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Tanz des Aufruhrs XXVIII

Tanz des Aufruhrs XXVIII,

„Ich will trotzdem die Augen nicht davor schließen, denn nochmals: besser, aufrichtiger heiterer und produktiver als der Hass ist das Sich-wieder-Erkennen, die Bereitschaft zur Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten, möge sie auch die moralische Gefahr mit sich bringen, das Neinsagen zu verlernen.“ (Thomas Mann, Bruder Hitler)

Sich-wieder-Erkennen ist keine Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten, sondern Lernen, das Böse wahrzunehmen, um es zu überwinden. Wer das Erschreckende furchtlos anschaut, jagt es davon. Die Gefahr, das Hassenswerte zu bejahen, besteht, wenn man Angst hat, es zur Kenntnis zu nehmen.

Wer sich als Deutscher fürchtet, Bruder Hitler in sich zu erkennen, hat das verbrecherische Erbe seiner Väter und Mütter nicht verstanden. Was man nicht versteht, hat man nicht bewältigt.

Der Hass in Deutschland beginnt, überhand zu nehmen: der Hass gegen den Hass, welcher entsteht, wenn man Hass nicht verstehen will. Was man nicht versteht, kann man nicht bekämpfen. Polizei und Verschärfung der Gesetze werden nicht ausreichen, um den schädlichen Virus in den Köpfen zu verjagen. Schon gar nicht eine Polizei, die an allen Ecken und Enden versagt – oder versagen will?

Die Deutschen schreien auf vor Selbstgerechtigkeit. Sie begehren, nicht schuld daran zu sein an Verbrechen mitten in der Gesellschaft. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand, fühlen sich attackiert und müssen – vor sich selbst – ihre eigenen Anklagen zurückweisen.

Eine christliche Nation, in vielen Jahrhunderten genötigt, ihre eigene Gerechtigkeit zu verdammen, um Gottes Fremdgerechtigkeit zu übernehmen, schäumt in Selbstgerechtigkeit. Das Böse in ihrer Mitte darf nichts mit ihnen zu tun haben. Es muss fremd, unbegreiflich, unfassbar und unerklärlich bleiben. Der kleinste …

… Versuch, es zu verstehen, wird der geheimen Kumpanei mit dem Bösen verdächtigt.

Ihre Selbstgerechtigkeit will weder autonome Gerechtigkeit noch Gehorsam gegen Gott – obgleich sie sich von Ihm nicht lösen will. Es handelt sich um Gehorsam im Ungehorsam, um Trotz im Zwinger. Die Deutschen nennen es Kompromiss. Dabei ist es Unklarheit im Denken und Angst vor der Freiheit.

Ein schreckliches Verbrechen ist geschehen. Wer ist schuld daran? Na, der Täter, wer denn sonst? Wer aber ist schuld daran, dass ein Mensch zum Verbrecher wurde? Na, er selbst. Hatte er denn keinen freien Willen? Zwang ihn irgendjemand, die Tat zu begehen?

Kaum eine Philosophie der Gegenwart, die den freien Willen verkündete. Auch die lutherische und calvinistische Theologie kennt nur den unfreien Willen. Merkwürdigerweise ist es die katholische Theologie, die den freien Willen propagiert. Wie ein solcher sich mit der Erbsünde verträgt, die jeder ab Geburt als Sippenstrafe erhält, konnten die spitzfindigsten Gottesgelehrten des Vatikan nicht erklären. Es bleibt ein Mysterium. Bis vor kurzem wanderten Neugeborene in die Hölle, wenn sie vor ihrem Tod nicht blitzschnell notgetauft wurden. Doch eins wussten die Theologen: wer nicht frei entscheiden kann, der kann von niemandem verurteilt werden, nicht mal von Gott.

Die neuzeitlichen Philosophien kämpften einen bewundernswerten Kampf gegen die Macht des Klerus. Doch die Determiniertheit der sündigen Seele ließ sie nicht los.

Gott verwandelten sie in Natur, seine Gesetze in Naturgesetze, denen der Mensch gehorchen musste, wie zuvor den Gesetzen Gottes.

Selbst viele Aufklärer, die leidenschaftlichsten Befürworter menschlicher Freiheit, behaupteten die Determiniertheit des Menschen durch die neu entdeckten Naturgesetze. Ihr politischer Freiheitskampf gegen die Tyrannen konnte sich von der Hypothek eines naturgesteuerten unfreien Willens nicht lösen.

Erst Diderot widersprach der naturgelenkten Unfreiheit des Menschen, konnte aber auch nicht den Konflikt zwischen Natur und Freiheit lösen.

Jetzt kommt Kant. Er löst den Menschen von seinem empirischen (naturdeterminierten) Charakter und verleiht ihm einen „intelligiblen“ Charakter. Intelligibel heißt: nur geistig, nicht sinnlich erfassbar. Der intelligible Charakter gibt sich selbst das Gesetz, das von der Vernunft als frei anerkannt wird. Der Mensch muss sich selbst als frei anerkennen, dann ist er frei. Er muss an seinen freien Willen glauben, dann wird er erleben, dass sein Glaube keine Chimäre ist.

Mensch, du bist, was du aus dir machst. Diese Botschaft hörte Kants Schüler Fichte, der die Sentenz formulierte: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.“

Der Einzelne soll wählen, welch Mensch er ist! Als unfreier wird er geboren, zum freien muss er sich machen. Handelt er, als sei er unfrei, wird er unfrei bleiben. Handelt er, als sei er frei, wird er frei werden. Also soll er handeln, als ob er frei sei.

Aus diesem Grundsatz machte der Philosoph Hans Vaihinger seine Philosophie des Als-Ob:

„Religiöse und metaphysische Ansichten seien wie die Logik nicht in einem objektiven Sinne wahr, da dies nicht festgestellt werden könne. Stattdessen sei die Frage zu stellen, ob es nützlich sei, so zu handeln, „als ob“ sie wahr seien.“

Was ist der Unterschied zwischen dem philosophischen und dem religiösen Glauben? Jeder Theologe wird argumentieren: der Glaube an Gott ist nicht anders als der Glaube an den freien Willen. Glaube an den Vater und du wirst erleben, dass er für dich da ist. Theoretische Beweise, ob es Gott gibt oder nicht, sind sinnlos. Nur der blinde Sprung in Gottes Hand beweist die Kraft des Glaubens.

Die Argumentation zwischen Glauben und Nichtglauben scheint ähnlich. In jedem Lebensentwurf entscheidet die selbsterfüllende Prophetie. Woran ich glaube, beweise ich durch meine Tat. Glaube ich, dass es in Alaska Gold gibt, muss ich über Berg und Tal, um vor Ort meine Nuggets zu finden.

In der Demokratie sind die Grundprinzipien des Zusammenlebens festgelegt und nur durch Mehrheitsbeschlüsse des Volkes veränderbar.

Aus welcher Motivation oder Gesinnung diese Regeln eingehalten werden, ist für die Gesellschaft belanglos. Wichtig ist, dass sie eingehalten werden. Die Motive seines Handelns kann jeder als sein privates Geheimnis hüten. Eine Einigung der Gesinnungen muss nicht hergestellt werden.

Freilich setzte das voraus, dass verschiedene Gesinnungen dieselben Taten hervorbringen. Das ist heute in hohem Maße möglich, denn die Gläubigen haben ihren Lebensstil längst dem demokratischen Zeitgeist untergeordnet – in Abweichung vom wörtlichen Sinn ihrer heiligen Schriften. Das kümmert sie nicht, denn sie halten den Sinn ihrer Offenbarungstexte für so dehnbar und flexibel, dass sie sich jedem Zeitgeist unterordnen können. Diese Fälschung der Texte durch zügellose Interpretation verklären sie als Fähigkeit Gottes, seine Texte nach Belieben neu zu erfinden.

Aus demokratischer Sicht könnte man sagen: lasst den Frommen ihre Illusionen, wenn sie nur dazu dienen, die Demokratie aufrecht zu erhalten. Problematisch wird’s erst, wenn die Gläubigen an bestimmte Dogmen glauben, die mit der Vernunft nicht mehr verträglich sind. Dogmen wie der Glaube an den apokalyptischen Verlauf der Geschichte oder der Glaube an ewige Seligkeit der Erwählten oder ewige Verdammung der Ungläubigen. Bliebe dieser Glaube ein tatenloses Konstrukt, könnte man ihn vergessen. Das ist er aber nicht.

Woran die Frommen glauben, das stellen sie in selbsterfüllender Prophezeiung her. Fast die gesamte Geschichte des Abendlands ist nichts als eine bewusste oder unbewusste Erfüllung christlicher Glaubensartikel, als da sind: die sündig-minderwertige Natur muss vernichtet werden, um einer neuen Platz zu schaffen. Das ist der gesamte Inhalt des westlichen Fortschritts.

Die Geschichte ist ein erbarmungsloser Wettbewerb zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Am Ende wird sich EINPROZENT der Weltbevölkerung den Reichtum aller Menschen unter den Nagel gerissen haben. Die versprochene Seligkeit für eine winzige Minderheit ist längst eingetreten. Den unseligen Rest beißen die Hunde. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Erwählten bewusst gläubig, die Verdammten allesamt Ungläubige sind. Es geht nur darum, dass die Motoren des menschlichen Verhaltens unbewusst vom biblischen bestimmt werden. Die Säkularisierung ist kein Abfall vom Glauben, wie deutsche Gelehrte behaupteten, sondern eine gesamtkulturelle Prägung der Moderne in technischem, wirtschaftlichem und machtpolitischem Sinn.

Konflikte zwischen Vernunft und Glauben treten immer auf, wenn die Gläubigen theokratische Elemente einbringen wollen, die geeignet sind, die Demokratie zu unterhöhlen. In Amerika ist das Widerstand der Biblizisten gegen alle ökologischen Bemühungen, denn sie glauben an die baldige Wiederkehr ihres Herrn, die mit dem Untergang der bisherigen sündigen Welt einhergeht. Sie wollen den Untergang. Das ist für sie der Sinn der Geschichte.

In Deutschland ist dieser apokalyptische Untergangsglaube – wegen vieler Kompromisse mit der Aufklärung – kaum vorhanden, weshalb es zwischen Trumps Aversion gegen jede Naturrettung und der deutschen Ökologiebewegung mächtig knistert.

Das alles wissen die deutschen Grünen nicht, obgleich sie mit ihrer „Schöpfungsbewahrung“ selbst in biblisches Fahrwasser zurückgelenkt haben und zwischen Schöpfung und Natur nicht unterscheiden können. Das erklärt die nachlassende Durchsetzungskraft ihrer Politik und die intellektuelle Verschwommenheit ihres Programms.

Wenn Freiheit etwas ist, das jeder selbst herstellen soll, ist das für göttlich fremdgesteuerte Abendländer eine ungemütliche Vorstellung. An unfehlbare Autoritäten gewöhnt, torkeln sie herum, wenn es nichts anderes mehr gibt als ihr Glaube an sich selbst.

Der Glaube des Menschen an sich selbst ist, in einer Polis, kein autistisches Unternehmen. Sondern hängt ab von der Solidarität und der Wahrheitssuche aller Demokraten. Nicht Gott garantiert den Erfolg der Demokratie, sondern die Lernversuche der ganzen Gemeinschaft.

In der gegenwärtigen Demokratie dominieren zunehmend superreiche Autisten, deren Freiheit die Freiheit anderer ausschließt. Wenn diese übermächtigen Ego-Anarchisten nicht radikal gebändigt werden, werden sie die Demokratie in der Luft zerreißen.

Die Möglichkeit, ein freies Leben zu führen, erhält der Mensch von der Natur. Aber nicht als komplette Gabe. Die Möglichkeit der Freiheit muss er in eigener Regie in Wirklichkeit verwandeln: er muss lernen, sich und die Welt erkennen, seine Freiheit entfalten und als Gestaltungsprinzip in sein gesamtes Leben einbauen.

Je weniger er das tut, umso mehr bleibt er der Lenkung seiner primären Naturinstinkte unterworfen. Das Draußen wird ihm ebenso wenig transparent, wie sein Inneres, mit dem er die Welt gestalten könnte. Zwar kann er sich manche instrumentellen Fähigkeiten erwerben. Doch wenn er als Erwachsener auf der instinktiven Stufe des Kindes stehen bleibt, wird aus ihm ein seelisch kranker und unmündiger Mensch.

Wer seinen freien Willen nicht lernend erwerben kann, bleibt ein Ferngesteuerter, der für sich und seine Umwelt zur Gefahr wird. Bleibt die Diskrepanz zwischen verfehlter Vernunft und vernunftlosem Instinkt im durchschnittlichen Bereich, wird er zum gewöhnlichen Neurotiker: ein Zustand, den jeder von sich kennt.

Kommt es aber zur gefährlichen Kluft zwischen Geist und Trieb, kann aus dem Menschen ein Psychotiker, ein Verbrecher oder sonstwie ein Feind der Menschheit werden: Menschen, die über brillante Partialbegabungen verfügen können, aber unfähig sind, ihre Fähigkeiten moralisch zu zügeln. Entweder werden sie zu seelisch Kranken, zerstören sich selbst oder sie zerstören die Gesellschaft und werden zu Amokläufern, Verbrechern oder sonstigen Menschenfeinden. Wie sie durch schädlichen Einfluss der Gesellschaft deformiert wurden, so schädigen sie die Welt: in ihrer eigenen Person oder in Form der Gesellschaft.

Mit anderen Worten: das Maß ihrer seelischen Gesundheit kann eine Gesellschaft an der Quote jener Menschen erkennen, die von ihr so geschädigt wurden, dass sie – in reaktiver Notwehr – zurückschlagen und die Gesellschaft schädigen müssen. Auch wenn der Mensch sich nur selbst beschädigt, ist das für ihn ein Angriff gegen eine feindlich erlebte Umgebung: geschieht euch ganz recht, wenn ich mir die Finger erfriere, hättet ihr mir doch Handschuhe gekauft.

Menschen, die ihren freien Willen nicht entfalten konnten, werden zu Opfern der Gesellschaft, getrieben von der Nötigung, andere zu ihren Opfern zu machen. Welche Opfer? Das hängt vom Zufall und der Intensität ihrer persönlichen Erlebnisse ab.

In Hanau ist ein schreckliches Verbrechen geschehen und Deutschland reagiert in aggressiver Weise  – gesteuert von einem verdrängten Schuldgewissen. Den Verfall der Gesellschaft in eine überhebliche Siegergesellschaft, die mit dem Bösen nur selbstgefällig und in eitler Betroffenheit umgehen kann, kann man an einem simplen Vergleich erkennen.

Die 68er-Bewegung war nicht nur antikapitalistisch, sondern auch von therapeutischen, pädagogischen und feministischen Elementen bestimmt. Dass der Einzelne und seine Familie Opfer der Gesellschaft sein können, war fast eine gemeinsame Erkenntnis. In der Debatte um Hanau spielt diese Erkenntnis keine Rolle mehr.

Bei Erich Fromm, Alexander Mitscherlich, Horst-Eberhard Richter, Tilman Moser konnte man nachlesen, warum Verbrecher verstanden werden müssen und dass sie keine kalt destruierenden Monster sind. Selbst wenn ihre Taten instrumentell rational aussahen, waren ihre Motive das blanke Gegenteil: ein Morast misslungener Triebe und irrationaler Welterklärungen. Nicht das Instrumentelle war entscheidend, sondern der vergiftete Grund und Boden, auf dem die äußeren Taten wuchsen.

Wenn diese Thesen nicht falsch sind, ergibt sich eine Konsequenz: nur eine utopische Gesellschaft, die keine Psychotiker, Verbrecher, totalitäre Führer, Ausbeuter und unglückliche Menschen produziert, ist eine menschliche Gesellschaft.

Gesellschaften sind keine Räderwerke, sondern schwarm-sensible Kollektive. Sind sie frei und gesund, wachsen in ihr selbstbestimmte glückliche Menschen. Sind sie langzeitvergiftet, darf sich niemand wundern, wenn sie Kriege nach außen und unglückliche Menschen im Innern erzeugen.

Deutschland ist in einem erschreckenden Maße inhuman geworden. Die Würde des Menschen gilt inzwischen nur noch für Moneymaker und Maschinenerfinder. Wer nichts leistet, hat keine Würde.

Und jetzt, bitte festhalten: auch Verbrecher haben ihre Würde. Für ihre Taten müssen sie so weit wie möglich zur Rechenschaft gezogen werden. Doch ihre Strafen müssen im Geist der Würde entschieden werden. Niemand macht Böses freiwillig. Die humane Einsicht des Sokrates ist vom Geist des selbstgerechten Christentums vertilgt worden. Die Deutschen übertrumpfen sich in Abscheu dessen, was sie zum unerklärlichen Bösen machen.

Im Bereich des instinktiv gesteuerten unfreien Willens ist das Verhalten des Menschen kausalen Naturgesetzen untertan. Hier gilt: nichts ohne Ursache. Was Ursachen hat, kann verstanden werden.

Wie oft kann man in heutigen Kommentaren die Vokabel ‚unfassbar‘ lesen. Was aber ist unfassbar? Was keine natürliche causa hat. Es ist weder natürlich, noch menschlich: also ist es – theologisch. Es ist das, was die Deutschen angeblich verabscheuen: Weiß oder Schwarz, Gut oder Böse. Gut oder Böse nicht im rationalen Sinn des Moralischen oder Unmoralischen, sondern im Sinn des göttlich Guten oder des satanisch Bösen.

Geraten die Deutschen in eine Grenzsituation, öffnen sie die Rettungsluke nach Oben – oder die Böckenförde-Pforte – und entkommen ins Reich ihres himmlischen Vaters.

Alle Schuld schieben sie auf jene Kräfte, die aus ihrem Hass auf Andersdenkende kein Hehl machen, aber aus demselben Schoß krochen wie jene, die mit dem Finger stets auf andere weisen. Eine mitfühlende Gesellschaft weiß: am Elend ihrer Innenverhältnisse sind alle schuldig. Jeder hat vor der eigenen Tür zu kehren, bevor er reflexhaft wie ein unfehlbarer Popanz andere beschuldigt.

AfD-Höcke ist Faschist. Das darf ungestraft behauptet werden und muss ihm gnadenlos vorgeworfen werden. Dies bestätigte sogar ein Gericht. Wenn er aber ein überführter Faschist ist, warum darf er noch offizielle Parteipolitik betreiben? Warum wird nicht beantragt, dass seine Partei – eine Partei, die Faschisten in ihren Reihen duldet – verboten wird? Kann man sich auf unser Rechtssystem nicht mehr verlassen?

„In der Herleitung ihres Urteils schreiben die Richter, dass die Bezeichnung „Faschist“ zwar ehrverletzenden Charakter haben könne und im heutigen politischen Sprachgebrauch dazu diene, politische Gegner in die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken. Jedoch hätten die Antragsteller „in ausreichendem Umfang glaubhaft gemacht, dass ihr Werturteil nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage beruht“. (SPIEGEL.de)

Aber: Höcke und seine Parteigenossen stammen aus derselben Mitte der Gesellschaft, die von anderen Parteien in Anspruch genommen wird. Der Pfuhl dieser Mitte ist noch immer geprägt von Erbstücken einer verbrecherischen Vergangenheit, die nicht aufgearbeitet ist.

Den uralten deutschen Ungeist, der sich allmählich zur Ideologie des Dritten Reiches hochschaukelte, beschrieb Thomas Mann in seinen frühen Jahren, als er alles andere als ein Freund der Demokratie war:

„Weltfriede … Wir Menschen sollten uns nicht allzuviel Moral einbilden. Wenn wir zum Weltfrieden, zu einem Weltfrieden gelangen – auf dem Wege der Moral werden wir nicht zu ihm gelangt sein. Die Rousseau-Lehre vom guten Volk, der Glaube an die republique democratique, sociale et universelle – ich weiß genau, was sich heute gehört, aber meiner Natur und Erziehung nach kann ich dieser Lehre nicht anhängen. Die Frage des Menschen kann überhaupt nicht politisch, sondern nur durch Religion, durch die christliche Selbstvervollkommnung des einzelnen zu lösen sein. „Denn der Mensch verkümmert im Frieden.“ (Weltfrieden? 1917)

Die Regression der jetzigen Krise geht dahin, was Mann noch unbefangen bei Namen nannte: in die Religion. Heute denken die Politeliten nichts anderes, aber sie wagen nicht, es deutlich auszusprechen.

Strafen können keine rationalen sein, solange Schuld nicht definiert wird – ohne ständig an Schuld vor Gott erinnert zu werden. Schaut man sich die Zentralbegriffe unseres Rechts an, kann man nicht anders als den Zustand seiner philosophischen Grundbegriffe einen Skandal zu nennen.

Schuldig kann nur werden, wer mit freiem Vorsatz etwas Kriminelles tat. Das ist ein Widersinn in sich. Hat der Mensch wirklich die freie Souveränität seines Willens entdeckt, wird er in hohem Maße immun sein gegen das Böse. Steckt er aber noch in der Kausalität der Natur, kann er nicht frei sein. Er muss tun, wozu er von seiner beschädigten Psyche genötigt wurde. Ist der Wille determiniert, gilt:

„Der Determinismus bestreitet die Freiheit des Menschen unter Hinweis auf die durchgängige psychophysische Bestimmtheit. Von Freiheit spricht er nur im Sinne des Fehlens äußeren Zwangs, sodass wir zwar tun, was wir wollen, wir aber gezwungen sind zu wollen.“ (Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe)

Das aber heißt, Verbrecher müssen als Kranke beurteilt werden, die nicht wissen, was sie tun. Der Erlöser spricht von allen Menschen: denn sie wissen nicht, was sie tun. Strafen müssen als therapeutische Schutzmaßnahmen verstanden werden: als Schutz der Gesellschaft vor unberechenbaren Menschen und als Therapieangebot für seelisch Erkrankte.

Hier grölen die Amoralisten der bürgerlichen Mitte, die eine kranke Gesellschaft für unerträglicher halten als eine theokratisch-totalitäre. Kein Zufall, dass diejenigen die schärfsten Strafmaßnahmen verlangen, die sonst alles Moralische an den Pranger stellen:

„Bei jedem Terroranschlag, egal ob rechtsradikal oder islamistisch motiviert, sprechen Politiker von kranken Einzeltätern. Schluss mit dieser Verharmlosung von Terroristen. Wer sich bewaffnet und Jagd auf Menschen macht, der weiß, was er tut.“ (BILD.de)

Wer Jagd auf Menschen macht, der weiß, was er tut? Der weiß höchstens, wie man eine Waffe bedient, über sich weiß er nichts. Er ist sich selbst ein absolut Fremder. Seine „Strafe“ darf nichts anderes sein als eine von verständigen Menschen begleitete Suche nach sich selbst, um seinen freien Willen zu erarbeiten.

Das war der Sinn der Sozialtherapeutischen Anstalten in den 70er-Jahren. Was ist heute daraus geworden? Der reine Zynismus medialer Edelmänner:

„Der Mann, der gezielt Menschen in einer Shisha-Bar und später an einem zweiten Ort erschossen hat, sei krank – sagen viele. Also gar kein rechtsradikaler Tathintergrund, sondern der Amoklauf eines Psychopathen? Diese Diskussion ist müßig. Jeder Mensch, der – egal ob links, rechts oder islamistisch – so radikalisiert ist, dass er Menschen mordet, ist irgendwie krank. Das relativiert nichts.“ (WELT.de)

Diese Typen sind alle „irgendwie krank.“ Was soll‘s? Sperrt sie weg, behandelt sie, als seien sie pumperlgesund: sind doch alles nur Spitzfindigkeiten. Das ist deutsche Humanität der Edelsorte.

Bleibt die Reaktion der Politik. Sie reagiert wie gewohnt: in erkenntnisloser Ausgrenzung des Bösen – mit segnender Gebärde selbstgerechter Philister:

„Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift. Und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft. Und es ist Schuld an schon viel zu vielen Verbrechen. Von den Untaten des NSU über den Mord an (dem Kasseler Regierungspräsidenten) Walter Lübcke bis zu den Morden von Halle.“, sagte Merkel.“ (Berliner-Zeitung.de)

Merkel wirft den Bösen ausgrenzenden Rassismus vor. Sie selbst grenzt aus, indem sie nichts verstehen will. Ist ihre Politik, die inzwischen zahllose Menschen im Mittelmeer ersaufen lässt, kein Gift? Gift im globalen Rahmen? Was hat sie getan, um die Hintergründe der NSU-Morde aufzuhellen? Ihre Abwiegelungs- und Verharmlosungsmethoden sind doch wesentliche Ursachen der nationalen Geistesabwesenheit. Sie nimmt kein Wort in den Mund, das im Bereich des Rechts, der Schuld und Strafe, oder der gesellschaftlichen Verwilderung irgendetwas aufklären könnte. Aus allen konträren Dingen ihrer Partei hält sie sich raus. Doch nach Hanau witterte sie die Gelegenheit für überparteilichen Mutismus unter Ausgrenzung aller Bösen.

Während Merkel ein undefiniertes Gift anklagt, versammelt der Bundespräsident seine deutschen Untertanen unter dem Wir der Vollkommenen:

„Wir stehen zusammen, wir halten zusammen, und wir wollen zusammen leben. Und wir zeigen es wieder und wieder. Das ist das stärkste Mittel gegen Hass.“ (SPIEGEL.de)

Wen meinte der Bundespräsident mit dem Wir? Die kapitalistische Demokratie, in der jeder gegen jeden fighten muss? Eine unendlich gespaltene Gesellschaft, der die Probleme aus allen Poren kriecht? Von einem einigen Wir kann nirgendwo die Rede sein.

Da stehen die Politeliten Hand in Hand und geben sich ergriffen. Doch ihre Sprache denunziert sie als Poseure der Hilflosigkeit.

Was nach Hanau geschah, hat Helmut Ostermeyer bereits im Jahre 1975 kristallklar auf den Punkt gebracht:

„Die Gesellschaft erzeugt das Verbrechen, um den Verbrecher strafen zu können. Sie straft ihn, um die Schuld loszuwerden, die ihr aus ihren eigenen verbrecherischen Neigungen erwächst. Psychologisch gesehen ist die Bestrafung der Verbrecher verschleierte Selbstbestrafung. Soziologisch gesehen ist sie echte Selbstbestrafung. Leidtragender ist die Gesellschaft selbst. Sie leidet an dem Verbrechen und sie leidet am Strafvollzug. Trotzdem gestaltet sie den Strafvollzug so aus, daß er das Verbrechen mehrt und damit wiederum die Strafen und das Leiden.“ (Humanistische-Union.de)

Deutschland ist dabei, in die weit geöffneten Arme Donald Trumps zu eilen.

Fortsetzung folgt.