhauer, Klappe halten und U-Boote liefern: Auf diese Formel haben Sie einmal die von Ihnen favorisierte Israelpolitik der Bundesregierung gebracht. Wie sehen Sie das heute?
Noch ganz genauso. Es gibt in Deutschland die seltsame Obsession, unbedingt Frieden in Israel stiften zu wollen. Bei keinem Konflikt um uns herum fühlen wir uns so berufen, Ratschläge, Belehrungen und Ermahnungen zu erteilen wie bei dem im Nahen Osten. Auch wenn wir Deutsche uns gerne als moralische Führungsmacht sehen, sollten wir uns mit der Erziehung Israels ein bisschen zurückhalten. Aber wenn man es ernst nimmt mit der deutschen Geschichte, dann sind alle anderen Nationen um uns herum besser geeignet, sich einzumischen, als wir. Es ist eine Art Umschuldungsmechanismus. Deutschland versucht, aus dem Schatten der Geschichte herauszutreten, indem man die Opfer von damals zu Tätern erklärt.“ (Jüdische-Allgemeine.de)

Niemand erklärt Opfer zu Tätern. Sondern nimmt wahr und bewertet nach jener Moral, die die Deutschen nach dem Krieg zu lernen hatten. Haben sie‘s nun gelernt – oder nicht? Sie haben es, wenn sie Menschenrechtsverbrechen erkennen und kritisieren. Gleichgültig, bei wem. Bei Freunden muss Kritik besonders intensiv sein: verstehen und bewerten sollten eine Einheit bilden.

Die heutigen Generationen sind keine Täter mehr, das waren ihre Vorväter. Was sollte sie disqualifizieren, ihre neu erworbene demokratische Kompetenz gegen befreundete Nationen wie Israel, Amerika, Polen, Ungarn klar und unmissverständlich zu artikulieren? Im misslungenen deutsch-jüdischen Dialog gibt’s versteckte paradoxe Interventionen. Tut das Richtige, Deutsche. Doch wehe, ihr tut es – gegen uns.

Fleischhauers lässiger Humoristenton erinnert an preußische Kürassiere: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Maul halten und gehorchen. Luther hätte seine Freude gehabt an diesem Untertanengehorsam. Fleischhauers amoralischer und antidemokratischer Gassenjargon wäre selbst in BILD gewöhnungsbedürftig. Die Medien schelten gern alle rechten Extreme in der Republik. Ihre eigenen rechten Elemente können schalten und walten nach Belieben. Dass Fleischhauer ausgerechnet im Sturmgeschütz der Demokratie hemmungslos wüten kann – was bedeutet das für das Selbstverständnis des SPIEGEL?

Die deutschen Medien müssen sich neu erfinden. Ihre drei Grundsätze müssen sie über Bord werfen:

a) Sich mit nichts gemein machen, auch nicht mit der guten Sache.

b) Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Das verzerrt nicht nur die wirklichkeitsgetreue Spiegelung der Realität und dämonisiert sie zur permanenten Untergangsgesellschaft. Hinter dem reißereischen Motto stand einst der Gedanke, das Gute verstehe sich von selbst; nur das Schlechte müsse reportiert werden, damit es abgestellt werden kann. Mittlerweilen hat sich die Devise zur Verherrlichung alles Miserablen skandalisiert. Gut ist seitdem, was Quote macht. Quote macht man mit dem Bösen als Sensation.

c): Der Journalismus muss aufhören, sich als Wesen des Tages und flüchtigen Augenblicks zu verstehen. Wer die Zeiten kommentieren will, muss den Tag im Licht der Historie verstehen. Heute wissen die Edelschreiber nicht mehr, was sie gestern geschrieben haben. Was interessiert sie ihr wahrheitsloses Geplapper von gestern. Bei solchem Vergessen und Verdrängen ist weder Lernen noch Rechtfertigen und Aufarbeiten früherer Texte möglich.

„Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleib im Dunkeln unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben“. (Goethe)

Im Dunkeln unerfahren: das ist das demokratie-gefährdende Niveau der deutschen Medien – wenn sie sich nicht auf die Socken machen, um Licht ins Dunkel zu bringen. Eclaircissement heißt auf Deutsch: Aufklärung.

Okay, schaffen wir Moral ab – dann können wir Demokratie gleich mit abschaffen.

 

Fortsetzung folgt.