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Tanz des Aufruhrs XXVII

Tanz des Aufruhrs XXVII,

nun kommen die Denker. Nachdem die Politik versagt hat, dürfen die Weisen ran.

Es treten auf der chinesische Philosoph Zhao Tingyang und der unkorrumpierbare Weltkritiker Noam Chomsky:

„Zhao beginnt mit einer deprimierenden Diagnose. Die Welt, schreibt er, sei in einem beklagenswerten Zustand, geprägt von seit Jahrzehnten ungelösten Konflikten, geplagt von Ungleichheit, bedroht vom Klimawandel, dominiert vom internationalen Finanzkapitalismus und überfordert von technischen Innovationen, deren Folgen niemand abzuschätzen weiß. Nicht einzelne „failed states“ seien das Problem der Gegenwart, „sondern eine gescheiterte Welt“. Anders als in staatlichen und zwischenstaatlichen Konflikten verfüge die westlich geprägte Weltordnung über kein taugliches Werkzeug, die Probleme der Welt im Ganzen zu lösen.“ (SPIEGEL.de)

Warum hören wir erst jetzt von diesem Kritiker des Westens? Warum gibt es täglich 100e von Corona-Virus-Meldungen, aber keine einzige Reportage über die Erben des Konfuzius?

Worin unterscheidet sich Zhaos Kritik am Westen von Chomskys Kritik an Trumps Amerika?

„Hat Trump darüber hinaus noch viel schlimmere Verbrechen begangen? Darüber lässt sich kaum streiten. Jeder seiner Schritte ist dem Ziel gewidmet, den Wettlauf in die Katastrophe zu beschleunigen, mit weniger wichtigen Schatten wie Brasiliens Staatschef Jair Bolsonaro und dem australischen Premierminister Scott Morrison im Gefolge.“ „Nebenbei hat er beiläufig die Überreste des Rüstungskontrollregimes demontiert, das für ein gewisses Maß an Sicherheit vor einem tödlichen Atomkrieg gesorgt hatte, was die Rüstungsindustrie in Jubel ausbrechen ließ. Und wie wir gerade erst erfahren haben, hat der große Pazifist, der sich für die Beendigung der Interventionen einsetzt, „im vergangenen Jahr in Afghanistan mehr Bomben

und andere Munition abgeworfen als in irgendeinem Jahr zuvor.“ „Ich werde nicht einmal darauf eingehen, dass er Israel das gibt, was die israelische Presse „ein Geschenk an die Rechte“ nennt, indem er dem internationalen Recht, dem Weltgerichtshof, dem UN-Sicherheitsrat und dem überwältigenden Teil der internationalen Meinung formell den Rücken kehrt, während er sich bei der Wahl 2020 auf die Stimmen der Evangelikalen stützt. Das Vorrecht der höchsten Macht.“ „Während die neoliberale Ordnung offensichtlich zusammenbricht, entstehen „Krankheitserscheinungen“ (um Gramscis berühmte Formulierung zu entleihen, als die Pest des Faschismus drohte). Zu ihnen gehört die Ausbreitung des Autoritarismus und der extremen Rechten, die Sie erwähnt haben. Allgemeiner werden wir Zeugen einer recht nachvollziehbaren Wut, Abneigung und Verachtung gegenüber den politischen Institutionen, die den neoliberalen Angriff durchgeführt haben – aber auch das Aufkommen von aktivistischen Bewegungen, die die Mängel der globalen Gesellschaft überwinden und den Wettlauf in die Zerstörung anhalten und umkehren wollen.“ (der-Freitag.de)

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die beiden Denker nicht. Wenn Chomskys Diagnose stimmt, ist Amerika gescheitert. Wenn aber Amerika, dann der Westen, denn Amerika ist die Zentrale des Westens.

Sensationelle Zwischenmeldung aus dem Ticker: die Öffentlich-Rechtlichen schaffen ihre erbärmlichen Schwatzrunden ab und beginnen mit echter Streitkultur. Das erste Gespräch nach allen Regeln der Kunst soll justament mit den beiden genannten Denkern beginnen, die nach Deutschland eingeladen wurden. Sollten die Beiden aus Klimagründen das Fliegen verabscheuen, wäre auch ein Videogespräch möglich.

Philosophische Dialoge brauchen keine Moderatoren. Selbstdenker können die Argumente ihrer Gegenüber selbst überprüfen und vorschlagen, wohin die Reise gehen soll. Moderatoren als meinungslose Eunuchen hingegen sind unfähig zum Debattieren. Fundierte Streitgespräche bestehen nicht aus Fragen und Antworten, sondern aus Argumenten und Gegenargumenten. Wer angreift, muss selbst angegriffen werden können.

Ein Meister der griechischen Streitkunst war Protagoras. Seine Hauptschrift hieß: „Die Wahrheit oder die niederwerfenden Reden.“

Wahrheit ist dazu da, die Unwahrheit niederzustrecken. Für moderne Eliten ein Unding. Denn für sie gibt es keine Wahrheit – außer der ihrigen: sie haben immer recht, weil sie Macht und Erfolg haben. Niederlagen im machtlosen Wahrheitskampf sind für Moderne eine Schande:

„Der Poststrukturalist Roland Barthes wendet sich gegen die sokratische Mäeutik; er sieht in der Vorgehensweise des Sokrates das Bestreben, „den anderen zur äußersten Schande zu treiben: sich zu widersprechen“.“

Weshalb widerlegt werden eine Schande ist, wenn es weder Wahrheit noch Widersprüche gibt (die als Indizien der Unwahrheit gelten), bleibt das Geheimnis wirrer Sensibelchen, die austeilen können, aber niemals eines Denkfehlers überführt werden wollen.

Die TV-Kanäle haben inzwischen ihr neues Dialogformat vorgestellt. Jeder Denker erhält die Gelegenheit, zuerst seine Meinung zusammenhängend darzustellen. Sodann soll er Übereinstimmungen und Widersprüche schriftlich formulieren und seinem Dialogpartner übermitteln, damit jener seine Verteidigungsrede ebenfalls in Ruhe formulieren und an seinen Kritiker zurücksenden kann. Erst im dritten Akt kommt es zur direkten Konfrontation – ohne jede Unterbrechung durch neunmalkluge Gesprächsleiter. Im vierten Akt können die Zuschauer ihre Meinungen kundtun.

Ein aufwendiges Verfahren, aber eines, das wache Zeitgefährten ins Denken mitreißen könnte.

Was deutsche Kanäle zeigten, waren Stierkämpfe mit zweibeinig Gehörnten, die weder zuhören, noch auf die Argumente ihrer Vorredner eingehen können. Auch dies Zeichen des kulturellen Niedergangs, der sich in allen Dingen offenbart: in der Unfähigkeit, Flugplätze zu bauen bis zur Vermüllung der Bürgersteige mit Kippen und Hundescheiße. Selbst die Psychotherapeutenausbildung wird vereinheitlicht, indem nur als wissenschaftlich gilt, was sich in quantitativen Reiz- und Reaktionsbildungen berechnen lässt. Der Geist, er ist hinderlich und muss endgültig exstirpiert werden. Fortschritt und Geist vertragen sich nicht.

„Denn es kann nicht angehen, dass als „wissenschaftlich“ nur noch gilt, was sich messen und zählen lässt. Es ist an der Zeit, offensiv für ein anderes, verstehendes Wissenschaftsverständnis einzutreten, das nicht der Illusion von Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit erliegt wie die empirischen Wissenschaften.“ (TAZ.de)

Hat es tatsächlich ein Zeitalter der Aufklärung gegeben, in dem der befreiende Gedanke die Mächte des Adels und des Klerus niederstreckte?

„Das Unheil und der Schaden, welche religiöse Vorstellungen angerichtet haben, treten uns auf jedem Blatt der Geschichte entgegen. Der religiöse Wahnglaube war für alle Leiden der Welt eine giftige Quelle. Jedes Dogma enthält einen Keim der Zwietracht und die einzige wirklich tolerante Religion ist die, welche gar keine Dogmen besitzt.“ (Helvetius)

Der Vergleich der christlichen Gegenwart mit der heidnischen Vergangenheit fiel im Zeitalter des Lichts immer zugunsten des Altertums aus. Die Bevorzugung des heidnischen Logos vor dem christlichen: Am Anfang war das Wort, „war in jener Zeit beinahe zum Axiom geworden.“ (F. Jodl, Geschichte der Ethik)

Was ist heute? Den Begriff Aufklärung kennt niemand mehr. Noch weniger den Begriff der Gegenaufklärung, der durch Anbetung des Fortschritts die Vernunft entwurzelt hat. Dass es überhaupt zwei Kulturen gibt, die sich bis ans Ende der Welt nicht vertragen werden, ist dem homo oeconomicus rationalis noch nie untergekommen.

Nehmen wir das SZ-Interview mit Kardinal Woelki:

„Christus hat Apostel in die Welt gesandt, keine Moralapostel. Das Christentum ist keine Religion der Moral, sondern der Gottes- und Nächstenliebe, also der Beziehung der Menschen zu Gott und untereinander.“ (Sueddeutsche.de)

Das ist das exakte Gegenteil zur Aufklärung: die komplette Ausradierung der autonomen Moral zugunsten der göttlichen Agape, die vor allem die Beziehungen zu Gott regelt; die belanglosen Dinge der Welt werden vorüber gehen.

Ein christlicher Fundamentalist in BIBEL-TV kritisierte die Großkirchen, sie hätten nicht den Mut, den Menschen die wahre Botschaft des Herrn zu predigen: das wäre die Lehre der ewigen Seligkeit im Himmel und der ewigen Verdammung in der Hölle.

Der SZ-Interviewer ist nicht mal fähig, dem Kardinal die Frage zu stellen: Ist Nächstenliebe keine Moral? Stimmt also noch immer Augustins Satz: Liebe – und tue, was du willst? Das ist die Absegnung des neoliberalen Anything goes mit christlichen Schalmeienklängen.

Mediale Interviewer stellen so gut wie nie Gegenfragen, die ans Eingemachte gehen. Entschiedenen Widerstand können sie ohnehin nicht leisten, denn zumeist sind sie derselben Meinung wie die Befragten. Ihre kessen Fragen sollen nur die Meinungsgleichheit von Fragern und Gefragten überdecken.

Hört auf mit euren bigotten Interviews, zeigt, dass ihr streiten könnt. In allen Dingen soll es Wettbewerb und Rankings geben. Nur im Ringen um die Wahrheit beginnen sie zu flennen, wenn sie argumentativ zu Boden gehen.

Auch Marx hasste sich, weil er das Gegenteil dessen tat, was er für richtig hielt: er schrieb Kolonnen von Büchern mit Massen von Gedanken, obgleich er philosophischen Gedanken nicht traute. Er hielt sie für Ausdünstungen materieller Verhältnisse. Wie man materielle Bücher mit geistiger Blasenbildung schreibt: diese Frage können nicht mal Quantencomputer in Silicon Valley beantworten. Wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, hätte Marx sich das viele Studieren in London ersparen können. Die materiellen Verhältnisse hätten es auch ohne ihn geschafft, das Einmaleins der Natur- und Geschichtsgesetze in historische Buchstaben zu übersetzen.

Womit wir bei der Kabbala wären, die – im Gefolge des Pythagoras und des Neuplatonismus – die Identität realer Zahlenstrukturen mit der himmlischen Schöpfung behauptete, auf deren Grundlage Leibniz die Grundlagen des 0-1-Algorithmus des modernen Computers errichtete.

BILD befindet sich in Flitterwochen mit dem amerikanisch-israelischen Trumpismus. Weshalb sie es für angebracht hielt, ihre brennende Liebe für das Washington-Jerusalem-Bündnis mit einer Werbung für die Kabbala zu verbinden. BILDs neue Begeisterung für den Okkultismus mit dem heiligen Schwert wird noch verständlicher, wenn man die Kabbala-Verehrung Hollywoods und Silicon Valleys hinzunimmt.

Kabbala ist die Lehre der jüdischen Mystik: Die Anhänger glauben, durch magische Zeremonien mit himmlischen Wesen in Kontakt treten zu können. In den USA gehen die Kabbalisten offen mit der okkulten Lehre um. In Hollywood tragen Promis wie Madonna oder Demi Moore öffentlich ein rotes Wollbändchen als Erkennungszeichen am Handgelenk. «Die Praxis versteht sich als eine Kontaktaufnahme zu höheren Wesenheiten. Man könne sich die Kraft von diesen herunterziehen», sagt Dr. Matthias Pöhlmann (56), Weltanschauungsbeauftragter der Evangelischen Kirche. «Ziel ist, dass der Mensch sich seiner Göttlichkeit bewusst werden soll und dies auch magisch erreichen kann. Es ist also auch die Idee, dass der Mensch selbst zum Gott wird.»“ (BILD.de)

Wir befinden uns in finsteren Zeiten. In Kooperation mit Hollywoods Zeitreisemaschinen, muss es Silicon Valley geglückt sein, uns heimlich ins finstere Mittelalter zurückzuversetzen. In wenigen Jahren – vielleicht schon übermorgen? – werden Kreuzzüge gegen das heidnische Land der Chinesen beginnen.

Sagte doch in München der stämmige Außenminister Pompeo in Siegerstimmung: Wir werden gewinnen. Der Westen wird gewinnen. Wie könnte jemand gewinnen, wenn er seine Gegner und Feinde nicht niederstrecken wollte?

Welch schöne ökumenische Eintracht zwischen Christen und Kabbalisten. Es ist der „Weltanschauungsbeauftragte der evangelischen Kirche“ – sonst Sektenbeauftragter genannt –, der das Mysterium des jüdischen Okkultismus enthüllte. Es geht um das Geheimnis aller drei Erlöserreligionen: nicht nur um die Frage: wie kriege ich einen gnädigen Gott? Sondern: wie werde ich selbst Gott?

Nun verstehen wir das verbindende Geheimnis von Hollywoods Science-Fictions-Filmen – in denen Menschen zu Göttern werden – mit der digitalen Götterwerdung in Silicon Valley. Unsterblichkeit ist das Mindeste, was die Genie- und Phantasiemaschinen an der Westküste bringen müssen.

Auch auf diesem Gebiet sind die Amerikaner – sorry – nur verspätete Schüler der Deutschen. In unmittelbarer Nachkriegszeit waren es deutsche Supertechniker, die die Gottwerdung der Exzellenten in glühenden Metaphern beschrieben.

„Aufgabe der Technik ist, die uralten Sehnsüchte und Träume der Menschheit zu erfüllen. Die Träume von ewigem Frühling, ewiger Jugend und ewigem Frieden, die Sehnsucht nach Schönheit und Wahrheit, nach Götterfreiheit von Mühsal und Mangel, von Raum und Zeit, von Krankheit und Tod, nach gottähnlicher Allmacht, Allgegenwart, Allgüte, nach Allwissen und den tiefsten Abenteuern des Leibes, der Seele und des Geistes. Vielleicht unbewusst, vielleicht voll tiefer Ahnung lebt in den Köpfen und Herzen der Genialen die Sehnsucht nach ihren Brüdern über dem Sternenzelt und ihres Wirkens letzter Sinn kann nur sein, der Menschheit den Weg dorthin zu bahnen. Der Weg, den jede gläubige Kinderseele im Gebet zu ihrem Gott sucht, den Weg, den die Menschen aller Rassen und Zeiten als Lohn für ein gutes Leben, für die Erfüllung der Gebote der Götter, dh für die Vollstreckung der Lehren ihrer Übermenschen mit Recht erwarten.“ (Eugen Sänger, Raumfahrtsforscher)

Zu Eugen Sängers Idolen gehörte die „adlige und militärische Führergestalt“ Wernher von Braun, der den zurückgebliebenen Amerikanern zeigen musste, wie man Raketen baut, um die Sowjetrussen nicht schmählich in den Äther enteilen zu lassen.

Nur eine winzige Elite gehörte zu den auserwählten Himmelsstürmern. Auf keinen Fall diverse „Negerrassen, Asoziale, Berufslose, Arbeitsscheue, Landstreicher, Spekulanten, Verbrecher, Geisteskranke, die ohne Seelenwerte, ohne Trieb zu regelmäßiger Arbeit und ohne abgeschlossene Schulbildung sind.“

SPD-Schröders geniale Reform hat – im kongenialen Sog von NS-Genies – die zurecht Verdächtigen erwischt und stigmatisiert.

Nun steht Deutschland vor der Wahl: Amerika – oder China? Amerika glauben wir zu kennen, China ist uns unbekannt. Sagen wir: Chinas Vergangenheit ist uns unbekannt. Von ihr wissen wir nicht, inwiefern sie in der „DNA“ moderner Chinesen vorhanden ist.

Von welcher Tradition reden wir? Von der philosophischen. Neben Griechenland hat nur noch China sich von allmächtigen Göttern freihalten und sich der natürlichen Vernunft des Menschen anvertrauen können.

„In seinen späteren Jahren sagte der britische Historiker Arnold J. Toynbee voraus, dass China eine zentrale Kultur innerhalb der Weltgeschichte würde, gestärkt durch die ökumenische Haltung, die das chinesische Volk über tausende von Jahren entwickelt hätte. Toynbee, der dem Christentum kritisch gegenüberstand, sah in der verehrungswürdigen chinesischen Tradition einen zart knospenden Kosmopolitismus, der den ganz anderen und aggressiven Universalismus Europas zu überholen verspricht.“ (Daisaku Ikeda, Humanismus, Ein buddhistischer Entwurf für das 21. Jahrhundert)

Seien wir einen kurzen Moment überschwänglich und stellen uns vor, die Chinesen erinnerten sich ihrer wunderbaren Philosophen und wunderten sich, dass sie in die technische und totalitäre Falle des Westens getappt seien. Was dann? Werden sie die kapitalistischen Sozialisten – die den Beweis erbrachten, dass beide Systeme konvergent sind – aus Peking vertreiben, um der Welt ein humanes Vorbild zu werden?

Was sagt denn nun Zhao? Der SPIEGEL behauptet über dessen Buch:

„Es stellt zentrale Kategorien und Werte westlicher Gesellschaften infrage – Individuum, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte; es kanzelt Denker, die zum Kanon der politischen Philosophie gehören, als Träumer ab; es bezichtigt die Staaten des Westens, vor allem die USA, der Doppelmoral.“

Doch stimmt das? Um seine Thesen zu belegen, schreibt Bernhard Zand:

„Anders als in staatlichen und zwischenstaatlichen Konflikten verfüge die westlich geprägte Weltordnung über kein taugliches Werkzeug, die Probleme der Welt im Ganzen zu lösen. Ja, „die Welt“ sei überhaupt keine Kategorie, kein „politisches Subjekt“ unserer Zeit. Denn die zentrale Einheit in der internationalen Politik sei noch immer der Nationalstaat, der sich nach dem Westfälischen Frieden 1648 etabliert hat und bis heute, so Zhao, die „höchste Machtinstanz“ geblieben ist. Für Zhao hat sich der Nationalstaat überholt – und mit ihm die westlich geprägte Weltordnung insgesamt: „Das Aufkommen der Globalisierung enthüllt die Defizite der internationalen Politik. Der Begriff des Zusammenlebens bezieht sich nicht mehr nur auf das Innere von Nationalstaaten, es geht zunehmend um das Zusammenleben im globalen Maßstab, und dies wirft die Frage einer über das System der Nationalstaaten hinausgehenden Machtausübung auf.“ Doch Zhaos Kritik geht tiefer. Er hinterfragt die Grundlagen des westlichen Denkens. Die moderne politische Philosophie gehe auf einen Begriff der Rationalität zurück, der zu eng vom Individuum aus gedacht sei. Rational sei im westlichen Verständnis, was letztlich dem Einzelnen und der Maximierung seines Nutzens diene.“

Zhaos Kritik ist eine an der Moderne – und sie trifft in hohem Maße zu. Die Grundlage des Westens hingegen, die griechische Polis, kannte den Einzelnen sehr wohl als zoon politicon. Da gab es zwar das Naturrecht des Stärkeren, aber das Naturrecht der Schwachen bändigte es, damit der Einzelne sich durch die Gemeinschaft, die Gemeinschaft durch den Einzelnen verstehen konnte. Vom aufkommenden stoischen Kosmopolitismus des hellenischen Weltreiches scheint Zand noch nie gehört zu haben. Er hätte sonst nicht sagen können, Zhaos kosmopolitisches Denken sei eine grundsätzliche Kritik an der westlichen Demokratie.

„Zhao wertet es als Systemvorteil chinesischen Denkens, dass es stärker auf Zusammenarbeit und Inklusion ziele als auf Gegensatz und Konkurrenz. Der Westen sitzt für ihn der Ego-Falle.“

Eben das ist eine volle Übereinstimmung zwischen chinesischem und griechischem Denken. Für Zand besteht der Westen nur aus den letzten drei bis vier Jahrhunderten der christianisierten Moderne. Das Griechentum ist abserviert.

Dieses Argument hebt Zhao auf die Ebene der Staatenlehre und verwirft damit gleich mehrere Klassiker der politischen Philosophie, von der Aufklärung bis zur Gegenwart: Vergleichsweise gut kommt dabei noch Immanuel Kant weg, dessen epochemachenden Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1795) Zhao würdigt. Doch Kants Konzept eines „Bundes freier Staaten“, die gedankliche Keimzelle der Charta der Vereinten Nationen, funktioniere nur, um die Interessen einer kleinen, relativ homogenen Gruppe von Staaten auszugleichen – etwa in der Europäischen Union. Den kulturellen und politischen Brüchen einer globalisierten Welt aber, so Zhao, sei diese Idee nicht gewachsen: «Kants Vorstellung von einem ‚Bund freier Staaten‘ überstieg nie das Konzept einer auf Nationalstaaten beruhenden internationalen Politik.»“

Auch die europäische Aufklärung wollte den Chauvinismus europäischer Staaten – die allesamt in auserwählter Rivalität gegeneinander standen – überwinden. Die Kritik an Kant ist nicht unberechtigt. Er vertraute den Völkern weniger als wohlwollenden Monarchen. Ein überzeugter Demokrat war er nicht.

Zhaos Kritik an den USA, die es – seit der Kehre der amerikanischen Politik vom Weltfrieden zum Endkampf zwischen dem Reich des Guten und des Bösen – verstanden haben, das „Zeitalter der Verantwortung“ zu zerlegen, ist berechtigt. Es war die Wasserscheide zwischen der Politik des Vaters und des Sohnes Bush. Der Ältere unterstützte Gorbis Weltutopie, den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands. Der Jüngere begann die Welt in Gut und Böse zu spalten.

„In seinen politischen Passagen liest sich Zhaos Buch wie ein zorniger, US-kritischer Kommentar der chinesischen Staatspresse: Die heutige Weltordnung sei „ein von den USA geführtes und manipuliertes System, bestehend aus globalisierter politischer Macht, globalisiertem Kapital und einem globalisierten Sprachmarkt“. Die Vereinigten Staaten von Amerika übten eine „Hegemonie über das Finanzwesen und die der Staatssouveränität übergeordnete Menschenrechtsstrategie“ aus.“

Trump hat die Ausschaltung der UNO, die Deklassierung der Völkerrechte, nicht erfunden, doch den Respekt vor anderen Völkern hat er systematisch beseitigt. Wer Trumps Zertrümmerung der humanen Nachkriegspolitik betrachtet, der kann Zhaos Kritik nicht mehr widersprechen.

In einem Punkt hat Zand recht:

„Zhao misst den Westen an der Praxis und ihren unbestreitbaren Katastrophen, China aber an einer schönen, vagen Theorie und ihren Möglichkeiten. Er kritisiert, zu Recht, die Versäumnisse der von den USA geprägten Weltordnung, aber er unterschlägt ihre Errungenschaften, zu denen nicht zuletzt die Globalisierung zählt. Zhao feiert die Erfolge der frühen chinesischen Geschichte als Konsequenz einer fundamental überlegenen Sicht auf die Welt; die Fehlschläge des modernen China aber übergeht er oder interpretiert sie als Abweichungen, die dem Land vom Westen aufgezwungen wurden. Das China des 21. Jahrhunderts ist aber schließlich selbst ein Nationalstaat geworden, der sein politisches und ökonomisches Gewicht heute ganz ähnlich einsetzt, wie Zhao es den Großmächten des Westens vorwirft. Das ignoriert er.“

In einem totalitären Staat wird kein Denker sich eine grundsätzliche Kritik an seinem Regime leisten können. Umso erstaunlicher, dass Zhao den Westen realistisch wahrnimmt. Wie er den Westen sieht, könnte er eines Tages auch seine Nation sehen – um sich gegen sein eigenes Regime zur Wehr zu setzen.

Fast kein westlicher Denker ist in der Lage, eine treffendere Selbstkritik vorzulegen. Kundige Rückspiegelungen unseres Systems durch Fremde sollten wir nicht aus verletzter Eitelkeit zurückweisen, sondern die Gelegenheit nutzen, um das Gespräch über alle Grenzen hinweg zu suchen.

Wir vermuten: wenn ein Einzelner in China fähig ist, sich solche profunden Erkenntnisse über den Westen zu erarbeiten, ist das nur möglich, weil er die humanen Grundlagen seiner nationalen Philosophie aufgesogen hat. Dann aber wird er auf keinen Fall der Einzige sein, der zu dieser Tat fähig war. In Hongkong begann bereits der Aufstand der demokratischen Jugend gegen die harte Hand Pekings. Wer will behaupten, der Funke könnte nicht überspringen?

Am Ende anerkennt Zand, dass Zhao sehr wohl, wenn auch in vorsichtiger Sprache, Kritik an seinem Land übt:

„Gegen Ende seines Buches warnt er vor „einer neuen Art von Diktatur, gegen die sich niemand mehr wehren kann“ – einer Dystopie, in der „die technischen Systeme die Informationen jedes Menschen sammeln und überwachen“. Das ganze Kapitel ist so vorsichtig formuliert, dass diese Sätze auch jede andere Gesellschaft, jeden anderen Staat meinen könnten. Doch wer sein Buch bis zu dieser Stelle gelesen hat, weiß: Hier ist von China die Rede.“

Und merkwürdig: Zhaos Kritik an Amerika stimmt im Wesentlichen überein mit der von Noam Chomsky:

„Ich werde nicht einmal darauf eingehen, dass er Israel das gibt, was die israelische Presse „ein Geschenk an die Rechte“ nennt, indem er dem internationalen Recht, dem Weltgerichtshof, dem UN-Sicherheitsrat und dem überwältigenden Teil der internationalen Meinung formell den Rücken kehrt, während er sich bei der Wahl 2020 auf die Stimmen der Evangelikalen stützt. Das Vorrecht der höchsten Macht“.

Chomskys Kritik an Trump betrifft auch Netanjahu. Beide Staaten scheren sich immer weniger um Völker- und Menschenrechte.

Deutschland wagt es, weder Amerika noch Israel den Spiegel vorzuhalten. Shimon Stein und Moshe Zimmermann versuchen verzweifelt, die deutsche und europäische Feigheit anzuprangern, um Verbündete zu gewinnen im Kampf gegen die steigende ultraorthodoxe Kälte ihres Landes.

„Es besteht nicht nur die Gefahr, dass das Gedenken an den Holocaust „zum Ritual erstarrt“ (Steinmeier), es wird tatsächlich als politische Waffe missbraucht, und zwar von mehr als nur einer Partei im Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte. Die Politik hat allzu oft die Geschichtswissenschaft überrumpelt und zynisch die Historie – ganz besonders die des Zweiten Weltkriegs – nach Belieben schreiben und verbreiten lassen. Dem World Holocaust Forum im Schoah-Gedächtnisort Yad Vashem in Jerusalem wohnten auf Einladung des israelischen Präsidenten Reuven Rivlin neben Steinmeier fast 50 Staats- und Regierungschefs und weitere prominente Vertreter der Weltpolitik bei, darunter US-Vizepräsident Mike Pence, der französische Präsident Emmanuel Macron, der russische Präsident Wladimir Putin und der britische Thronfolger Prince Charles. Das Forum erwies sich im Wesentlichen jedoch als Kulisse für eine zynische Instrumentalisierung der Schoah.“ (ZEIT.de)

Deutschland sumpft in sich. Wie das Land Merkels nicht fähig ist, seine Verbündeten wohlwollend zu kritisieren, so ist es nicht fähig, Kritik seiner Freunde als hilfreiche Überprüfung seiner Selbstwahrnehmung anzunehmen.

Es ist keine Freundschaft, den Partner sehenden Auges ins Verderben laufen zu lassen.


Fortsetzung folgt.