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Umwälzung LVIII

Hello, Freunde der Umwälzung LVIII,

wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich noch heute nach Berlin fahren, um Merkel ausfindig zu machen. Seit Wochen ist sie verschwunden und niemand bemerkt es. Die Kanzlerin, wo ist die Kanzlerin, die die Republik regiert, wie man ein Uhrwerk regiert – wo ist sie nur geblieben?

Die Republik funktioniert wie ein vollprogrammiertes Vehikel. Am Anfang werden Knöpfe gedrückt, den Rest erledigt die intelligente Maschine wie von selbst.

Wir haben Nachholbedarf in künstlicher Intelligenz, hatte sie noch tonlos gemurmelt, als man sie zum letzten Mal sah. Danach verschwand sie. Doch mittlerweilen muss es ihr gelungen sein, den Nachholbedarf aufzuholen und ihre Untertanen endgültig dem Algorithmus zu unterwerfen.

Doch was, wenn Störungen auftreten? Wenn vor Kraft strotzende Männer den Frieden gefährden und die Welt mit Auslöschen bedrohen? Wenn die Maschine heiß läuft und zu explodieren droht?

In solchen Fällen tritt das Gesetz des Okkasionalismus ein:

„Bei Gelegenheit“ (franz. occasion) des seelischen Vorganges trete das entsprechende leibliche Geschehen auf und umgekehrt bei leiblichen Vorgängen das seelische. Damit dies in der mechanischen Metapher gewährleistet sei, bedurfte es des Einschreitens Gottes (concursus dei). Dieses notwendige Einschreiten Gottes aus Verlegenheit der Uhrenkonstrukteure bzw. der Autoren des Gleichnisses benennt man auch nach der Bezeichnung aus der antiken Tragödie deus ex machina.“ (Wiki)

Die Welt brennt – und wir erwarten sehnlichst den Konkurs Gottes. Angela, dea ex machina: bist du Konkursverwalterin Deines Gottes? – oder unsere Kanzlerin, die den Schwur ablegte:

„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die

Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“

Was, wenn Angela das Kanzleramt durch die Hintertür verlassen hätte, um sich nie mehr blicken zu lassen, weil sie erklärt hatte: „Abenteuer einzugehen verbietet mein Amtseid“?

Was war geschehen? Bibi & Donald, ihre besten Freunde, bedrohen den Weltfrieden mit abenteuernden Brandreden. Unter dieser Last – Freunden konnte sie nie offen die Meinung sagen – brach sie zusammen und verschwand für immer. Die Polizei begann nach ihr zu fahnden, weil sie sich eines gebrochenen Amtseides schuldig gemacht hatte. Doch schnell wurde sie von oberen Stellen zurückgepfiffen:

„Wie sämtliche Amtseide, die im deutschen öffentlichen Recht vorgesehen sind, ist auch der Amtseid des Bundespräsidenten in keiner denkbaren Beziehung strafbewehrt, etwa in dem Sinne, dass eine flagrante Verletzung der im Eid übernommenen Verpflichtungen strafrechtlich als Meineid o. Ä. gewertet würde.“ (Wiki)

Die Deutschen, ein lenksames Volk in der Mitte Europas, verwanden es nicht, von ihrer mütterlichen Obrigkeit über Nacht verlassen zu werden. Sie versanken in dumpfes Brüten, ihre Wirtschaftskraft sank ins Bodenlose und offenbarte ihre außerwirtschaftliche Bedeutungslosigkeit, die sich ohnehin schon seit Jahren angekündigt hatte.

Unter Merkel war die deutsche Sprache zum bloßen Feilschen, Zählen und Rechnen verkommen. Ausdrücke wie Selbstachtung, Freundschaft unter den Völkern, Autonomie, wage dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, Daseinsfreude, verschwanden. Der Glaube an das Numinose, Unerklärbare, Grenzenlose, an das unergründlich Böse und Supermächtige vertrieb den Glauben an die Vernunft des Menschen, der zum mittelalterlichen Sünder verkrüppelt wurde.

Würde des Menschen? Nichts als Konjunktiv. Wahrheit, Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit? Verlacht. Gab man sein Wort, gab man es nur für den flüchtigen Augenblick. Schon war der Augenblick verschwunden, das Wort zur Makulatur geworden.  

Ereignisse durch ihr Werden verstehen, Gegenwart durch Vergangenheit aufklären, Ursachen ergründen, um unliebsame Folgen zu vermeiden: alles wurde der Zukunft geopfert.

Früher war alles gut? Früher war alles miserabel, in Zukunft wird alles richtig sein. Nicht, weil es richtig, sondern weil es neu und zukünftig sein wird. Vergangenheit wurde gelöscht, Gegenwart zum schnell vergänglichen Augenblick, Zukunft zum Garten Eden erklärt. Da Zukunft immer zur Gegenwart, Gegenwart zum rasenden Nichts wird, wird Zukunft zur endlos flüchtigen Illusion. Wer Vergangenheit erforscht, darf keine Lehren für die Gegenwart ziehen, wer Gegenwart beobachtet, darf sie nicht im Spiegel der Vergangenheit betrachten.

Das Erkennen der Situation, das Durchschauen der Lage, die Einsicht in das Falsche und Verhängnisvolle: das wird uns retten? Wahrheit wird uns frei machen?

Nichts ist verhasster als die beiden Begriffe Wahrheit und Moral. Lieber sprechen sie von abendländischen Werten, bei denen sie sicher sein können, dass sie weder mit Wahrheit noch mit Moral zu tun haben.

Demokratisch sein heißt streiten können. Doch weshalb sollte man streiten, wenn niemand an die Wahrheit seiner Meinung glaubt? In wahrheitslosen Zeiten kann man sich das Debattieren ersparen. Jeder sagt seine Meinung, danach wird abgestimmt. Wer die meisten Stimmen erhält, hat gewonnen.

Wer Wahrheit ächtet, hält sich für den Inbegriff der Wahrheit, denn er kann nichts mehr dazu lernen. Wahrheitsverächter sind Wahrheitsbesitzer. Sie wollen von niemandem belehrt werden: das ist ihre Botschaft, mit der sie alle belehren wollen. Wer an Wahrheit festhält, wird des Faschismus bezichtigt:

„Den Anhängern Platos, Rousseaus und Marcuses geht es in der Politik um die Wahrheit, nicht um eine im Streit und Kompromiss gefundene Form des Zusammenlebens. Diesen Leuten ist die Skepsis der pluralistischen Demokratie verhasst, die eine Methode der Schadensverhütung ist. Sie will die Bürger nicht erziehen, sondern Bürgerkriege und andere Katastrophen vermeiden.“ (ZEIT.de)

In Athen war Demokratie Streiten und Wetteifern um die Wahrheit, Überzeugen, gegenseitiges Erziehen – durch gemeinsam erlassene Gesetze, abwechselndes Regieren und Regiertwerden, durch schöne Kunst und Theater als Ereignisse für das ganze Volk, durch Wanderlehrer und Einrichten philosophischer Schulen. Die brotlose Kunst des Denkens war selbstbewusst genug, sich von der Polis ernähren zu lassen (wenn man nicht unabhängig und vermögend war wie Platon und Aristoteles), weil Denken eine andere Form der Arbeit war, ohne die eine lebendige Gemeinschaft nicht überlebensfähig ist.

„Es sei das Ziel jedes Gesetzgebers, die Bürger zur Tugend zu erziehen, schrieb Aristoteles. Und zwar dadurch, dass diese sich an das vom Gesetz verlangte tugendhafte Verhalten so gewöhnen, dass es ihnen in Fleisch und Blut übergeht.“

Und nun sehen wir, wie man aus richtigen Prämissen zu falschen Schlussfolgerungen kommen kann.

„Die Methode Aristoteles ist eine indirekte Art, den „neuen Menschen“ zu erschaffen, von dem schon die Bibel spricht. Die direkte Art, nämlich den Zwang, favorisierten hingegen Leute vom Schlage eines Che Guevara, der den alten Adam (und Eva gleich mit) ins Erziehungslager steckte. Oder Herbert Marcuse, Weisheitsquell der „neuen Linken“ Mitte der sechziger Jahre, der sich in seinem Traktat über „repressive Toleranz“ sowie, noch expliziter, in einem 1967 erschienenen Spiegel-Gespräch für eine Erziehungsdiktatur (mitsamt Pressezensur) aussprach. Er berief sich auf Plato, demzufolge, wie Marcuse schrieb, „ein gesunder Staat nur von denen regiert werden sollte, die gelernt haben, welche Möglichkeiten der Mensch hat, welche materiellen und intellektuellen Bedingungen erfüllt sein müssen, um die bestmögliche Entwicklung des Menschen in der Gesellschaft zu garantieren.“ Also von Leuten wie Herbert Marcuse.“

Aristoteles wollte weder direkt noch indirekt einen neuen Menschen schaffen, schon gar nicht im neutestamentlichen Sinne, wo der alte Adam ersäuft werden muss, um einen neuen Menschen durch göttlichen Gnadenakt zu schaffen. In der Erlöserreligion sollten die verdorbenen Sprösslinge sündiger Frauen à la longue vernichtet werden. Aristoteles war kein Erlöser, sondern philosophischer Lehrer, der von der lernfähigen Vernunft des Menschen überzeugt war. Wie alle griechischen Philosophen.

Wen die ZEIT-Autoren zu Recht angreifen, sind platonische Faschisten, die ihre Wahrheit den Menschen mit Gewalt einprügeln wollen. Dazu gehört Herbert Marcuse, der, wie sein Lehrer Marx, an die Gewalt als Zwangsbeglückung der Menschen glaubte. Davon hört man im marx-besoffenen Delirium deutscher Intellektueller nichts, die ihren Verrat an der sozialen Gerechtigkeit – die mit demokratischen Mitteln erkämpft werden muss und nicht mit Hammer und Sichel – mit marxistischer Nostalgie überdecken wollen.

Unendliche Zeiten lang waren Deutsche dogmatische Platoniker, die sich, als Nachfolger der tyrannischen Weisen, berechtigt fühlten, das Volk durch überlegene Bildung an die Kandare zu nehmen. Inzwischen sind sie mal wieder dialektisch gekippt, ohne den Zusammenhang des platonischen Faschismus zu verstehen.

Von Popper scheinen sie nichts gehört zu haben, der ein gewaltiges Buch gegen Platon geschrieben hat – indem er ihn sorgsam von seinem Lehrer Sokrates unterschied. Der glaubte auch an die Wahrheit, bevorzugte aber die Form der gewaltfreien dialogischen Geburtshilfe, um die Menschen für die allgemeine Wahrheit zu gewinnen.

Nun folgen schreckliche Sätze:

„Die dahinterliegende Konzeption besteht darin, dass es so etwas wie das objektive Interesse der Gesellschaft gebe, das zu erkennen und zu vollstrecken die Aufgabe der Politik sei – ein zentraler Gedanke des Aufklärers Jean-Jacques Rousseau, in dem sich bereits der Tugendterror eines Robespierre andeutete. Den Anhängern Platos, Rousseaus und Marcuses geht es in der Politik um die Wahrheit, nicht um eine im Streit und Kompromiss gefundene Form des Zusammenlebens. Diesen Leuten ist die Skepsis der pluralistischen Demokratie verhasst, die eine Methode der Schadensverhütung ist. Sie will die Bürger nicht erziehen, sondern Bürgerkriege und andere Katastrophen vermeiden.“

Sind die ZEIT-Schreiber von keinem objektiven Interesse getrieben? Schauen wir auf ihr Resumee:

„Damit das Recht in einer freien Gesellschaft wirkt, muss das Rechtsbewusstsein hinzukommen. Mit anderen Worten: Wir wollen nicht erzogen werden, sondern überzeugt.“

Sie wollen, dass das Recht herrsche in einer freien Gesellschaft. Das objektive Recht für alle – oder das postmodern-subjektive nach dem Geschmack des Einzelnen? Erzogen werden ist per se ein autoritärer, ja faschistischer Vorgang? In welche Wüsten sind wir zurückgefallen. Durch Argumente erziehen, das war der neue Klang der griechischen Aufklärung. Nicht durch unbefragte Tradition, schon gar nicht durch höhere religiöse Weihen.

„Was bisher durch äußere Einrichtungen, durch Autorität und Gewohnheit geregelt worden war, das Leben des Einzelnen und der Gesamtheit, das musste nun im Innern des Menschen selbst verankert, die Normen des Daseins mussten aus dem gottverwandten Menschengeist abgeleitet werden.“ (Nestle)

Stets hatte Sokrates es abgelehnt, anderen Menschen etwas von außen beigebracht zu haben. Das war der Sinn seiner Hebammenkunst: „Andere zu entbinden zwingt mich der Gott, zu zeugen hat er mir versagt.“ Gott ist die Stimme der eigenen Vernunft. Jede Erkenntnis ist eigene Erkenntnis, dem Verdrängen und Vergessen entrissen durch Erinnern an die glasklare Vernunft der Kindheit.

„Sokratische Menschenprüfung hat den Zweck, die Leute zur Selbstbesinnung zu bringen, zum Nachdenken über das, was sie eigentlich wollen, über Sinn und Ziel ihres Lebens. Dass jeder Mensch diese geistige Kraft der Selbstleitung besitzt, ist seine felsenfeste Überzeugung. Sie in anderen zu entbinden, hält er für seine Lebensaufgabe.“

Nur, wer an die suchende Wahrheit glaubt, kann streiten. Da es in einer Polis keine allwissende Autorität gibt, kann es auch keine Instanz geben, die den Menschen die absolute Wahrheit vorschreiben kann. Das war Platons Irrweg, der, durch den Niedergang der Demokratie enttäuscht, sich von der athenischen Freiheit lossagte und den spartanischen Zwang in die Philosophie einführte.

Kompromisse bilden sind kluge und notwendige Methoden des Entgegenkommens, um die Demokratie nicht lahm zu legen und dennoch die Unfehlbarkeit einer Autorität zu vermeiden. Kompromisse sind nicht das Gelbe vom Ei, sondern strategische Zwischenschritte einer Gesellschaft, die in der Suche nach der Wahrheit miteinander konkurriert – und dennoch kooperationsfähig bleiben will. Lernen ist ein kollektiver Vorgang, eine Mixtur aus individueller Hartnäckigkeit und gemeinschaftlicher Entscheidung.

Deutsche Parteien glauben, kompromissfähig zu sein. In Wirklichkeit wissen sie nichts von Kompromissen, weil sie die Idee der Wahrheit verachten. Ihre Kompromisse sind kein Innehalten auf dem langen Weg an ein fernes Ziel, sondern Endpunkte einer erkenntnisverweigernden Erschöpfung.

Ich glaube an meine Wahrheit solange, bis ich vom Gegenteil überzeugt wurde. Ich glaube an meine Wahrheit, aber um der demokratischen Wahrheitssuche willen opfere ich die Hälfte meiner Wahrheit, um die Hälfte deiner Wahrheit zu übernehmen. Aber nur vorläufig und um des praktischen Fortkommens willen. Nach dem Kompromiss wird der edle Wettkampf um die Wahrheit so lange fortgesetzt, bis wir uns eines fernen Tages geeinigt haben.

Ob die zukünftige Einigung in der Polis die objektive Wahrheit sein wird, wissen wir nicht. Dann müsste der Dialog mit anderen Kulturen beginnen, die anderer Meinung sind als wir. Was in der heimischen Polis richtig ist, kann in der Kosmo-Polis nicht falsch sein. Eine erdumspannende Utopie wäre die Einigung auf den Frieden unter den Völkern.

Friede ist nicht Abwesenheit von Krieg, sondern die übereinstimmende Meinung, dass jedes einzelne Volk, jeder einzelne Mensch, mit Hilfe seiner Vernunft die allgemeine Wahrheit des Zusammenlebens aus sich entbinden kann. Das wäre die Wahrheit friedlichen Zusammenlebens, zu der sich die Menschheit entwickeln und durchringen kann. Ob es darüberhinaus noch höhere Wahrheiten gibt, kann selbstbewussten Demokraten gleichgültig sein. Alles, was über solidarische Wahrheit hinausginge, kann man dem beliebigen Geschmack des Einzelnen überlassen. Denn die Probleme des Zusammenlebens wären gelöst.

Demokratie ist, was die Wahrheitsfähigkeit der Menschen betrifft, nicht skeptisch. Im Gegenteil, einen optimistischeren, gleichwohl realistischen Glauben an den Menschen hat es in der Geschichte noch nie gegeben.

Auch die Skepsis hat zwei Gesichter: das antike und das moderne. Das moderne, geprägt vom Verlust des christlichen Glaubens, ist hoffnungslos, düster und erkenntnisfeindlich; die antike glaubte an die Meeresstille der Seele. Dass wir weniger wissen, als wir zu wissen glauben, muss meine Lebensfreude nicht beeinträchtigen. Im Gegenteil. Von falschem Wissen darf ich mich befreit fühlen.

„Ich weiß, dass ich nichts weiß,“ war das Gegenteil moralischer Relativität. Sokrates wusste, dass er von vielen Dingen im Himmel und auf Erden nichts wissen konnte, aber auch nichts wissen musste. Ob es Götter gibt? Gleichgültig. Sollte es sie geben oder sollte es ein Weiterleben nach dem Tode geben: was wird Sokrates anderes tun, als das, was er auf Erden trieb? Er wird die Götter ebenso anpflaumen wie er die Menschen auf Erden genervt hatte: bist du sicher, dass du wirklich weißt, was du uns predigst?

Theoretisches Wissen kann begrenzt sein, moralisches Wissen aber braucht unerschütterliche Überzeugung. Worin bestand die Überzeugung? Darin, dass wahre Moral friedensstiftende Empathie mit anderen Menschen ist: „Unrecht erleiden ist besser, als Unrecht tun.“ Das ist keine devote Feigheit vor Meinungen, die man für falsch und menschenfeindlich hält. Sokrates widerstand seinen Anklägern nicht nur mit unerhörter Streitlust, er forderte gar öffentliche Ehrung seiner Verdienste durch den Staat.

Die ZEIT-Autoren behaupten, nicht erziehen zu wollen – indem sie die „Menschen“ richtig erziehen wollen. Zu viele Verbote beispielsweise seien kontraproduktiv. Die Medien unterscheiden permanent zwischen sich, den Eliten, und dem vulgären Volk. Giovanni di Lorenzo erwartet vom Volk entschiedenen Widerstand gegen Antisemitismus. Die Eliten scheinen ihrer Pflicht schon nachgekommen zu sein. Die Medien gerieren sich ununterbrochen als Erzieher des Volkes. Nur: das Volk darf es nicht merken.

Wären Menschen vernünftig, würden sie vernünftige Gebote nicht als unliebsame Verbote empfinden. Halten sie Verbote für unvernünftig, haben sie die demokratische Pflicht, sich gegen sie zu wehren und vernünftigere vorzuschlagen.

„Eines haben alle drei Formen staatlicher Verhaltenslenkung – Verbot, Preisgestaltung, Nudging – gemeinsam: Sie unterstellen, dass der Mensch nicht von sich aus so viel (oder eben: so wenig) fliegt, fährt oder Fleisch isst, wie es eigentlich sinnvoll wäre. Insofern greift der Staat in das Alltagsleben seiner Bürger ein und bringt sie dazu, Dinge zu tun, die sie nicht getan hätten, wenn der Eingriff nicht erfolgt wäre.“

Was für ein Nonsens. Der – vernünftige – Staat muss nichts verbieten, wenn es nicht nötig wäre: da Menschen von sich aus vernünftig wären. Dass man auf Verbote angewiesen ist, um sich am Riemen zu reißen, soll mit der Schwachheit des eigenen Wollens zu tun haben. Das ist der ewige Refrain säkularer Demokraten, die noch immer dem verlorenen Glauben an die unfehlbare Moral der Religion hinterhertrauern.

Dass es einen selbstbewussten Stolz auf die eigene Mündigkeit – oder die Würde des Menschen – gibt, das ist lutherischen Nachkommen unzugänglich. Wer ein Gesetz für vernünftig hält, wird es einhalten, weil er es für vernünftig hält. Den Verbotscharakter empfinden nur jene, die glauben, ihren gesellschaftsfeindlichen Regeln folgen zu müssen. Für Demokraten ist ein vernünftiges Gesetz auch ihr Gesetz – dem sie gehorchen, weil sie sich selbst gehorchen.

Es scheint, als ob die heilige Achse Bibi-Donald Krieg im Schilde führte. Lieber früher Händel als später, ist das Motto Netanjahus. Der Konflikt soll nicht durch diplomatisches Geschick gelöst werden, sondern durch prophylaktisches Waffenklirren. Wieder belügt ein amerikanischer Präsident die Welt, um seine Potenz zu beweisen. Sein jetziger Außenminister bestätigte, dass der Iran den Vertrag nicht gebrochen habe – als er vor kurzem noch CIA-Chef war.

Christiane Hoffmann schreibt im SPIEGEL einen eindringlichen Aufruf, Trump zu widerstehen.

„Nun wird klar, was für Europa auf dem Spiel steht: Ungeheuerliches. Da geht es nicht mehr nur darum, zu verhindern, dass Iran Atommacht wird. Es droht eine Welt unkontrollierter nuklearer Aufrüstung aller gegen alle. In Gefahr ist auch die ohnehin brüchige Stabilität im Nahen Osten. Und schließlich geht es um die über Jahrzehnte wichtigste, verlässlichste und, ja, beste Konstante europäischer Außenpolitik: die Partnerschaft mit den USA, das transatlantische Verhältnis. Trotzdem sollte den Europäern klar sein: Von Nachgiebigkeit hat sich Trump nie beeindrucken lassen. Europa braucht nun diplomatisches Geschick, internationale Allianzen, aber auch die feste Überzeugung, sich nicht mit einer Sache gemein zu machen, die seinen Interessen schadet und den Weltfrieden gefährdet.“ (SPIEGEL.de)

Andreas Zumach stößt ins gleiche Horn in der TAZ:

„Diese Entscheidung des US-Präsidenten könnten sich eines Tages als noch größeres Desaster für die Nahostregion erweisen als der völkerrechtswidrige Irakkrieg seines Vorvorgängers George Bush im Jahr 2003. Wie damals Bush rechtfertigte auch Trump sein Vorgehen mit Lügen, die wortgleich bereits der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu letzte Woche in seiner Propagandashow verbreitet hatte.“ (TAZ.de)

Warum gab es in BILD keinen Kommentar? Nun rächt sich, dass der verlogene Philosemitismus von BILD nichts ist als Feigheit vor ihrem Idol Netanjahu. Die eschatologische Koalition aus fundamentalistischen amerikanischen Christen und ultraorthodoxen israelischen Juden will nicht länger den Verzug der messianischen Endzeit hinnehmen. Es wird Zeit, dass die Gräuel der Endzeit für Säuberung der Menschheit sorgen. In den letzten Tagen, so glauben amerikanische Biblizisten, werden die Juden vor dem wiederkehrenden Herrn niederknien und sich zum rechten Glauben bekehren. Trump, der herrliche Sünder vor dem Herrn, tut, was Gott von ihm fordert und sorgt für die ersehnte Beschleunigung des Heilsgeschehens.

„Die heilsgeschichtliche Deutung des Nahostkonflikts machte auch vor den USA nicht Halt. Protestantische Fundamentalisten hatten bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gelehrt, der Adressat aller noch nicht erfüllten biblischen Weissagungen sei das jüdische Volk, nicht die christlichen Kirchen. Fasziniert verfolgten sie die schrittweise Wiederherstellung Israels im 20. Jahrhundert und lasen den Vorgang als Nahen der Endzeit. Es wurde die Aufgabe der Protestanten, mit ihren Mitteln auf die amerikanische Politik Einfluss zu nehmen und die Wiederherstellung Israels im heiligen Land zu beschleunigen. Bereits 1996 hatten Neo-Konservative dem Ministerpräsidenten Netanjahu geraten, sich von den Fesseln des Friedensprozesses zu befreien. An die Stelle einer Gleichbehandlung israelischer und palästinensischer Ansprüche setzten die Neo-Konservativen eine einseitige Parteinahme für Israel, der rein religiös begründet wurde.“ (Hans G. Krippenberg, Gewalt als Gottesdienst)

Frieden ist ein Zeichen von Schwäche, die Israel glaubt, sich nicht leisten zu können. Richard C. Schneider rekonstruiert die langjährige Entwicklung des iranisch-israelischen Konflikts:

„Viele Israelis, allen voran Premier Netanjahu, halten diese Beschwichtigungsversuche Europas für wohlfeil. Man hatte auch die Ankündigungen Adolf Hitlers in /Mein Kampf/ für Unsinn gehalten, ein zweites Mal könne sich das jüdische Volk solch ein Fehlurteil nicht erlauben. Das Zünden einer Atombombe über Israel wäre das sichere Ende des jüdischen Staates, das Zünden vieler Atombomben über dem riesigen Persien aber nicht zwangsläufig das Ende des Irans.“ (ZEIT.de)

Die Urängste der Israelis, die sie veranlassen, ihre traumatischen Erlebnisse in Hitler-Deutschland ins Gegenteil zu verkehren und, bei der Wahl zwischen langfristigen Friedensmaßnahmen und kurzfristigem Krieg, eher auf militärischen Kampf zu setzen, sind noch immer den Geschehnissen im Dritten Reich geschuldet. Wer das nicht verstehen kann, kann nichts verstehen. Doch nicht alles, was verständlich und nachvollziehbar ist, muss richtig und zielführend sein. Ziel aller Politik im Weltdorf, in dem jeder von jedem abhängig ist, muss der kategorische Frieden sein. Alles andere könnte zur atomaren Selbstvernichtung der Menschheit führen.

Gerade, weil die Deutschen Verursacher der israelischen Ängste sind, die die Verschärfung des Nahost-Konflikts vorantreiben, wäre es die Pflicht unter Tätern und Opfern, die mittlerweilen Freunde sein wollen, dass geredet wird, wie man unter Freunden reden sollte: mit kritischer und besorgter Aufrichtigkeit.

„Der Verdacht, es gäbe eine enge Verbindung von Religion und zerstörerischer Gewalt, geht auf das 17. und 18. Jahrhundert zurück. Damals hatten Philosophen für die Glaubenskriege die Erklärung gefunden, dass ein Eingottglaube, der die Verehrung anderer Götter als Götzendienst bekämpft, notwendig eine Haltung der Intoleranz gegen Andersgläubige zur Folge hat – und Gewalt fördert.“ (Krippenberg)

Christentum ist Religion der Nächstenliebe? „Sogar Liebe kann zu einem Instrument des Mordes werden“. (Popper)  

 

Fortsetzung folgt.