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Umwälzung LVII

Hello, Freunde der Umwälzung LVII,

Kein Platz für Antisemitismus in Deutschland: darin sind sich die Repräsentanten der Republik einig. Weshalb sie in unerbittlich deutscher Logik zwei der führenden Antisemiten zu Heiligen des Landes erklärt haben: Martin Luther und Karl Marx.

Rechte und linke Judenfeindlichkeiten werden angegriffen, doch der Antisemitismus der staatstragenden Mitte wird zur feierlichen nationalen Pflicht erklärt. Selbst Günther Jauch, charismatisches Vorbild aller Bundespräsidenten, ergriff das Wort zum Gedenktag und pries den Jubilar, von dem er beim Thema „Quizfragen in Warenform“ noch immer lernen könne. Selbst Michael Hüther, Oberpriester aller Neoliberalen, rühmt die „heilsgeschichtlich-idealistische Perspektive“, welche die modernen Sozialstaaten bis heute motiviere.

Woraus wir entnehmen, dass das kapitalistische und antikapitalistische Geld in gleichem Maße auf Erlösung angewiesen ist.

„Welches ist der weltliche Grund des Judenthums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“ Das Judentum sei „ein allgemeines gegenwärtiges antisociales Element“. In der jüdischen Religion liege „die Verachtung der Theorie, der Kunst, der Geschichte, des Menschen als Selbstzweck“. Selbst „das Weib wird verschachert“. (Marx)

Über den „jüdischen Nigger Lassalle“ schrieb der Jubilar: „Es ist mir jetzt völlig klar, dass er, wie auch seiner Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten anschlossen. Nun, diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen. Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft.“ Selbst seinen eigenen Schwiegersohn Paul Lafarge, dessen Mutter eine kubanische Kreolin war, erniedrigte er in einem Brief an seine

Tochter Jenny als „Negrillo“ und „Abkömmling eines Gorillas“. (n-tv.de)

Papperlapapp, nur keine mimosenhaften Sentimentalitäten. Große Männer haben liebenswerte Fehler. Oder: die extremen Ränder am linken und rechten Rand entstehen dadurch, dass ironiefreie Wirrköpfe die einzigen sind, die die Verlautbarungen der Eliten ernst nehmen – um sie gegen jene zu wenden. Achtung Verschwörungstheorie: gewitzte Mächtige erfinden gesellschaftliche Ränder, um sich von den Folgewirkungen ihrer Feiertagsreden freizusprechen, die sie bei Dummköpfen abladen können.

Der Geniekult seit Sturm und Drang erlebt bei seinen profanen Nachfolgern seine überfällige Wiederauferstehung. Warum werden Luther und Marx im nationalen Erregungsrahmen gefeiert? Weil sie Genies waren. Genies sind keine primitiven IQ-Artisten. Sondern gottähnliche Empfänger des Außerordentlichen und Überirdischen. Sie ahmen niemanden nach, sondern schreiben dem Pöbel die Regeln vor. „Genie ist das Talent, welches der Kunst die Regel gibt.“ (Kant)

Bis in die Zeit der Aufklärung galt in der Kunst das Gebot der Nachahmung. Ab Sturm und Drang, besonders seit der Romantik, wurde jede Nachahmung als minderwertig verworfen. In der Aufklärung war Kunst noch vorwiegend freier Ausdruck der Vernunft.

Vernunft als Regel der Kunst? Undenkbar für die neuen Revoluzzer der Stürmer und Dränger. Für Klopstock musste Kunst „frei der schaffenden Seele enttaumeln“, frei von der „Bevormundung durch die den Ausdruck schwächende und verfälschende Vernunft.“ (Korff)

Im Genie Marx bewundert die deutsche Nation, ihrer geistfreien ökonomischen Tüchtigkeit überdrüssig, ihre eigene, längst verloren geglaubte denkerische Tüchtigkeit. Mediale Porträts beginnen stets mit der Beschreibung biografischer Genie-Indikatoren, um die spätere Schöpferkraft der Dargestellten adäquat vorzubereiten.

Wer schon im Kindergarten Einsteins Formeln auf chinesisch hersagen konnte, muss für das Amt des Ortsvorsitzenden der CDU geradezu prädestiniert sein. Rhetorische Fähigkeiten vor allem („er kann druckreif formulieren, ein Publikum in seinen Bann ziehen“) sind die trefflichsten Vorzeichen einer unvergleichlichen Karriere. Sahra Wagenknecht muss etwas Besonders haben, wenn sie bereits als Kind den Faust auswendig konnte oder im Radfahren noch heute jeden Journalisten abhängt. Merkels physikalische Nüchternheit garantiert die Nüchternheit ihrer Politik. Wer schon in der Oberstufe den Begriff Liberalismus stolperfrei aussprechen konnte und Lindner hieß, dem war eines fernen Tages das Amt des FDP-Vorsitzenden nicht mehr zu nehmen.

Genie gehorcht keinen Regeln, sondern schreibt Nichtgenialen die Regeln vor. Es unterwirft sich keinen von außen kommenden allgemeinen Vernunftregeln, sondern entstammt eigenen irrationalen Trieben und Visionen. Das Unbewusste wird zur Quelle des genialen Menschen, der die Botschaften seines Es bewusst macht und der Welt im Modus der unantastbaren, von keiner Kritik erfassbaren Offenbarung mitteilt.

Wer sich selbst durchschnittlich empfindet, will einen Anhauch des Genialen – durch rückhaltlose Bewunderung des Genies.

Luther ist das religiöse Genie, das sich von allen papistischen Regeln losriss, Marx das ökonomische, das sich von allen Franzosen und Engländern emanzipierte und dem materiellen Weltgeist Auge in Auge gegenüberstand. Wie Luther alle rebellischen Vorläufer-Bewegungen im Mittelalter ignorierte – mit Ausnahme von Eckardt –, so diffamierte Marx alle französischen Vorläufer als blauäugige Utopisten – mit Ausnahme Hegels, den er allerdings vom Kopf auf die Füße stellen musste.

Luther befreite das Original, die biblische Urschrift, von den Verfälschungen der Katholiken, Marx befreite das Original, die Gesetzmäßigkeit der Natur, von Verfälschungen der intellektuellen Mietlinge des Kapitalismus.

Die so seltsam aufflammende Verehrung des einstigen Heros der 68er folgt zudem dem Gesetz des „interesselosen Wohlgefallens“, das von Kant als oberste Devise ästhetischer Urteilskraft formuliert wurde. Schön ist, was kein Begehren erweckt, sagte der lustfeindliche Pietistensohn Immanuel Kant. (Keine begehrenswerte Frau konnte nach dieser Definition schön sein.)

Sie beweisen ihre geistige Souveränität, wenn sie etwas bewundern, was im alltäglichen Leben unanwendbar ist. Das wäre ja Götzendienerei, jemanden nur zu vergöttern, weil man ihn zu praktischen Zwecken instrumentalisieren will.

Bei Luther nicht anders. Selbstredend sind wir der Rechtfertigung durch den Glauben längst entkommen. Gerade deshalb können wir den Mannesmut vor den Mächtigen der Welt würdigen – um zu überdecken, dass Mut vor Fürstenthronen uns Heutigen längst abhanden gekommen ist. Sage mir, wen du als Genie verehrst und ich sage dir, was du schmerzlich an dir vermisst.

Einst wollten die Deutschen radikale Denker sein, die dem Ursprung des Seins unverwandt ins Auge schauten. Inzwischen betrügen sie mit ihren Produkten die ganze Welt, die sie mit Autoabgasen verpesten.

Einst verachteten sie die englischen Krämer und Produzenten von Dingen und fühlten sich als Helden des Geistes und des Schwerts. Heute ist vom Geist denkerischer Radikalität nichts mehr zu spüren.

Luther war radikaler Widersacher Roms, Kopernikus (der natürlich kein Pole, sondern ein Deutscher war) der radikale Gegner des geographischen Zentrums des Alls in Rom, Kant die radikale kopernikanische Wende im Reich der Philosophie, Fichte der radikale Ich-Denker, der sich von keiner Außenwelt etwas vorschreiben lassen wollte. Hegel ließ das Finale des Weltgeistes radikal in Berlin stattfinden.

Marx schließlich wollte die Tradition radikal auf den Kopf stellen, um die Heilsgeschichte kompromisslerisch mit den Gesetzen der Natur zu versöhnen. Ihm gelang das Kunststück, als Atheist ein unveränderlich-göttliches Geschichtsgesetz zu finden, das nach einem vollendet-bösen Vorlauf der Geschichte wie durch ein Wunder in den zweiten Garten Eden mündet.

„Die halben Gemüter (die lauen und halbherzigen Zeitgenossen) haben in solche (kritischen) Zeiten die umgekehrte Ansicht ganzer Feldherrn (wie Marx selbst). Sie glauben durch Verminderung der Streitkräfte den Schaden wiederherstellen zu können, … durch einen Friedenstraktat mit den realen Bedürfnissen, während Themistokles (dh Marx selber), als Athen (= die Philosophie) Verwüstung drohte, die Athener bewog, es vollends zu verlassen und zur See, auf einem anderen Element (= in der politischen und ökonomischen Praxis) ein neues Athen (eine ganz neue Art von Philosophie) zu gründen.“ (Marx, zitiert von Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen)

Marx fühlte sich als Themistokles, der das winzige Athen mit einer radikalen Strategie – die ganze Polis auf die Schiffe zu verfrachten und die Stadt primär den Persern zu überlassen, um die übermütig gewordenen Feinde danach auf dem Wasser zu besiegen – vor der Weltmacht schützen wollte – mit ungeheurem Erfolg.

Für Rudi Dutschke, den charismatischen Schwarmgeist, war Marx der wiederauferstandene Jesus. Das gilt noch heute für die meisten Marx-Bewunderer – die sich radikal fühlen, wenn sie seine unzähligen Bände im Bücherschrank vorweisen können.

Unter ihnen Sahra Wagenknecht, die alle totalitären Vorwürfe gegen ihr Idol mit dem Hinweis auf Jesus zurückweist. Marx die ungeheuren Verbrechen in seinem Namen ihm selbst anzulasten, sei so falsch, wie die Verbrechen der Kirche dem Erlöser vorzuwerfen. Die Bergpredigt sei schließlich ein Aufruf zur Sanftmut und Friedfertigkeit.

Wagenknecht schafft es, Marx mit Jesus in eine Reihe zu stellen, indem sie marxistische Religionskritik in jesuanische Bewunderung verfälscht. Zwar sei ihr die Gabe des Glaubens nicht gegeben, aber sie bewundere diejenigen, die sich dem Glauben öffnen könnten. Als Wagenknecht bei Anne Will die Predigt zugunsten der Bergpredigt hielt, ruhte das Auge des Kardinals Marx wohlgefällig auf ihr.

Wagenknechts Position ist völlig identisch mit Merkels CDU, mit Ausnahme des Mindestlohns und sonstiger Petitessen. Auch Parteigenosse Gysi rühmt die moralische Kraft der Kirchen, während die Linke durch den Zusammenbruch des Sozialismus moralisch nichts mehr auf die Waage bringe.

Na ja, wissen Sie, Herr Precht, sagte Gysi, mit der Diktatur des Proletariats könne auch er nichts mehr anfangen. Die Religionskritik von Marx werde immer falsch zitiert. Religion sei kein Opium fürs Volk, sondern Opium des Volkes. Womit er sagen wolle, es waren keine bösen Popen, die das Volk an die Leine genommen hätten. Sondern das Volk selbst erfand die Religion als Betäubungsmittel, um das Elend des irdischen Lebens zu ertragen.

Das Gespräch Precht-Gysi im ZDF endete mit verschmitztem Grinsen des Linken: „Nein, ich lass mir nicht alle Hoffnung rauben. Ich glaube an die – Vernunft. Auch mir steht eine Illusion zu.“

Vernunft als Illusion, Marx als Erlöser und Prophet, die Bewunderung der Kirchen als moralische Kraft: wenn Merkel mit dem Finger schnipsen würde, wären die Linken an ihrem Lutherbäffchen. Auch Andrea Nahles ist eine Bewunderin von Marx, was nicht bedeutet, dass sie seinen Analysen folgen würde.

Luther und Marx sind weltberühmt – und könnten die Schande eines radikalen Führers der Deutschen vergessen machen. Von Luther wollen sie im Alltag nichts mehr wissen, doch Untertanen unter jedwede von Gott gegebene Obrigkeit sind sie allemal. Marx war Religionskritiker – mit einer Gehirnwindung, mit 99 anderen übersetzte er die theologische Heilsgeschichte ins Wirtschaftliche und verstärkte die Frömmigkeit der Deutschen durch religiöse Alibikritik.

Marx wollte von Luther so wenig wissen, wie die Deutschen von ihm – und dennoch verehren sie die beiden totalitären Heroen, als ginge es um die Bewunderung von deutschen Fußballweltmeistern. Was die Deutschen denken, hat nichts mit ihrem Leben zu tun. Was mit ihrem Leben zu tun hat, darüber denken sie nicht nach. Ihre Vergangenheit wollen sie bewältigt haben, indem sie ihre Helden der Vergangenheit aufs Podest stellen. Mit verklärten Augen sprechen sie von deutscher Bildung, als ob ihre verbrecherischen Vorfahren nicht Bewunderer und Kenner derselben gewesen wären.

Wagenknecht versteht von Jesus nichts und von Marx nur, was sie durch den Filter jener hermeneutischen Kunst durchlässt, den sie von Theologen übernommen hat. Der Buchstabe des Textes ist dem freien Belieben der modernen Deuter übergeben. Anne Will zeigte erneut ihre circensische Inszenierungsfähigkeit, über ein Thema reden zu lassen, ohne das Thema auch nur anzukratzen. Das Land der Dichter und Denker ist zum Land der Schwätzer verkommen.

„Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“ (Erdreich = Gä – Gaia) Das ist die kapitalistische und sozialistische Prophetie eines erden-besitzenden Imperialismus. Mit Hilfe der schärfsten Waffen, die Gott den Seinen verliehen hat: der Sanftmut, der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe. Diese Tugenden sind keine Friedensschlüsse mit allen Menschen im Namen der Gleichheit und Freiheit, sondern schärfer als alle Schwerter zusammen.

„Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer denn jedes zweiseitige Schwert und hindurchdringend bis zur Scheidung von Gelenken und Mark der Seele und des Geistes und ein Richter der Gedanken und der Gesinnung des Herzens und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, vielmehr ist alles entblößt und aufgedeckt vor seinen Augen, dem wir Rede zu stehen haben.“

Die Folterer von Guantanamo hätten kein bessere Inspiration als Vorlage zur heiligen Foltermethode finden können als dieses neutestamentliche Wort.

In der Antike gab es drei verschiedene Hauptarten der Moral: das Naturgesetz der Starken, das Naturgesetz der Schwachen oder der Menschenrechte. Und das paradoxe Gesetz des Neuen Testaments, das die Ziele des ersten Naturrechts – die Macht über Menschen – mit den Methoden des zweiten Naturrechts oder den scheinbaren Methoden der Menschenliebe verwirklichen wollte.

Die von den Hellenen übernommene Ethik der Philanthropie oder Menschenliebe pfropften die Christen in den Kontext einer welt-erobernden Gewaltethik – um der Welt zu zeigen, dass scheinbare Sanftmut bessere politische Erfolge erziele als das Einsetzen des Schwerts. Wie kann man sich den unwiderstehlichen Erfolg der Sanftmut erklären? Nicht Menschen und ihre Moral sind Garanten politischen Erfolgs, sondern Gottes unsichtbare Hand, die mit paradoxen Methoden den Hochmut der Welt ad absurdum führt.

Die Linken sind auf Jesus gekommen. Ihre Streitigkeiten könnten nur durch anamnestisches Erarbeiten ihrer Entwicklung verstanden und befriedet werden. Zu einer solchen kollektiven Introspektion ist keine Partei fähig.

Die CDU braucht keine Erinnerungsarbeit, sie hat nur das Programm, an der Macht zu bleiben. Alles andere ist wesenlos. Nur ihre Rivalen, die etwas scharf Umrissenes wollen sollten, um sich dem Publikum zu empfehlen, müssten sich auf die Couch legen, um ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.

Die Grünen schultern inzwischen ihr Ränzlein, um im Park dem Gesang abwesender Vögel zu lauschen, die durch den Fortschritt der Gülle ausgerottet wurden. Sinnvolle Sätze über den Zusammenhang von Mutter Natur und einem eifersüchtigen Vatergott, der Natur schädigen muss, um seine Macht endgültig zu stabilisieren, können sie nicht formulieren.

Der Widerstand der Linken gegen den Neoliberalismus ist blutleer und aussichtslos, denn ihre marxistischen Reste sind identisch mit Machtzielen des Kapitalismus: beide Systeme, einst spinnefeind, wollen das Erdreich gewinnen. Darunter machen sie es nicht. Bei Marx muss das System der Habgier so böse werden, dass es sich eines Tages selbst zerstört. In theologischer Sprache: der Teufel ist ein Knecht Gottes, der seinen Widersacher als Werkzeug einsetzt, um das gute Ziel zu erreichen, das sie ohne die Energie des Bösen nie erreichen würden.

„Man glaubt etwas sehr Großes zu sagen – heißt es bei Hegel – wenn man sagt: Der Mensch ist von Natur gut; aber man vergisst, */dass man etwas weit Größeres sagt mit den Worten: Der Mensch ist von Natur böse/*. Bei Hegel ist das Böse die Form, worin die */Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung /*sich darstellt.“ (Marx)

Die Deutschen tun, als hätte Marx alle kapitalismuskritischen Erkenntnisse selbst erfunden. Davon kann keine Rede sein. Von den französischen „Utopisten“, die er verächtlich als moralische Schwätzer abtat, stammen seine wichtigsten Erkenntnisse über die Gesetze der Ausbeutung. Er diskreditierte die Franzosen, um sein eigenes Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.

„Von den früheren sozialistischen Schulen unterscheidet sich der Marxismus dadurch, dass er jeden ideologischen Gedanken an Gerechtigkeit und Brüderlichkeit absichtlich abschaltet, die einen so großen Platz in der französischen sozialistischen Bewegung eingenommen hatten. Es handelt sich nicht darum, zu wissen, was am gerechtesten sein wird, sondern einfach um die Kenntnis dessen, was sein wird. Marx: „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf (moralischen) Ideen, … sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher, gegebener Verhältnisse.“ (Gide-Rist, Geschichte der volkswirtschaftlichen Meinungen)

Die Sozialisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts umfassten in weitherziger Humanität alle Menschen, ohne Unterschied zwischen Arbeitern und Bürgern. Owen, Saint-Simon und Fourier rechneten sogar mit den Reichen, um die Gesellschaft der Zukunft zu gründen. Mit der äußersten Heftigkeit verwirft der Marxismus jedes Einverständnis und jedes zeitweilige Übereinkommen mit der Bourgeoisie.“ (Gide-Rist)

Nur nebenbei: diese Differenzen zwischen deutschem und französischem Denken trüben das gesamte deutsch-französische Verhältnis. Warum gibt es kein herzliches Verstehen der beiden Völker? Weil die auseinander klaffenden philosophischen und politischen Hintergründe nicht zur Kenntnis genommen werden. Dialoge zwischen den europäischen Staaten existieren nicht. Die Machteliten aller Nationen verstehen nur die Sprache des Mammons.

Da Marx kein Ethiker sein wollte, unterließ er es im Allgemeinen, die Ausbeuter moralisch zu attackieren. Eine gravierende Folge dieser Fehlleistung war das hundsföttische Niedermachen des „Lumpenproletariats“:

Das Lumpenproletariat, „das in allen großen Städten eine vom industriellen Proletariat genau unterschiedene Masse bildet, ist ein Rekrutierplatz für Diebe und Verbrecher aller Art, von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber, dunkle Existenzen, verschieden nach dem Bildungsgrade der Nation, der sie angehören, nie den Tagediebcharakter verleugnend.“

Wenn man nicht wüsste, dass Marx das seelisch und materiell zerstörte Volk meinte: man könnte sich das Lumpenproletariat leicht als Lumpenelitariat vorstellen: „ein Rekrutierplatz für Verbrecher aller Art, von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, dunkle Existenzen, verschieden nach dem Bildungsgrade der Nation, der sie angehören, nie den Tagediebcharakter verleugnend.“ Haben wir inzwischen nicht viele Beispiele von Wirtschafts- und Bankenverbrechern erlebt, die vom Geld der Menschen leben, sie aussaugen und nach Belieben auf die Straße werfen?

Das Lumpenelitariat kümmert sich nicht um das Schicksal der Menschen und den Erhalt einer menschenfreundlichen Natur. Sie sausen in den Weltraum, die überflüssigen Massen hinter sich lassend. Die ungeheuren Vermögen der Superreichen würden ausreichen, um die schlimmsten politischen und ökologischen Katastrophen zu lindern und das Schiffchen der Weltpolitik umzusteuern. Bill Gates jammert über sein vieles Geld, das er nicht mehr sinnvoll ausgeben könne. Bei so viel Hybris bleibt der Verstand stehen.

Wie geht die deutsche Presse mit Marx um? Wie beim Gedenken an einen vortrefflichen Toten. Über Tote nur Gutes:

„Marx sah die Globalisierung keinesfalls nur als Gefahr. Er erkannte im freien Welthandel und der damit einhergehenden Globalisierung vielmehr eine Urkraft, die die Welt veränderte und damit auch viele aus seiner Sicht überkommene Strukturen beseitigte – was er begrüßte. «Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation (Ausbeutung) des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet», schrieb er im Kommunistischen Manifest. «Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre der Industrie den nationalen Boden unter den Füßen weggezogen.»“ (ZEIT.de)

Kosmopolitismus ist das Werk globaler Ausbeutung und der Zerstörung nationaler Selbstbestimmung?? Eine Urkraft, die die Welt verändert – mit Einverständnis der Welt? Nein, die Welt wird verändert, wie der messianische Westen es für richtig hält. Imperialismus ist der Begriff für gewalttätige Welteroberung und Weltausbeutung. All dies wird von der ZEIT im günstigsten Licht gesehen.

„Marx sah die wirtschaftliche Globalisierung als eine Chance für die Länder, sich von patriarchalen und feudalen Strukturen und vom Nationalismus zu befreien. «Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation», schrieb er. Und er erkannte auch, mit welchem Mittel der Handel so weltverändernd wirkt: «Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt.»“ (ebenda)

Die blutrünstigste Vergewaltigung anderer Kulturen wird als notwendig-faschistische Zwangsbeglückung gepriesen. Wer anders leben will als der kapitalistische Westen gilt als barbarische Nation, der gezeigt werden muss, wie der Weltgeist funktioniert. Schwere Artillerie ist keine Metapher. Das ist wortwörtlich zu nehmen. Nur die anderen Kulturen pflegen Fremdenhass, weil sie nach eigener Facon selig werden wollen.

Marx war ein abendländischer Totalitarist, der alle Mittel der List und Gewalt für richtig hielt, um die Völker der Erde unter die Knute des Profits und der Naturausbeutung zu zwingen. Versteht sich, dass solche Sätze von Wagenknecht nicht kommentiert werden mussten. Es ist doch Geburtstag, da muss gefeiert werden. In den Medien wird Marx mit Zitaten gefeiert, die das Gegenteil von demokratisch-humaner Moral sind. Und alles jubelt.

Dabei gibt es längst fundierte Kritiken über Marx. Nicht nur von Neukantianern. Nicht nur von Bertrand Russell. Nicht nur von Jacob Talmon. Nach dem Krieg von Karl Löwith und Karl Popper. Die deutschen Marx-Claqueure haben es nicht nötig, sich mit solchen Denkern auseinander zu setzen. Was schert sie die Erkenntnis der Vergangenheit, wenn sie nur dem Tag (jour) verpflichtet sind?

Historiker kümmern sich um das Gestern, das sie zur Erhellen des Heute nicht nutzen dürfen. Journalisten machen sich auf die Spur des Heute, ohne das Gestern wahrzunehmen. Wenn das keine folie à deux, ein Wahn für komplementäre Irre ist.

Vernunft und Moral scheiden für Marx zur Gestaltung der Realität aus. In den Worten von Karl Popper: „Da Marx jeden Versuch, unsere Vernunft zur Planung der Zukunft zu verwenden, als utopisch ablehnt, kann die Vernunft an der Herbeiführung einer vernünftigeren Welt keinen Anteil haben.“ (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde)

Das deutsche Rätsel ist: wie kann man ständig nach Vernunft rufen – und gleichzeitig Marx rühmen, der alle Vernunft am Boden zerstört? Bleibt nur Gysis Antwort: Vernunft muss eine Illusion sein.

 

Fortsetzung folgt.