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Umwälzung IX

Hello, Freunde der Umwälzung IX,

„wenn‘s ans Sterben geht, werde ich da sein“ – schrieb eine Tochter an ihre greise Mutter.

Wo aber sind wir, wenn‘s ans Leben geht?

Wenn‘s ans Sterben geht – werden wir nicht mehr sein. Denn wir werden nicht mehr leben. Wer wird uns betrauern?

Fortschritt soll alles können. Doch sattes Leben kann er nicht erzeugen. Fortschritt lehrt nicht das Leben. Er will den Tod, um Unsterblichkeit zu erringen. Wenn wir sterben, werden wir nicht trauern können. Fortschritt ins Unsterbliche wird im Tode enden. Beschleunigen zum Tode ist vorweggenommene Trauer, die nicht trauern darf. Mit Fortschritt müssen wir uns betäuben, um unsere Trauer nicht wahrzunehmen. Fortschritt ist die rasende Betäubung unserer Unfähigkeit zu trauern.

Wäre Glück die Fähigkeit früherer Zeiten, müssten wir rückschrittlich, nostalgisch und ewiggestrig werden.

Läge Glück in der Zukunft, müssten wir vergangenheitsblind, fortschrittlich und futurisch werden.

Was sind wir? Vergangenheitsblind, fortschrittlich und futurisch. Ergo glauben wir, dass die Menschheit noch nie glücklich gewesen sein kann. Oder dass sie vielleicht glücklich war, Glück aber das Streben des Menschen ins Unendliche verhindert.

Was ist die Erfüllung des Lebens? Ein überschwänglich glückliches Leben? Oder ein ruhe- und rastloses Expandieren in grenzenloser Herrlichkeit, das andere in den Schatten stellen muss?

Weltpolitische Fragen, die das Schicksal der Menschheit bestimmen.

Lebten wir in planetarischen Demokratien, müssten Weltkonzilien einberufen werden, auf denen die Stimmen der Welt miteinander ins Gespräch kämen und über das Ziel der

Geschichte berieten. Der Welttourismus ist zum Kosmo-Autismus verkommen. Sie fahren in die letzten Winkel der Erde und kehren erkenntnislos zurück. Reisen ist zur Flucht vor dem Heimischen geworden. Begegnungen mit dem Fremden sind unmöglich, wenn das Eigene unbekannt ist. Wer identisch mit sich wäre, würde das Nichtidentische als Bereicherung empfinden.

Herrschaft des Geldes und Anhäufen der Macht lassen kein Leben zu. Wenn Mittel zum Leben Despoten des Lebens werden, ist die Gattung gescheitert. Dem Scheitern nähern wir uns mit Riesenschritten.

Sogenannte Politiker halten die Bewahrung der Natur für eine Marotte. Sie nennen sich konservativ. Doch außer ihren Pfründen wollen sie nichts bewahren. Politik gefährdet den Bestand der Menschheit. Wer diese Politik gewähren lässt, gefährdet Mensch und Natur.

„Die Erderwärmung ist kaum noch auf 1,5 Grad begrenzbar“. (TAZ.de)

Nehmen wir an, wir könnten die Zeit überfliegen und erblickten das Ende der Menschheit, könnten in die Gegenwart zurückkehren, um die Spuren des Versagens in der Geschichte aufzuspüren – zu welchem Ergebnis kämen wir? Dass sich das Ende schon lange angekündigt hatte. Dass der Mensch bewusstseinslos und doch zielstrebig das Ende verfolgt hat.

Der Menschen Elend war zu groß, als dass sie darauf hätten verzichten können, Rettungsmethoden zu erfinden – die noch verhängnisvoller waren als die Übel, denen sie entflohen. Sie erfanden Götter und Erlöser, die ihnen Heil und Segen verheißen – in Wirklichkeit aber ultimatives Elend bringen. Natur zerstören und die Menschheit in zwei feindselige Teile spalten – das soll Heil sein? Den Menschen zu einem Nichts machen und seine Hoffnungen auf ein Nichts richten – das soll Erlösung sein?

Zwei Wirtschaftsethiker aus Sankt Gallen haben sich im SPIEGEL Gedanken gemacht. Den Menschen werde es immer schwindliger, alles werde unübersichtlicher und schneller.

„Man kommt nicht mehr so recht hinterher, manchmal auch nicht mehr wirklich klar in dieser komplexen Welt“. (SPIEGEL.de)

Da sind sie und werden aneinander gereiht – die Wörter, die zur Verwirrung und Beendigung des Denkens auffordern: unübersichtlich, komplex, fragmentiert. Wären diese Wörter richtig: müsste man sich nicht anstrengen, ihre Herkunft zu erforschen, um ihre Macht zu brechen?

Was ist komplex, was unübersichtlich? Versteht die Menschheit nicht, dass sie die Natur zerstört? Weshalb gibt es eine weltweite ökologische Bewegung, wenn die Menschen nicht erkannt hätten, dass sie die Welt zerstören? Sind die Ursachen der Zerstörung unbekannt? Was wären das für illusionäre Rettungsmaßnahmen, wenn sie unbekannte Ursachen bekämpften? Müssten nachdenkliche Menschen nicht fragen, woher Komplexität und Unübersichtlichkeit kommen?

Ursachenfragen werden heute nicht mehr gestellt. Kausalität, eine der wichtigsten Erfindungen des wissenschaftlichen Geistes, ist erloschen. Stattdessen schreiben die Wirtschaftsethiker:

„Moderne, auf Fortschritt basierende Gesellschaften stehen vor der ständigen Herausforderung, ihre Regeln und kulturellen Normen weiterzuentwickeln und so die komplexer werdende Wirklichkeit verständlich zu machen.“

„Stehen vor“ – alles wird passivisch formuliert, als ob die Geschehnisse von unbekannten Mächten angeordnet worden wären. Wer ist es, der fordert, alles müsse ständig weiterentwickelt werden? Warum müssen Regeln fortentwickelt werden? Waren sie schlecht? Hatten sie sich nicht bewährt? Wer stellt das fest? Wo werden solche Erkenntnisse gewonnen? Von welchen kulturellen Normen ist die Rede? Von abendländischen Werten? Ist man hierzulande mit seinen heiligen Werten nicht mehr zufrieden? Um welche Werte handelt es sich? Was ist eine komplexer werdende Welt? Eine Welt, die immer unverständlicher wird? In welcher Hinsicht? In technischer, politischer, moralischer Hinsicht? Ist komplex so viel wie kompliziert? Technik mag für viele kompliziert sein: ist ihre Anwendung unverständlich? Warum setzt man sie dann ein? Niemand muss einen Staubsauger verstehen und doch weiß jeder, zu welchem Zweck er dient. Niemand muss programmieren können und doch weiß jeder, dass Roboter Menschen überflüssig machen.

Was sind moderne Gesellschaften? Modern ist ein Begriff ohne Inhalt: modern ist etwas, was nicht – alt ist. Was alt oder nicht-alt ist, bleibt ohne Substanz. Das Alte könnte besser sein als das Moderne. Ist das Moderne schon deshalb besser, weil es nicht alt ist?

Wenn leere Zeitangaben die Wahrheit ersetzen, können wir uns das Erkennen vereinfachen, indem wir alle Phantastereien mit Daten belegen. Das Bessere ist, was neueren Datums ist. Faschismus wäre weitaus besser als Demokratie, weil Demokratie ein alter Hut ist. Ist der neueste Lug und Trug die blanke Wahrheit, weil er just erfunden wurde?

Wenn Wahrheiten abhängig wären von der Zeit, bestünde Argumentieren aus bloßen Zeitangaben. Jeder könnte den anderen niederbrüllen: Jetzt, New School, Wahrheit von morgen. Früher nannte man das Übertrumpfen mit einer unfehlbaren Zukunftssicht: Prophetie. Die neueste Wissenschaftsmethode wäre demnach eine prophetische Schau mit Hilfe einer Heilsgeschichte. Die Moderne wäre identisch mit einer uralten Priesterkunst.

Was sind die Ursachen der Komplexitätsmisere?

„Viele halten nur noch mit Mühe Schritt. Unsere emotionale und narrative Anpassungsfähigkeit kommt an Grenzen. Der Mensch entfremdet sich von der Welt, wendet sich ab oder einfachen Erzählungen zu, in denen das eigene Leben irgendwie noch Sinn ergeben kann. Es sind also nicht allein und nicht nur technologische Veränderungen oder Ressourcenengpässe, die Krisen auslösen, sondern die Unfähigkeit, das eigene Leben und die Gesellschaft anders zu denken und zu leben.“

Alles dreht sich um Erzählungen. Um Geschichten und Kindermärchen. Erklärungen aber sind keine Erzählungen, sondern Gedanken, empirische Erkenntnisse. Heilige Schriften bieten Erzählungen von Menschen und Göttern. Sie sind Erfindungen poetischer Naturen, denen der Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit gleichgültig ist. Sind die meisten Menschen zu dumm, um zu verstehen, was in der Welt geschieht? Gibt es Cliquen von Genies, die sich das Recht nehmen, die Welt nach ihrem Bilde einzurichten? Wer hat ihnen die Macht gegeben? Muss der gewöhnliche Mensch sich ständig anpassen und fremden Gesetzen unterordnen? Wo bleibt seine autonome Denkkraft? Wozu Demokratie, wenn die Meinungen der meisten belanglos sind?

Tatsächlich, jetzt wird Demokratie erwähnt:

„Verschiedene Elemente einer möglichen neuen Ordnung werden als Konturen jedoch bereits sichtbar. Und diese bieten aus unserer Sicht Anlass zu einem gewissen Pessimismus, wenn man Demokratie und Rechtstaatlichkeit als Werte versteht, die es zu bewahren lohnt. Denn es mehren sich Hinweise auf eine Entwicklung hin zu einer nur post-demokratischen und neo-feudalen Ordnung, in der fundamentale moralische und politische Errungenschaften der Neuzeit kaum mehr Gültigkeit beanspruchen.“

Alles geschieht unausweichlich, bricht über den ohnmächtigen Einzelnen herein. Subjekte der Geschichte scheint es nicht zu geben – oder sie werden nicht genannt. Die Schreiber sind Propheten, die ihr Ohr aufs Gleis legten, um das Nahen des Zuges von weitem zu vernehmen. Doch wenn Gefahr droht: warum wird nicht frühzeitig gewarnt, warum wird sie nicht rechtzeitig bekämpft? Warum werden die Menschen nicht zusammengerufen, um das dräuende Unheil energisch zurückzuschlagen? Alles klingt nach unvermeidlichem Schicksal.

Hätten Zeitbeobachter in der Weimarerzeit die Heraufkunft des Nationalsozialismus gesehen: hätten sie sich resigniert ins Private zurückziehen dürfen, weil sie keine Möglichkeiten des Widerstandes sahen? Haben Demokraten das Recht, pessimistisch zu sein, wenn sie nichts unternahmen, um den Übeln zu wehren?

Doch halt: ist nicht der ganze Aufsatz eine einzige Warnung? Nein, er brilliert mit prophetischen Ereignissen, deren Ankunft unvermeidlich scheint. Die Botschaft lautet: es ist zu spät, nein, es gab nie eine Chance, die Katastrophe zu verhindern. So ist nun mal die Geschichte. Die Mehrheit der Menschen ist unfähig, ihre Zeitläufte zu verstehen, nur Wenige und Auserwählte bestimmen den Kurs der Geschichte. Erneut muss konstatiert werden: Erkenntnisse der Moderne sind identisch mit Aussagen uralter Priester und Propheten. Betet und harret, ihr habt keine Chancen.

Ist es nicht feig und hasenfüßig, fernliegende Gefahren so übermächtig zu schildern, dass jeder Widerstand sinnlos scheint? Vermutlich meinen es die Ethiker ernst. Und dennoch: wären sie Agenten der unvermeidlichen Schicksalskräfte, müssten sie exakt so formulieren, wie sie hier formulieren: lasst alle Hoffnung fahren, die ihr der Zukunft entgegen geht. Ob gewollt oder nicht: die Propheten werden zu Komplizen des kommenden Unheils. Wer von weitem Gefahren sieht, sollte beizeiten den Kürzeren ziehen? Propheten werden zu Propagandisten des Unheils, die allen Zeitgenossen raten: Widerstand zwecklos.

„Was wir heute in vielfältiger Weise beobachten können, ist beispielsweise die Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnung durch das gezielte Brechen gesellschaftlicher Konventionen und Regeln des Anstands. Fake News oder Alternative Facts: die Unterhöhlung wissenschaftlicher Befunde im Allgemeinen und von Expertenwissen im Besonderen kündigen den Konsens über Richtig und Falsch auf. Vorstellungen einer rationalen Gesellschaftsordnung verflüssigen und verflüchtigen sich damit.“

Was hat Wissenschaft mit Anstand zu tun? Einstein hätte ein Ekel sein können: seine Erkenntnisse wären dennoch richtig gewesen. Gesellschaftliche Konventionen haben nichts mit Wissenschaft zu tun. Weshalb wird der Trumpismus zum übermächtigen Gesetz der Zeit verklärt oder dämonisiert? Wissenschaftliche Befunde wurden seit jeher angegriffen: von Biblizisten, Gegenaufklärern und Machthabern, denen autonomes Denken ihrer Untertanen ein Dorn im Auge war. Feinde des freien Denkens werden derart zu übermächtigen Gespenstern aufgebauscht, dass man die Waffen des Widerstands fallen lassen kann, bevor sie sich überhaupt gezeigt haben. Selbst-produzierte Feigheit, rechtfertigt durch prophetischen Gigantismus: darum geht es im modernen Buch der apokalyptischen Reiter.

Von welcher rationalen Gesellschaft ist die Rede, in der wir angeblich leben? Ist Kapitalismus eine rationale Gesellschaft? Kann eine naturzerstörende Gesellschaft rational sein?

Wo hat es je einen Konsens über Richtig und Falsch gegeben? Seit Dezennien rühmt sich das post-moderne Denken, jede allgemeine Wahrheit eliminiert zu haben. Plötzlich soll es einen Konsens über Richtig und Falsch gegeben haben? Kein Zufall, dass der Begriff Wahrheit kaum fällt, die Verfasser von richtig und falsch sprechen. Ihre Coolness ist nichts als die Tarnung ihrer mangelnden Widerstandskraft. Kaum ertönt das leiseste Pfeifen in unendlicher Ferne: schon liegen sie flach, jammern, heulen und unterwerfen sich dem Feind, bevor er sich überhaupt gezeigt hat.

Jetzt wird’s bullshittig:

„Die schwindelerregende Gesellschaft provoziert nicht nur Schwindelgefühle, sondern produziert auch Schwindler. Schwindler sind keine Lügner, denn eine Lüge bezieht sich noch auf eine geteilte Vorstellung von Wahrheit. Schwindler hingegen, so der Philosoph Harry Frankfurt, „bullshiten„, sei es aus Ahnungslosigkeit, sei es aus strategischem Kalkül. Hier wird bewusst jenseits einer geltenden Ordnung phantasiert. Bullshit setzt sich über die Idee der Wahrheit hinweg und zersetzt damit die herrschende Ordnung. „Wahrheit“ wird dem Eigeninteresse untergeordnet.“

Wahrheit in Anführungszeichen. Man müsste ja definieren, wovon man spricht. In welcher Welt leben die Bullshitgegner, die sie als geltende Ordnung bezeichnen? Wie alt ist der Creationismus? Wie lange leugneten die Frommen die Erkenntnisse des Kopernikus? Noch heute glauben sie eher den Worten der Genesis als den Wahrheiten der Naturwissenschaftler. Spätestens seit Adam Smith wird das Eigeninteresse zum Schlüssel des Wohlstands der Nationen. Smith hielt seine Lehre für reine Wahrheit. Interesse muss nicht das Gegenteil von Wahrheit sein, wenn es Interesse an der – Wahrheit wäre. Interessen müssen nicht irrational sein. Wer interessiert ist, ein gutes Leben zu führen, muss nur die Wahrheit des guten Lebens entdecken – und schon sind Interesse und Wahrheit konform.

Nun kommen die finalen Warnungen – doch vor wem?

„Ob wir es innen- oder weltpolitisch betrachten, es spielen sich bestimmte Figuren an die Spitze und verschaffen sich Gehör. In Schwellenzuständen nutzen selbsternannte Leitfiguren die Gunst der Stunde der Unsicherheit, indem sie die Delegitimation der alten Ordnung vorantreiben und gleichzeitig der Idee einer neuen Ordnung Gestalt geben. Die Verkünder der neuen Ordnung pressen so ihre eigenen Interessen in Form. Sie bieten sich damit als Fluchtpunkt für eine neue Zukunft an und reizen etwas, was man vielleicht als eine anthropologische Konstante bezeichnen kann, ein menschliches Verlangen, das in liminalen Perioden besonders stark hervortritt: die Suche des Einzelnen nach Gemeinschaft. In Momenten existenzieller Unsicherheit ist es gerade die Gruppe, die dem Einzelnen Halt und neue Resonanzräume geben kann, oft in Form eines «wir gegen die».“

Wahre Propheten warnen vor falschen Propheten. Kopf einziehen, wir befinden uns im Kanonendonner der Zukunfts-Schauer. Woran erkennt man falsche Propheten? Nicht an ihrer falschen Lehre. Sondern daran, dass sie es wagen, ihre Sicht der Dinge, ihre Rettungsvorschläge zur Debatte zu stellen.

Wäre es nicht Pflicht jedes Demokraten, der faktischen Unordnung „die Idee einer neuen Ordnung“ entgegenzustellen? Kann man Gefahren begegnen, ohne Ideen und Visionen zu entwickeln? Ist bereits ein Scharlatan, wer es wagt, in „selbst-ernannter“ Kompetenz seine Lösungen der Probleme anzubieten? Das Wörtchen selbst-ernannt ist – wie alle Wörter, die mit selbst beginnen – aus der Garküche des Satans. Da wagen es auto-nome, selbst-bestimmte Geister, im Namen der eigenen Vernunft ihr Maul aufzureißen. Müsste dies von wehrhaften Innenministern nicht unterbunden werden?

Die herrschenden Intellektuellen wehren sich gegen die Konkurrenz selbst-ernannter Menschheitswarner. Selbst haben sie offenbar nicht viel zu bieten. Doch das halten sie noch immer für besser, als Aufschneidern die Chance zu geben, ihre Wahrheiten zu verkünden. Wer nicht den Segen der Eliten genießt, muss ein populistischer Beutelschneider sein.

Das menschliche Verlangen, einer Gruppe anzugehören, wird in derart dubioses Licht gerückt, dass Verbundenheit und Nähe nach sektiererischen Abnormitäten riechen. Besser, der Einzelne erträgt die Kälte des kapitalistischen Universums, als sich Menschen anzuschließen, denen er vertrauen kann. Klumpende Eliten warnen davor, der Pöbel könnte sich revolutionär zusammenrotten. Vorsicht vor Solidarischen, sie könnten den Aufstand vorbereiten. Besser ist es, den Gegner zu atomisieren, indem seine Fürsorglichkeit als „Helikopterverhalten“ diffamiert wird. Oder als Unfähigkeit, sich zu lösen. Seit Bestehen des Kapitalismus wird die Nestqualität der Überflüssigen zersiebt. Familien als funktionierende Machtkohorten gebühren nur denen, die es sich leisten können.

Was bleibt?

„Eines erscheint jedoch gewiss: es geht nicht nur um Wahrheit, sondern auch um Wachsamkeit; Wachsamkeit gegenüber Bullshit und Wachsamkeit gegenüber selbsternannten Helden. Welche Ziele verfolgen die neuen Figuren? Es erscheint an der Zeit zu fragen, welchen Wert wir unserer alten Ordnung geben.“

Alte Ordnungen in einer Zeit, in der sich regelmäßig alles auflösen muss? Selbst-ernannte Helden sind schlimmer als fremd-gesteuerte Feiglinge, die sich reaktionär und konservativ geben. Namen werden nicht genannt, Inhalte der Helden nicht konkretisiert. Alles bleibt ein Kanonendonner im Nebel.

FAZ-Kaube legt noch eins drauf und verurteilt alle moralischen Meinungen als Nostalgie und intellektuelle Faulheit.

„Wenn der Eindruck nicht täuscht, fällt gerade vielen zur Gesellschaft, in der wir leben, so wenig ein, dass sie dankbar für jede Möglichkeit sind, alte Schlachten zumindest rhetorisch nachzustellen. Die Tatsächlichkeiten sozialen Elends in dieser Gesellschaft, die wirklichen Toten, die Opfer von Rechtsverletzungen, sind dafür dann nur Material und Anlass, wütend zu sein und Bescheid zu wissen, wer am Unglück Schuld trägt. Dieses Bescheidwissen macht sich keine Arbeit, denn nichts ist leichter als Meinen und in moralischer Absicht mitzuteilen, die anderen seien doch wirklich das Letzte, so gehe es doch bestimmt nicht weiter, solche Leute wolle doch niemand, der guten Herzens sei, zu Nachbarn. Diese Art von Moral ist wie die Nostalgie eine Form der intellektuellen Faulheit.“ (FAZ.NET)

Neue Schlachten müssen geschlagen werden. Ungelöste, uralte Probleme darf es nicht geben. Wer soziales Elend kritisiert, will sich nur mit seiner eitlen moralischen Meinung spreizen.

Haben die Wirtschaftsethiker aus Sankt Gallen die Prophetenrolle übernommen, spielt Kaube den obrigkeitlichen Preußen: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Kaube warnt vor Nostalgie, was auf Deutsch soviel wie Heimweh bedeutet. Was sollen die aufkommenden Apologeten der Heimat sagen, wenn Kaube den Deutschen das Recht auf Heimat abspricht?

Immobilienhaie aus aller Welt werden sich freuen, wenn sie das Recht erhalten, den einheimischen Nostalgikern die Heimat unter den Füßen wegzuziehen. Ein moderner Mensch soll mobil bleiben, damit er aus seiner Wohnung gejagt werden kann.

Nostalgiker sind Ewiggestrige, Rückwärtsfahrer sind die schlimmsten. Sie verweigern den Blick in die Zukunft:

Nicht, was lebendig, kraftvoll sich verkündigt,
Ist das gefährlich Furchtbare. Das ganz
Gemeine ist’s, das ewig Gestrige,
Was immer war und immer wiederkehrt
Und morgen gilt, weil’s heute hat gegolten!“ (Schiller)

Was immer war und wiederkehrte, war die Wahrheit der Griechen, die keine lineare Heilsgeschichte kannten. Sondern die ewige Wiederkehr der Wahrheit der Natur. Hinweg mit diesen heidnischen Geistern.

Deutsche Intellektuelle bevorzugen die Wahrheiten ihres Kinderglaubens – die auch nicht mehr die jüngsten sind. Seit 2000 Jahren warten Christen auf die Wiederkehr ihres Herrn.  

 

Fortsetzung folgt.