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Umwälzung I

Hello, Freunde der Umwälzung I,

„Bin ich der Flüchtling nicht? Der Unbehauste? / Der Unmensch ohne Zweck und Ruh, / Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste, / Begierig wütend nach dem Abgrund zu? (Faust in ‚Wald und Höhle‘)

„Für den klassischen Humanismus ist der Mensch Selbstzweck. Seine Aufgabe ist es, seine Individualität völlig auszubilden, im Individuum das Ideal zu erreichen, sich selbst zu vollenden. Jedes Vermögen soll ausgebildet werden, denn die Tugend ist das Gleichgewicht aller Seelenfähigkeiten. Der ideale Mensch ist kein Fachmann, sondern ein ganzer Mensch.“ (Lütgert, Die Religion des deutschen Idealismus)

Vollendung in Unbehaustheit? Faust, Inbegriff des klassischen Idealisten, ist ein Unmensch ohne Zweck und Ruh, der sich begierig-wütend dem Abgrund nähert?

Klaffende deutsche Widersprüche – die keinen Deutschen interessieren. Gibt es Pychostrukturen, die zu solchen Widersprüchen verpflichten? Erwerben Völker in der Geschichte ihres Entstehens nationale Charakterprofile, die sie für immer voneinander trennen?

Nationale Besonderheiten wurden von nationalsozialistischen Ideologen völkische genannt. Völkische Merkmale waren angeborene Eigenschaften, die von anderen Völkern nicht erworben werden konnten.

Von Natur aus – oder erworben und gelernt: ist die unausrottbare Frage aller Rassisten, die ihr völkisches Profil als Geschenk der Natur betrachten, das von keinem Fremden erworben oder erlernt werden kann.

Die „Identitären“ der Gegenwart betrachten die angeborenen und nicht erlernbaren Eigenheiten ihrer Nation als Zentrum ihrer Abgrenzungspolitik gegen

Flüchtlinge und Einwanderer.

„Jedes „Volk“ habe eine separate gemeinschaftliche Kultur und einen je „eigenen Charakter“, die gegen Bedrohungen und Vermischungen zu schützen seien. Der Begriff „Rasse“ werde zwar vermieden, jedoch sei der Bezug auf die nationalsozialistische Parole „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ „offensichtlich“.

Eine „Leitkultur“ ist nichts anderes als die Identität eines Volkes, die a) von Eindringlingen nicht erworben oder b) von ihnen zerstört werden kann.

Sind Gesellschaften Mechanismen oder Organismen?

Das war eine europäische Urfrage. Organismen mit unverwechselbaren völkischen Eigenheiten waren die Grundlagen aller rassistischen Herrenpolitik. Mechanismen hingegen können von allen beherrscht werden, die ihren technischen Aufbau verstehen.

Um Streitigkeiten zwischen überlegenen oder minderwertigen Völkern zu entgehen, gingen die Aufklärer dazu über, Gesellschaften als rational beherrschbare Maschinen zu beschreiben.

Ökonomen vor allem waren es, die die Entstehung von Wohlstand und Reichtum als erlernbare Fähigkeiten von Maschinisten definierten. Wenn jedes Volk nach denselben Regeln reich werden kann, erhält der Kapitalismus die fair scheinende Lizenz, mit freiem Handel die Welt zu erobern. Reichtum hängt nicht von zufälligen Erbmerkmalen ab, sondern allein von der Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit der Völker, die sich gleichen Wettbewerbs-Regeln unterordnen.

Seltsam jedoch: gerade die gleichen, von allen Menschen erlernbaren Wirtschaftsregeln führten zum nationalen Gefälle der Konkurrenten. Unter dem Deckmantel egalitärer Regeln gedieh das klaffende Gefälle nationaler Unterschiede – die sich gerierten, als seien sie angeboren. Die überlegenen Wirtschaftsnationen propagierten den Freihandel, als seien sie durch Natur oder Religion prädestiniert,   den weltweiten Wettbewerb zu gewinnen. Sind sie nicht tüchtiger und leistungsfähiger als alle anderen?

Sind Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit erlernt oder angeboren?

Nur wenige basale Merkmale sind dem Menschen angeboren. Alles Relevante ist erlernt, durch Umgebung geprägt, durch Kultur vermittelt. Durch Überbetonung natürlicher Vererbung soll die Uneinholbarkeit der Siegernationen betont werden. Im Gegensatz zur Überbetonung des Erlernbaren, das die „Ungerechtigkeit“ unverdienter Vorteile kaschieren und die angeblich fairen Voraussetzungen aller Konkurrenten unterstreichen soll. Jeder, der sich anstrengt, kann jeden besiegen, sogar den Stärksten.

Unverrückbare Überlegenheit durch den Willen der Natur (oder eines Gottes) – bei gleichzeitiger Startgerechtigkeit aller Teilnehmer, bei der die selbsterarbeitete Tüchtigkeit entscheidet: auf diesem systematischen Widerspruch basiert die Überlegenheit der westlichen Zivilisation.

Hayek spricht von Regelgerechtigkeit, die den darwinistischen Kampf der Nationen prägen soll. Im Gegensatz zur Ergebnisgerechtigkeit, die willkürlich festlegen würde, dass alle Nationen – unabhängig von Arbeit und Tüchtigkeit – denselben Profit bei unterschiedlicher Leistung erhalten sollten. Im Bilde gesprochen: der Kampf eines bärenstarken Mannes gegen einen zarten Knaben wäre gerecht, wenn die Regeln des Kampfes von beiden strikt beachtet werden würden.

Was aber soll das für eine Regelgerechtigkeit sein, wenn Hayek den Markt – den Schauplatz des Kampfes – als Stätte eines unverständlichen Zufalls betrachtet? Wie kann man von Regelgerechtigkeit reden, wenn die Regeln von keiner menschlichen Vernunft erfasst werden können? Noch schlimmer: wenn es gar keine rationalen Regeln zu geben scheint?

Das wachsende Gefälle zwischen Reichen und Armen beunruhigt selbst neoliberale Ökonomen. Um „ungerechte“ Umverteilung zu vermeiden, fordern sie Regelgerechtigkeit durch gleiche Bildungschancen. Wie aber kann es gleiche Bildungschancen geben, wenn die abgehängten Klassen weder an Bildung glauben noch an den Sinn eines Wettbewerbssystems, das wenige Sieger und viele Verlierer produzieren muss?

Der Unterschied zwischen Ober- und Unterklassen besteht in der Verweigerung der Unteren, siegen zu müssen, wenn andere darunter zu leiden haben. Unterschichten sind noch von der Gerechtigkeitsvorstellung der Kinder geprägt, die den eigenen Sieg nicht ertragen, wenn andere als beschämte Verlierer den Platz verlassen müssen. Sie fühlen mit jenen, die weniger Glück haben oder sonstwie benachteiligt sind – im Vergleich mit den zufällig Begabteren und Ehrgeizigeren.

Auch die Erfolgreichen verdanken ihre überlegenen Fähigkeiten nicht sich selbst: sie wurden ihnen durch Erziehung und Umgebung vermittelt. Was soll an gleichen Bildungschancen gerecht sein, wenn sie vom zufälligen Elternhaus verschieden vermittelt werden? Kein Mensch macht sich selbst, wählt eigenmächtig seine Eltern oder die Umgebung seiner Geworfenheit. Wie können bloße Regeln zu einem gerechten Ergebnis führen, wenn die Teilnehmer des Kampfes per Zufall unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen?

Der Mensch muss sein Lebensrecht verdienen, sonst hat er kein Recht, auf Erden ein frohgemutes Leben zu führen: diese Devise ist die Ursünde des Kapitalismus. Kein Kind hat seine Geburt durch Leistung verdient. Ungefragt wurde es ins Leben geworfen. Arbeit ist keine Strafe, die ein Mensch durch erzwungene Leistung abbüßen muss. Arbeit ist die Lebensfreude anerkannter und geliebter Menschen, die gar nicht daran denken, sich auf Kosten anderer durchs Leben zu lavieren.

Anerkennung, dann Leistung und Arbeit, das ist die Grundmelodie freier Menschen. Der religiöse Westen, der Arbeit nur als Strafe kennt, hat diese urmenschliche Reihenfolge auf den Kopf gestellt: erst Leistung, dann Akzeptanz. Das ist der lebensfeindliche Urvirus der gesamten abendländischen Kultur.

Die bevorstehende Umwälzung muss den ursprünglichen Lebensrhythmus wieder herstellen: nur der anerkannte Mensch drängt freudig ins Leben, um seinen Beitrag zum Lebenserhalt der Gesellschaft zu leisten.

Was das Grundgesetz Würde nennt, ist das Gegenteil aller erzwungenen und erpressten Leistung. Würde ist Selbstbestimmung, Autonomie. Wird sie durch Fremdbestimmung abgenötigt, hat der Mensch seine Würde verloren. Die Lebensweise der Moderne ist eine vollständige Widerlegung der Würde des Menschen.

Die bevorstehende Umwälzung aller Dinge muss den anerkannten Menschen zum Prinzip ihrer neuen, uralten Humanität erklären.

Die abendländische Religion hat den Menschen deklassiert und seine Lebenskompetenz von einem männlichen Gott abhängig gemacht. Das war die Sünde wider den heiligen Geist – des mütterlichen Lebens.

Was prägt den Einzelnen, was prägt eine Nation?

Alte Kulturen werden von frühen Gedanken ihrer Gründerzeiten bestimmt, die nach kurzer Zeit ins dunkle Terrain des Unbewussten verdrängt wurden. Dort befindet sich das instinktive Zentrum ihrer Herrschaft über den Menschen.

In der kommenden Zeit der Umwälzung müssen die ins Dunkle verbannten Leitgedanken den umgekehrten Weg einschlagen. Wo dunkle Herrschaft war, muss Überlegung im Licht werden.

Alte Kulturen haben den Menschen geprägt. Das verführte Marx zum Trugschluss, das Sein oder die äußeren Umstände bestimmten das Bewusstsein oder den Charakter des Einzelnen. Wer in eine uralte religiöse Gesellschaft hineingeboren wird, hat kaum Chancen, der Religion zu entkommen. Und dennoch fiel die Religion weder vom Himmel, noch ist sie ein Zwangsgeschenk der Natur. Sie wurde von heroischen Menschen ersonnen, die die denkerische Kraft oder charismatische Gewalt besaßen, das Leben ihrer Sippe, ihres Volkes zu verändern.

Die Menschen der Moderne sind Mischprodukte zweier antagonistischer Kulturen, die sich zusammentaten, indem sie sich unaufhörlich bekämpften: der griechischen Aufklärung und der jüdisch-christlichen Religion. Diese Prägung nehmen die Zeitgenossen hin, als gäbe es keine Alternativen. Obgleich ihnen alle Informationen zur Verfügung stehen und sie die Geschichte ihres Werdens in allen Einzelheiten überblicken könnten, sodass sie fähig wären, den schicksalhaften Schein ihrer Prägung zu durchschauen, bleiben sie ihrer zufälligen Geprägtheit treu, als gäbe es keine Alternativen.

Die deutsche Kanzlerin hat Recht, wenn sie ihre Politik als alternativlos bezeichnet. Von Kleinigkeiten abgesehen, betreiben alle deutschen Parteien, alle Völker des Abendlandes, eine alternativlose Politik: die Politik des zwanghaften Fortschritts, einer grenzenlosen Machtgier, einer wütenden Naturzerstörung und eines zufallsgesteuerten, ungerechten Gefälles zwischen Reich und Arm.

Um der Alternativlosigkeit zu entrinnen, müssten die Abendländer die Geschichte ihrer Prägung aufrollen, um sich das Bewusstsein zu erarbeiten, ihr Geformtwerden in aktives Formen zu verwandeln. Der Mensch kann sein Schicksal erst gestalten, wenn er die Einsicht gewonnen hat, dass seine versteinerte Kultur auf Voraussetzungen beruht, die einer rationalen Überprüfung unterzogen und jederzeit revidiert werden könnten.

Doch die Moderne will keine Verantwortung für ihr Schicksal übernehmen. Sie bevorzugt die Unmündigkeit einer alternativlosen Passivität. Sie will schuldlos sein an den Folgen ihrer blinden Taten. Ihre Hast in die Zukunft entspringt der Unfähigkeit, in jedem Augenblick der Gegenwart heiter und vital zu leben.

Unbehaustheit nennt Faust die Krankheit der Moderne. Der Unbehauste ist der Unmensch ohne Zweck und Ruh. Er weiß nicht, wohin die Reise gehen soll. Seine ziellose Stückwerktechnologie ist Beschleunigen auf der Stelle. Sein Motto: unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts, verurteilt ihn zum religiösen Vaganten, dem es nirgendwo auf Erden wohl werden darf. Die Erde darf nicht seine Heimat werden. Um ihren sündhaften Verlockungen nicht zu erliegen, muss er die Schönheit der Natur ausrotten. Die religiöse Bitte: Und führe uns nicht in Versuchung, wird zum Todesurteil der Erde auf Raten.

Der Unbehauste und Entfremdete hat alles Menschliche abgestreift. Wie konnte dieser Bankrotteur zum Inbegriff einer idealen Humanität werden – wie deutsche Gelehrte die Zeit Goethes und Schillers verklären?

Der klassische Mensch hat angeblich zum Gleichgewicht seiner Fähigkeiten gefunden. Und dieser in sich vollendete Mensch soll der Unmensch sein, der begierig und wütend dem Abgrund entgegen rast? Ist der selbstmörderische Kern Fausts das Herz des deutschen Nationalcharakters?

Die europäischen Nationen haben nicht nur Kriege gegeneinander geführt. Sie haben vieles gemeinsam. Sie lernten voneinander, kooperierten miteinander, brachten sich gegenseitig ins Denken und wetteiferten miteinander um Freiheit und Menschlichkeit. So viel Gemeinsames haben sie aber nicht, dass Rivalitäten und endlose Auseinandersetzungen nicht auch unterschiedliche Nationalcharaktere entwickelt hätten. Das hinter uns liegende halbe Jahrhundert hat die Gemeinsamkeiten zur politischen Realität der EU werden lassen.

Heute können wir, auf der Basis des erworbenen Vertrauens, die bislang unterdrückten Differenzen, Hass- und Neidgefühle aus dem Reich des Verdrängten entlassen und im Licht neuer Ehrlichkeit miteinander ausfechten. Dieser Umschlag musste kommen, wenn die europäische Einigung nicht auf tönernen Füßen stehen sollte. Uralte Konflikte verschwinden nicht, wenn sie verleugnet und verdrängt werden. Die futuristische Religion der Moderne will das unbewusste Reservoir des Vergangenen per Dekret löschen. Sie blicken nach vorne, weil sie hinten erblindet sind.

Zukunftsreligion ist die Übersetzung des religiösen Glaubens an die Wiederkunft des Herrn, an das Weltgericht, an die Vernichtung der alten Natur und die Schaffung einer neuen aus dem Geist gottähnlicher Genies – in die mathematische Herrschaftssprache der Technik und Wissenschaft. Technik und Wissenschaft sind keine Instrumente der Erkenntnis mehr, sondern Folterinstrumente, um die Natur zu schänden und auszulöschen.

Die Griechen, die eigentlichen Entdecker des Wissenwollens, beließen die Natur, wie sie ist. Das Vollkommene konnte nicht verbessert werden. Das christliche Abendland hat sich die instrumentelle Logik der Griechen angeeignet und in den Dienst einer religiösen Weltbeherrschung und Weltvernichtung gezwungen.

Die kommende Umwälzung muss Wissenschaft und Technik aus dem Sklavendienst der Naturschändung befreien und ins Reich des wahrnehmenden, naturbewahrenden Erkennens zurückführen. Wir besitzen genug Maschinen, um unser Leben zu erleichtern. Wir wissen genug, um uns im Einklang mit der Natur zu ernähren. Die grenzenlose Expansionswut der Moderne beschädigt alle Grenzen der Natur.

In der kommenden Umwälzung muss die Anbetung des Grenzenlosen – oder die Anbetung eines Gottes – beendet werden. Innerhalb der Grenzen der Natur haben wir uns einzurichten.

Eine Mischepoche aus Vernunft und Glauben geht zu Ende. Die unverträglichen Widersprüche zwischen irdischer Autonomie und göttlicher Allmacht – lange Zeit niedergehalten durch den Siegeszug des Westens – lassen sich nicht länger „synthetisieren“ oder durch Machtspruch versöhnen. Hegels Versöhnung aller Widersprüche war eine Fata Morgana, die in dem Augenblick verschwindet, in dem die Weltführung des Westens zu Ende geht.

Der Niedergang Amerikas ist der Niedergang des Westens. Die nichtchristliche Welt hat den Vorsprung des Westens eingeholt und beginnt, dem Planeten ihren Stempel aufzuprägen. China, einst eine Weltmacht auf der Grundlage einer bewundernswerten Philosophie, hat Kung Fu Tse mit Marx vertauscht und ist zu einer allüberwachenden Parteidiktatur nach westlich-totalitärem Vorbild geworden. Europa, ohne amerikanische Führung, wird täglich kopfloser und beginnt, immer mehr auf militärische Abgrenzung und wirtschaftliche Dominanz zu setzen.

Das Ziel eines friedlichen Weltdorfs, das sich in jenen Grenzen bescheidet, die der Menschheit als ökologische Nische zugewiesen sind, verflüchtigt sich. Das vereinigte Europa ist dabei, die humanen Grundlagen seiner Gründung in Stücke zu schlagen. Dass die USA nichts Besseres zu tun haben, als die UN, das Parlament der Völker, zu schwächen, zeigt die Entwicklung der einst führenden Demokratie zu einem selbstherrlichen, aggressiven Nationalismus.

In der kommenden Umwälzung werden die Völker sich unter dem Banner der UN-Menschenrechte neu zusammenraufen und eine gemeinsame rationale Utopie entwickeln.

Der Niedergang der Sozialparteien im gesamten Westen beruht auf dem vollständigen Sieg des Neoliberalismus, dem sich die einstigen Proletenparteien, fasziniert durch ihren eigenen Aufstieg zum Wohlstand, unterworfen haben. Den grundlegenden Gedanken der Gerechtigkeit, ohne den es keine stabile Demokratie geben kann, haben die „Arbeiterführer“ in den Etagen der Eliten abgegeben. Ihre solistischen Karrieren waren ihnen wichtiger als das Erkämpfen globaler Gerechtigkeit.

Wenn kapitalistische Freihandels-Gesetze die Wirtschaft des Planeten bestimmen, kann es Gerechtigkeit im nationalen Rahmen nicht mehr geben. Während Mammonisten das Handwerk der internationalen Vernetzung beherrschen, haben es die Kritiker des Kapitalismus versäumt, sich in derselben Weise als planetarische Gegenmacht zu organisieren.

Seit ihren athenischen Anfängen konnte die Demokratie nur durch die Leitidee der Gerechtigkeit zusammengehalten werden. Demokratie und Freiheit begannen als siamesische Zwillinge, die sich gegenseitig kontrollierten und zähmten. Als die Freiheit der Einzelnen die Grenzen der Polis überwand und in die Grenzenlosigkeit des damaligen Wirtschaftsraumes vordrang, wurden die expandierenden Kapitalisten so mächtig, dass die Urdemokratie ins Wanken geriet.

Das solonische Ausbalancieren zwischen Starken und Schwachen ging in Brüche. Die alte Kluft zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen feierte nicht nur fröhliche Urständ, sondern begann, ins Grenzenlose zu expandieren. Die regional begrenzte Polis war nicht mehr fähig, die überregionalen Mächte der Reichen zu disziplinieren.

Im hellenistischen Weltreich Alexanders des Großen entstanden die ersten internationalen Handelsgiganten der Geschichte. Als Rom die hellenistischen Reiche eroberte, extremisierte es die Wirtschaftsform der Starken zu einem abschreckenden EINPROZENT-Kapitalismus, in dem wenige Superreiche den Reichtum der Welt zusammenrafften und das römische Volk derart verarmen ließ, dass sie es buchstäblich durchfüttern mussten, damit es nicht elend zugrunde ginge.

Rom wurde zum geheimen Vorbild der heutigen EINPROZENT, die nicht ruhen wird, bis sie den Rest der Welt mit Brot und Spielen zur bedeutungslosen Masse deklassiert hat. Der Kapitalismus wurde nicht in der Moderne erfunden. Kapitalismus beginnt mit der Ausbeutung des Schwachen durch den Starken, die Instrumente der Ausbeutung mögen sein, wie sie wollen.

Es ist die noch immer herrschende Selbstbewunderung der Moderne, dass sie alles erfunden haben will, was mit Glanz und Gloria zusammenhängt – selbst wenn die Kehrseite mit abscheulichem Elend bezahlt werden muss. Nach Marx ist die gesamte Geschichte eine Geschichte der Klassenkämpfe – und dennoch soll der Kapitalismus erst in der Moderne entstanden sein?

Es war die Eitelkeit des Karl Marx, der die Leistungen des bürgerlichen Kapitalismus bewunderte und dennoch der erste Prometheus sein wollte, der das Reich des Mammons in seinem satanischen Kern durchschaut haben wollte.

Als junger Mann ein Aufklärer, geriet er immer mehr in den Sog der Gegenaufklärung und unterwarf den Menschen dem Automatismus der Geschichte.

Als junger Mann Gegner der Religion, wurde seine gesetzmäßige Geschichte selbst zur Heilsgeschichte, in der auch der Revolutionär devoten Gehorsam zu zeigen hatte.

Die moralische Autonomie der Aufklärung wurde von Marx verhöhnt. Wer für Gerechtigkeit eintrat, musste keine selbstbestimmte Entscheidung treffen, keine moralische Politik beginnen: er musste auf das Raunen der Geschichte hören. Völker, hört die Signale – der allmächtigen Geschichte.

Für den Gedanken einer autonomen Gerechtigkeit war Marx ein Verhängnis. Noch heute ist das kollektive Unbewusste der internationalen Sozialdemokratie marxistisch verseucht. Sie begnügt sich mit diversen Alibikorrekturen: doch dem Gesamtsystem aus grenzenlosem Fortschritt, unerbittlichem Wettkampf, nationaler Überheblichkeit, Beherrschung der Welt durch Freihandel und endloser Naturausbeutung gibt sie ihren machtverseuchten Segen.

Gerechtigkeit ist Kontrolle der politischen und ökonomischen Macht. Das Geheimnis des Geldes ist nicht nur Reichtum, die Fähigkeit, alles zu kaufen, was die Gelüste begehren. Es ist Macht, die Kompetenz, die demokratischen Gewalten auszuschalten.

Demokratie ist die Kunst der Gewaltenteilung. Der Neoliberalismus verspottet jede Grenze seiner Gewalt. Hayek hält sich für befugt, die Demokratie in ihre Grenzen zu verweisen, um der Allmacht des Geldes die Pforten ins Unendliche zu öffnen.

Inzwischen beherrschen wenige Monopolgiganten die Weltwirtschaft, missachten die Grundrechte der Bürger nach Belieben und betrügen viele Staaten mit Steuerverweigerung. Man muss von einem planetarischen Ökonomie-Faschismus reden. Die Zwangsbeglücker der Welt in Silicon Valley machen kein Hehl aus ihren totalitären Zielen.

Gerechtigkeit ist:

a) die radikale Zerschlagung aller antidemokratischen Supergewalten;

b) die radikale Zerschlagung aller Supervermögen, die der arbeitenden Bevölkerung ihre gerechten Anteile – wenn auch auf legalem Weg – vorenthalten. Diese Gesetze wurden von Eliten in jahrhundertealter Lobby- und Wühlarbeit erwirkt. Nicht alles, was legal ist, ist legitim.

c) die Zerschlagung der lächerlichen Idee, Wirtschaft sei eine Maschine, die nach unveränderlichen Gesetzen der Natur funktioniere. Wirtschaft ist ein babylonischer Turm aus unendlich vielen moralischen Entscheidungen, die man heute en bloc ignoriert. Was moralisch übereinander getürmt wurde, lässt sich nur mit dem moralischen Seziermesser auseinandernehmen – und nach gerechten Maßstäben neu aufbauen. Die da wären: jeder Mensch hat das Recht auf ein ökonomisch sicheres Leben. Kein Mensch muss seine Würde durch Leistung verdienen. Kein Mensch darf mit Reichtum illegitime Macht in der Gesellschaft ausüben. Eine ungerechte Wirtschaft erkennt man daran, dass die Superreichen in geschlossenen Vierteln residieren, um vom Abschaum der Gesellschaft nicht belästigt zu werden.

d) ohne gerechte Anerkennung der Natur als Garantin unseres Überlebens kann es keine Gerechtigkeit unter Menschen geben. Wie sie die Natur ausbluten, so bluten sie die Menschen aus.

e) ohne Gerechtigkeit gegen Mensch und Natur gibt es keine Freude am Leben. Das Ziel des gerechten Lebens ist das Glück jeden Augenblicks, der seine Vergangenheit nicht verleugnen und seine Zukunft nicht als paranoide Phantasie illuminieren muss.

f) ohne Glauben an den Menschen wird es keine menschliche Zukunft geben. Der Mensch ist unvollkommen, aber lernfähig. Es gibt keinen Grund, ihn zur Bestie zu deklarieren, um die Macht von Erlösern zu rechtfertigen. Er hat schon unendlich viel gelernt. Es gibt keinen Grund, seine Lernfähigkeit für gescheitert zu erklären.

g) ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden unter den Menschen. Der Neid gegen Reiche ist kein Neid auf Bessere und Tüchtigere, sondern Zorn gegen solche, die sich dafür halten und ihre Erwähltheit mit allen amoralischen Mitteln durchsetzen – auch wenn sie noch so legal scheinen. Legalität muss sich an Moralität messen lassen.

Ungerechtigkeit produziert den unbehausten Menschen, der ziel- und ruhelos dem Abgrund entgegen eilt. Mittlerweilen ist das Unbehaustsein schreckliche Realität geworden, wenn die Superreichen – die nicht wissen, was sie mit ihren Geldern machen sollen – überall in der Welt Wohnungen aufkaufen, um den Pöbel endgültig zu heimatlosen Vaganten zu degradieren. In China hausen die Rechtlosen schon zu Lebzeiten in Särgen.

Wie die Deutschen den unbehausten Faust zum Inbild des vollendeten Idealisten verklärten, verklären heutige Medien die Gegenwart zum Garten Eden, in dem Milch und Honig fließen. Die Deutschen jammern auf hohem Niveau, um auf niedrigstem Niveau Halleluja zu schreien.

Die beginnende Umwälzung wird das religiöse Abendland verabschieden, den von Widersprüchen wimmelnden Augiasstall der modernen Gehirne ausmisten und den Glauben an den gerechten, einfühlsamen und lernfähigen Menschen zur Basis seines politischen Tuns erklären.

Hallo an alle:

Es ist der Mensch, der seine Geschichte verantwortet. Es ist der moralische Mensch, der seine Geschichte zur moralischen macht. Es ist der gerechte Mensch, der die Unbehaustheit des Menschen beendet – um die Erde in die Heimstatt des Menschen zu verwandeln.

Hier haben wir eine bleibende Stadt, die zukünftige überlassen wir Priestern und Algorithmikern.

 

Fortsetzung folgt.