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Tanz des Aufruhrs XXII

Tanz des Aufruhrs XXII,

„Wären wir alle gleich stark, klug, gebildet, reich, so würde die ungehinderte Selbstbetätigung jedes Einzelnen ein sittliches Prinzip sein können. Da wir es nicht sind und nicht sein können, so führt dieses Prinzip in seinen Konsequenzen zu einer tiefen Unsittlichkeit.“ (Lassalle)

„Luxus, Verschwendung, Krieg und Ausbeutung fördern den Fortschritt. Tugend – Genügsamkeit und Friedfertigkeit – schaden ihm. Der Wohlstand der Gesellschaft beruht auf der billigen Arbeit der Schwachen. Der Reichtum eines Volkes besteht in einer großen Menge schwer arbeitender Armer. Zivilisatorischer Fortschritt und wirtschaftliche Potenz einer Nation werden getrieben von Selbstsucht und sind verschwistert mit dem Verfall der Sitten. Die Laster einer Gesellschaft müssen nicht nur geduldet, sondern gefördert werden:

„Mit Tugend bloß kommt man nicht weit;
Wer wünscht, daß eine goldne Zeit
Zurückkehrt, sollte nicht vergessen:
Man musste damals Eicheln essen“.“ (Mandeville)

„Dem Gedanken – am brutalsten von Mandeville ausgesprochen –, es müsse dem Arbeiter schlecht gehen, damit er nicht faulenze, ist A. Smith abgeneigt. Kein Staat kann blühend und glücklich sein, wenn der größte Teil seiner Bürger arm und elend ist. Smith klagt die Arbeitgeber an, ihre Angestellten geistig und körperlich verkümmern zu lassen.“

„Die Forderungen des Gemeinsinns und der Humanität müssen auch im wirtschaftlichen Leben ihre Geltung behaupten. Dazu bedarf es des

wohlerwogenen Eingreifens des Staates im Interesse aller Beteiligten.“ (G. Schmoller, „Kathedersozialist“)

„Die soziale Notlage der unteren Schichten ist unvermeidlich und die Voraussetzung aller höheren geistigen Kultur.“ (Heinrich von Treitschke)

J. S. Mill „geht davon aus, dass nach Erreichen des Wachstumsziels (ein Leben in Wohlstand für alle) eine Zeit des Stillstands kommen müsse. Dieser stationäre wirtschaftliche Zustand bedeutet für ihn jedoch nicht, dass auch kein intellektueller, kultureller und wissenschaftlicher Fortschritt stattfindet und auch ein Mangel an Waren vorhanden ist. Stillstand herrscht allein in Bezug auf die Kapital- und Bevölkerungszunahme. Es ist ein Zustand, in dem „keiner arm ist, niemand reicher zu sein wünscht, und niemand Grund zu der Furcht hat, dass er durch die Anstrengungen anderer, die sich selbst vorwärts drängen, zurückgestoßen werde“. Das Streben nach Wachstum bezeichnet Mill als Sucht. Er geht davon aus, dass gesellschaftliche, kulturelle und sittliche Fortschritte umso größer wären, würde der Mensch dieser Sucht entsagen. Erwerbstätigkeit kann ebenso in Mills stationärem Zustand stattfinden, „nur mit dem Unterschiede, dass die industriellen Verbesserungen anstatt nur der Vermehrung des Vermögens zu dienen, ihre ursprüngliche Wirkung hervorbrächten, nämlich die Arbeit zu verkürzen“.“

„Die Demokratie ist bei verschiedenen großen Völkern verschwunden, nicht deshalb weil diese Völker die Demokratie ablehnen, sondern weil sie der Arbeitslosigkeit und Unsicherheit müde geworden sind, weil sie nicht mehr zusehen wollten, wie ihre Kinder hungerten, während sie selber hilflos dasaßen und mit ansehen mußten, wie ihre Regierungen verwirrt und schwach waren … Wir in Amerika wissen, daß unsere demokratischen Einrichtungen bewahrt werden … Aber um sie zu bewahren, müssen wir den Nachweis führen, daß die demokratische Regierungsform in ihrer praktischen Arbeit der Aufgabe, die Sicherheit des Volkes zu schützen, gewachsen ist.“ (F. D. Roosevelt, New Deal)

„Wenn wir garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen. Gegen Überbevölkerung gibt es nur eine Bremse, dass sich nur Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können.“ (Hayek)

„Fast alles, was wir höhere Kultur nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit; sie macht die große Festfreude der Menschheit aus: „denn leiden sehen, tut wohl – leiden machen noch wohler.“ In allem Mitgefühl komme etwas Verächtliches zum Vorschein, die physiologische Überreizbarkeit, die allem Dekadenten eignet. Ihr gegenüber müssen die gewalttätigen, selbstsüchtigen Instinkte sich wieder Luft schaffen, wenn ein Fortschritt der Kultur, eine Überwindung der wachsenden Kleinheit des Geschlechts möglich sein soll. (Nietzsche)

„Wenn Nietzsche verlangt, man solle den Egoismus und die freie Marktbetätigung jedes Einzelnen als höchstes Gestaltungsprinzip gelten lassen, weil nur auf diese Weise jeder zu seinem Recht gelangen könne – so ist dies nichts anderes als das, was das Manchestertum als oberste sozialpolitische Weisheit verkündet hatte. Hierher gehört die Abneigung gegen den Staat und dessen Eingreifen in die individuelle Freiheit.

Nietzsches Behauptung endloser Wiederkehr des Gleichen, mit ihrer unersättlichen Gier nach Leben, es sei wie es sei, macht dieses Dasein zur Hölle für alle, mit Ausnahme der wenigen Herrenmenschen, die stark genug sind, um alles unter ihren Machtwillen und seine Herrscherlust zu beugen. Das ist wohl das Furchtbarste, was je ein Denker den Menschen als Ethik ausgesonnen hat: die Ewigkeit der Höllenstrafe als höchste Lebensfreude.“ (F. Jodl, Geschichte der Ethik)

„Mit aller Macht einer innigen Überzeugung und einer glühenden Beredsamkeit wird der ethische Gesichtspunkt dem rein volkswirtschaftlichen in allen Fragen der Sozialpolitik und der Arbeiterorganisation übergeordnet. Im schärfstem Gegensatz zu allem Manchestertum an A. Smith anknüpfend, aber seinen Dualismus von Ökonomie und Ethik beseitigend, wird hier das Wort gesprochen: Eine Untersuchung über den Nationalreichtum gehört in die Moralwissenschaft. Es gibt in Wahrheit nur eine Art Reichtum für alle Völker: ein Leben, das alle Möglichkeiten zu lieben, sich zu freuen, zu genießen, einschließt. Alle Werte des Wohlstands, die wir anhäufen, sind nutzlos, wenn sie für die Masse der Menschen keine Lebenssteigerung in diesem Sinn bedeuten.“ (John Ruskin)

„«Gerechtigkeit ist modern». Die Autoren betonen, dass Werte wie Fairness, soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Verantwortung für andere, Chancengleichheit und Solidarität zeitlos sind. Eine Kernaussage des Dokumentes ist: „Wir unterstützen eine Marktwirtschaft, nicht aber eine Marktgesellschaft“. Ziel des Konzeptes ist die grundlegende Modernisierung der sozialdemokratischen Programmatik. Insgesamt geht es in dem Papier um eine wirtschaftsfreundlichere Ausrichtung, eine Reform der Sozialsysteme und die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Betont wurde, dass eine nach Auffassung der Verfasser pragmatische und keine ideologische Wirtschaftspolitik betrieben werden müsse. Hierbei wurde der durch die Globalisierung entstehende Konkurrenzdruck zwischen Volkswirtschaften betont.“ (Blair-Schröder-Papier, Der Dritte Weg)

In der gegenwärtigen Weltkrise schießen die lange unterdrückten Gegensätze der Demokratien an die Oberfläche. Lange wurden sie gezügelt durch Macht und Reichtum der weltbesiegenden Staaten. Jetzt, wo die Sieger zu kollabieren beginnen, dringen ihnen ihre Widersprüche aus allen Poren.

Überall kommt es zum Patt der politischen Kräfte. Wahlen sind nicht mehr dazu da, bevorzugte Parteien an die Macht zu bringen, sondern versacken regelmäßig im Wärmetod der Unentschiedenheit. Völker können sich nicht mehr entscheiden, Polit-Kasten backen zusammen in lähmenden Kompromissen. Probleme werden nicht gelöst, sondern verhärten in bewegungslosen Stillständen. Auf der einen Seite will Freiheit sich anarchisch von allen Regeln befreien, auf der anderen regrediert sie in die Zucht theokratischer Obrigkeiten.

Die Krise in Thüringen ist eine Grundlagenkrise. Durch lächerliches Politgeschacher wird sie nicht zu lösen sein. Alles stürzt sich auf den Kampf der Hyänen beim Gerangel um die Beute, fast niemand stellt die Frage nach den Ursachen.

In brillanter Weise gelingt es der Kanzlerin, sich aller Verantwortung für die langfristigen Ursachen der Krise zu entledigen und sich zur Siegerin des Streits zu erklären.

Ihr Schema: so lange wie möglich stellt sie sich tot, um in letzter Sekunde – wenn sich abzeichnet, welche Strömung siegen wird – ein Machtwort zu sprechen, indem sie, von ihren treu- bewundernden Medien, alle Schuld ihren Vasallen zuweisen lässt. So beißt sie alle Rivalen weidwund, um aus der Krise als unverzichtbare Königin hervorzugehen. Sie hat sich am besten unter Kontrolle im Spiel: wer am längsten die Nerven behält, schießt am besten.

Martin Knobbe vom SPIEGEL bringt an drei folgenden Tagen drei inkompatible Deutungen der Kanzlerin zustande:

Mittwoch: „Gewinnerin des Tages ist Angela Merkel. Großzügige vier Tage – mit An- und Abreisetag – nimmt sich die Bundeskanzlerin, um sich einem ihrer derzeit wichtigsten Projekte zu widmen: dem Austausch mit den Ländern Afrikas.“

Donnerstag: „Die Kanzlerin hat ein Talent dafür, eher nicht da zu sein, wenn zu Hause die Hütte brennt. Die Nachricht vom innenpolitischen Beben im Thüringen erreichte sie jedenfalls auf dem Flug Richtung Südafrika. Einen Kommentar ließ sie sich von den mitreisenden Journalisten, zu denen auch mein Kollege Philipp Wittrock gehört, nicht entlocken.“

Freitag: „Es war eines der seltenen Machtworte, die Angela Merkel aussprach. Es zeigte, wie empört die Kanzlerin über den Wahl-Coup der AfD war. Und wie groß ihr Einfluss noch ist, selbst aus der Ferne.“

Wenn sie vor der brennenden Hütte Reißaus nimmt, kann sie keine Gewinnerin sein, die aus der Ferne entscheidende Machtworte spricht. Ihre erkenntnislose Stummheit soll wie bedeutungsschweres Schweigen wirken: wenn du geschwiegen hättest, hätte ich dich nicht für eine Pastorentochter gehalten.

Mit machiavellistischen Spielchen lenken die Eliten von den Ursachen des Desasters ab. Die Empörung der Deutschen über das „Einreißen der Brandmauer“ hält die NZZ für übertrieben. Demokratietechnisch sei alles korrekt gewesen.

Da wäre es sinnvoll, an Churchill zu erinnern: Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen – mit Ausnahme aller andern. Was bedeutet: sie kann noch verbessert werden.

Was sollte verbessert werden, um absurde Männer-Rangeleien zu verhindern? Die Macht der Parteien müsste reduziert werden, damit sie gar nicht erst in die Lage kommen, den angeblich unklaren Willen der Bevölkerung in Pokermanier festzulegen. Dass Parteien in eigenen Listen die Hälfte der Wahlkandidaten bestimmen können (und andere Machtanmaßungen, an die man sich längst gewöhnt hat) ist ein Unding.

Dass die Abgeordneten sich nach Belieben auf ihr Gewissen berufen können, um den Auftrag ihrer Wähler zu ignorieren, der permanente Fraktionszwang hingegen ihre freie Entscheidung unmöglich macht, scheint niemand als Problem zu empfinden. Der Wille des Volkes wird mit List und Tücke der Macht der Parteien unterstellt. Was das Volk wählt, müsste eins zu eins in Regierung und Opposition übersetzt werden.

Unbefugte Deutungsmacht dieses Willens ist genauso verboten wie die angemaßte Deutungsmacht der Theologen beim beliebigen Verfälschen heiliger Texte. Überall maßen sich die Eliten an, besser zu wissen, was das Volk, Gottes Wort, die Zukunft der Menschheit sagen will – als der ignorante Pöbel selbst.

Die griechische Polis zerbrach an ungelösten internen Problemen, dem Widerspruch zwischen demokratischer Gerechtigkeit der Gleichen (Naturrecht der Schwachen) – und der wachsenden Wirtschaftsmacht der Reichen (Naturrecht der Starken).

In den Anfängen ihres demokratischen Furors waren die Griechen imstande, der persischen Weltmacht Paroli zu bieten.

Auf dem Höhepunkt ihrer Demokratie war die Macht der Mächtigen so eingebunden, dass ein Gleichgewicht der Kräfte entstand und Athen in Kunst, Wissenschaft und Philosophie zum unbestrittenen Mittelpunkt der Alten Welt aufstieg. In der ungeahnten Freiheit der Polis können sich alle Begabungen und Fähigkeiten in nie gekannter Weise entwickeln. Auch die Wirtschaft streckt und dehnt sich in alle Himmelsrichtungen.

Genau hier beginnt die Kluft zwischen den Ehrgeizigen und jenen, die in ihrem Stand zufrieden sind. Wachsende Unterschiede in Reichtum werden zu politischen Machtunterschieden: die sich schnell entwickelnde Wirtschaftskrake zerbricht das Gleichgewicht der Kräfte. Die Demokratie stürzt in sich zusammen.

In den folgenden Weltreichen des Hellenismus und der Römer degradierten die Wirtschaftseliten die entwurzelten Massen zu fast nichts. Da Sklaven die notwendige Arbeit verrichteten, blieb für den ausgeraubten und überflüssigen Stadtplebs nichts übrig – als von Tag zu Tag durchgefüttert und mit grausamen Spielen von Aufständen abgehalten zu werden. Heute nähern wir uns wieder dem Endstadium Roms, in dem EINPROZENT der Eliten 99PROZENT des gesamten Reichtums zusammengerafft hatte.

Das an die Macht gelangte Christentum kannte keine Gerechtigkeit auf Erden, sondern verwies auf die Polis im Himmel. Nach anfänglichen Tändeleien in brüderlichem Gemeinsinn unterstützte die Kirche den aufkommenden Reichtum der oberen Stände – an dem sie selbst hemmungslos profitierte und unermesslich reich wurde.

Heute verlassen pro Jahr 100 000de die beiden Kirchen und dennoch gelingt es diesen, ihre archaischen Pfründe zu erweitern. Sie folgen dem urkapitalistischen Matthäusprinzip: wer hat, dem wird gegeben. Sie haben.

Was Gerechtigkeit für vitale Demokratien bedeutet, ist bis heute ungeklärt. Von den beiden bislang mächtigsten Wirtschaftsdoktrinen der Welt, dem Kapitalismus und dem Sozialismus, wird diese Frage beiseite gewischt. Beide unterstellen sich angeblichen Natur- oder Geschichtsgesetzen, gegen die das Bedürfnis moralischer Selbstbestimmung der Menschen wesenlos sei.

Auch Aufklärer beteiligten sich an der Entmachtung der Moral. Unter ihnen der Engländer Buckle mit der Erklärung, Moral sei stationär und fortschrittsunfähig. Der Vergleich der ältesten Moralvorschriften mit den Imperativen der Gegenwart zeige keine dynamischen Veränderungen.

Noch das Blair-Schröder-Papier bedient sich dieses Arguments in selbstentlarvender Weise. Ihren dritten Weg halten die beiden Bewunderer des Neoliberalismus für modern und unideologisch, was wohl bedeutet: jenseits von Marx und Revoluzzern. Gerechtigkeit, Fairness aber halten sie für zeitlos. Womit sie entweder die zeitbedingte Modernität ihres dritten Weges ab absurdum führen oder zeitlose Gerechtigkeit für überholt erklären. Was Marktwirtschaft von Marktgesellschaft unterscheiden soll, wird – wie in der Postmoderne üblich – nicht erklärt.

Durch Drangsalierung und Verarmung der Schwachen soll die Wirtschaftskraft der Starken gestärkt werden. So entstand die Schande der Hartz-4-Überwachung. Noch heute gibt es mehr als eine Million Kinder, die den Reichtum der Reichen mit neidischen Augen bewundern dürfen. Damit befand sich Schröder auf dem allermodernsten Niveau eines Mandeville.

Auch Medien gefallen sich darin, auf die Schröder‘schen Reformen hinzuweisen, die den „kranken Mann“ Deutschland an die Spitze Europas zurückgebracht hätten. Schröders Reform war eine Deformation auf Kosten der Schwächsten. Bis heute gelingt es der SPD nicht, ihren windigen Worten Taten folgen zu lassen.

Was war der Grund für das Thüringer Debakel? Die bürgerlichen Werte der Mitte sollen durch rechte und linke Ausreißer zerrüttet worden sein. Alles, was gut und teuer ist, muss bürgerlich – oder aristotelisch sein: wahre Tugend ist die Mitte zwischen zwei Lastern. Das Laster zur Rechten ist die ausländerfeindliche Selbstidolisierung der eigenen Nation. Das Laster zur Linken ist der Versuch, durch terroristische Aktionen die Ausbeutergesellschaft in Trümmer zu legen und eine totalitäre Zwangsbeglückung anzustreben.

Das satte und selbstzufriedene Bürgertum übersieht, dass fast alle rechts- und linkstauglichen Ideen in den Köpfen von Bürgern entstanden. Marx gehörte nicht zum Lumpenproletariat.

Die SPD wurde von marxistischen und antimarxistischen Vätern gezeugt. Obgleich sie Marx schon lange aus ihrem Programm gestrichen haben, sind die Proleten atmosphärisch noch immer vom Odeur des Revoluzzers durchdrungen. Woran erkennt man das? An ihrer Aversion gegen moralische Autonomie. Ohne es zu bemerken, halten sie daran fest, dass Wirtschaft eine zu hohe Wissenschaft ist, als dass sie von kleinen Spießern beeinflusst werden dürfte. Das zeigt sich an der Eitelkeit des Blair-Schröder-Papiers, das sich aus der Logik der „Moderne“ herleitet. Und sich erhaben fühlt über marxistische Revolutionsromantik wie über gutgemeinte, aber wirkungslose Moral frommer Kirchgänger oder utopischer Träumer.

Auch die heutige SPD ist beeinflusst von der Aversion Marxens gegen jegliche Form bürgerlicher Heuchelmoral:

„Aus dieser Anschauung folgte eine quietistische Haltung des gesamten Marxismus – und der auf seinen Lehren aufbauenden Sozialdemokratie. Im Aberglauben an die beglückende und segenspendende Kraft bloßer Naturgesetze des wirtschaftlichen Lebens wetteifert der Marxismus mit dem von ihm so bitter gehassten Manchesterliberalismus. Sozialethik ist im Marxismus des Teufels.“

Die SPD hat offiziell Abschied genommen von Umsturz und Revolte. Doch jedes Moralisieren in der Politik ist für sie noch immer Spießerei. Stets den Blick nach Oben gewandt und immer den Aufstieg im Blick, sind die Ehrgeizigen unter den Proleten davon überzeugt, dass ihr wahrer Sitz im Leben in den Vorstandetagen der Ausbeuter zu finden ist. Kein Zufall, dass altgediente SPDler sich die Strapazen ihres Rackerns und Mühens am Ende ihres Lebens mit goldenen Talern belohnen wollen.

Würden die oberen Geldmächte in einer gerechten Gesellschaft nur ein wenig ent-machtet und ent-mammonisiert, fiele der Eros des Aufstiegs in Nichts zusammen. Nein, der Prozess des Reicherwerdens kann durch Moralprediger nicht aufgehalten werden, ergo darf er es auch nicht.

Was folgt? Man muss am Erfolg partizipieren. Wenn man im verdienten Alter in die vornehmen Viertel der Stadt aufgestiegen ist, kann man behaglich das Urprinzip einer echten deutschen Biografie memorieren: mit 17 ein Revoluzzer, mit 70 ein Millionär: das ist ein echter deutscher Mann.

Das deutsche Bürgertum hat keine moralischen Werte. Anständig in privaten Kreisen muss man sein. In der Welt aber gelten andere Gesetze. Im Sturm und Drang bildete sich der Charakter der deutschen Moderne: so wenig Moral wie unerlässlich, so viel Freiheit von Moral wie möglich. Denn wahre Freiheit ist Negation aller Regeln. Wahre Freiheit ist göttlich. Der gottähnliche deutsche Mann steht turmhoch über den Philistern der Welt.

Das gilt nur für Auserwählte und Genies, die ihre Freiheit auf Kosten der vielen unfreien Kretins genießen. Wer je in einer Nietzsche-Vorlesung saß, wird nie vergessen, wie die Stimme des Vortragenden in geheimnisvolle Schwingungen geriet, als er die Ungebundenheit höherer Menschen andeuten durfte.

Diese urdeutsche freie Grenzenlosigkeit ist dieselbe Genialität, wie sie in Silicon Valley zur Technik geronnen ist.

Das ist das Band der Verbundenheit zwischen deutschen Fichteanern, Nietzscheanern – und amerikanischen Mars-Süchtigen und Schöpfern hyperintelligenter Maschinen, die den Menschen überflüssig machen. Die Klimakatastrophe ist für sie nur ein weiterer Ansporn, Quantenroboter zu entwickeln, die immun sind gegen die Kapriolen der Naturzerstörung.

Der Thüringer Konflikt ist Auftakt für viele weitere Konflikte, die noch kommen werden – wenn man sie nicht durch Rekonstruktion ihrer Entstehung wirkungslos macht. Denn der Mensch, er fühlt sich nicht wohl in der Tyrannei des Fortschritts.

Für Westler ist Fortschritt das, was für Marx materialistische Heilsgeschichte war. Zuerst räumt sie dem Kapitalismus – oder der Macht des Bösen – die Wackersteine aus dem Weg, bis sie auserwählten Proleten die Tore zum Garten Eden öffnen darf. Davon darf der Ausbeuter träumen, aber ins Innere des neuen Paradieses darf er nicht. Das ist die Strafe für seine Drangsalierung der Erwählten.

Woher kann man wissen, dass Kapitalisten, Sozialisten und Modernisten unglücklich sind? Nichts einfacher als das. Man betrachte unsere Kinder, besonders wenn sie in der Pubertät ihr „kindliches Paradies“ verlassen und in die böse Welt müssen. Pubertäre Schwierigkeiten sind keine körperlichen Umstellungen, sondern das beginnende Grauen der Heranwachsenden, wenn sie mit der Amoral der Erwachsenenwelt konfrontiert werden. Sie wissen nicht mehr ein und aus, wenn dieselben Menschen, die sie Aufrichtigkeit lehrten, nun über Nacht das Gegenteil predigen. Ab jetzt müssen sie beweisen, dass sie eigensüchtig und höhnisch über die Schwachen hinweg brettern können, um nach Oben zu gelangen.

Haben sie als Kinder tatsächlich im Paradies gelebt? Ihre Eltern mögen sich angestrengt haben. Doch wie sollten gekrümmte Charaktere in der Lage sein, ihre Kinder ungekrümmt davonkommen zu lassen?

„Kinder machen jeden Tag die Erfahrung: Ich bin ein Versager. Sie haben keine Chance, ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln. So lernen die Kinder nur zu reproduzieren, was ihnen eingetrichtert worden ist. Wirklich kompetent werden sie nur, wenn sie selbstbestimmt Erfahrungen machen. Kinder wissen sehr genau, wann sie welche Erfahrungen machen wollen. Wenn das nicht so wäre, wäre die Menschheit längst ausgestorben. Aber man traut ihnen heute nicht mehr zu, dass sie sich selber entwickeln wollen. Darum geraten viele Eltern und Lehrer in eine eigentliche Förderwut – statt dass sie eine selbstbestimmte Entwicklung zulassen. Eltern und Lehrer sollten akzeptieren, dass Kinder sehr unterschiedlich begabt sind. Jedes Kind will lernen, aber in seinem Entwicklungstempo und auf seine Weise. Heute ist trotz größtem Wohlstand untergründig immer die Angst da, dass man den Job verlieren könnte. Das gilt quer durch alle Schichten. Und es überträgt sich auf die Kinder: Die Eltern wollen sie möglichst gut vorbereiten auf das, was sie erwartet.“ (Sueddeutsche.de)

Der Schweizer Kinderarzt Remo Largo legt den Finger in die Wunde. Wie kann eine Gesellschaft sich fortschrittlich nennen, wenn sie das Leben ihrer Kinder unter das Damoklesschwert ständigen Versagens stellt?

Digitalisten und Politiker stellen willkürliche Forderungen auf, wagen es, diese Forderungen Bildung zu nennen, anstatt von wirtschaftlichen Dressurübungen zu sprechen.

In der Schule beginnt das Regiment der Angst als Propädeutikum wirtschaftlichen Erfolgs. Kein Kapitalist denkt an das wahre Wohl der Kinder. Die Klimakatastrophe – ausgebrütet im Schoß des Kapitalismus – zerstört die letzte Illusion über eine Welt, in der Kinder angeblich willkommen sind.

Die Zerstörung des Kapitalismus ist Voraussetzung einer kindergemäßen Welt: hier bin ich Kind, hier darf ich‘s sein – um ein Mensch zu werden.

 

Fortsetzung folgt.