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Tanz des Aufruhrs XX

Tanz des Aufruhrs XX,

„Viele Eltern glauben, sie müssten der beste Freund ihres Kindes sein. Das ist grundlegend so falsch, wie es falscher nicht mehr geht. Eltern sind Erzieher. Erzieher müssen nicht immer gemocht werden. Und wer versucht, es in seinem Leben allen recht zu machen, der macht es am Ende niemandem recht.“ (WELT.de)

Wenn Freundschaft kritiklos ist, darf man sich nicht wundern, dass deutsche Regierungen sich befreundeten Staaten blind unterwerfen oder dass es in Demokratien keine Freundschaft geben kann. Denn die lebt von solidarischer Streitkultur.

Entweder gnadenlose Shitstorms oder mediale Gebetsgemeinschaften: das ist das Gesetz geborener Dialektiker. Die kleinste Kritik ist ätzend. Synthesen müssen am Anfang stehen, Thesen und Antithesen sind überflüssig. Wer kontroverse Verhandlungen nicht mit einem Kompromissangebot beginnt, ist ein Querulant.

Freundschaft ist, wenn man es jedem recht machen will? Sind hiesige Großhirne unfähig, den Unterschied zwischen Schleichern und aufrechten Demokratie-Streitern zu verstehen? Die SPD und die Grünen müssen besonders freundschaftliche Parteien sein. Hat jemand von ihnen den Aufstieg geschafft, kennen sie plötzlich keine alten Freunde mehr, denn in der Industrie haben sie neue gefunden.

Das Stichwort „Freundschaft“ sucht man in Adam Smith’s Wohlstandsbuch vergebens. Das wird doch nicht mit der besten Wirtschaftsform aller Zeiten zusammenhängen?

In seinem ersten Buch über ethische Gefühle liest man:

„Von allen Arten freundschaftlicher Anhänglichkeit … ist diejenige, welche sich

ganz und gar auf die Achtung und Billigung seines guten Verhaltens … weitaus die ehrenvollste. Freundschaften können nur unter tugendhaften Menschen bestehen.“

In seinem zweiten klingt es wesentlich anders:

„Nicht vom Wohlwollen der Freunde erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Freundschaft, sondern an ihre Eigenliebe, wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil. Niemand möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Mitmenschen abhängen, außer einem Bettler, und selbst der verlässt sich nicht allein darauf.“ (leicht gefälschtes Zitat aus „Der Wohlstand der Nationen“)

Ist hier von Freundschaft die Rede? Wenn nicht, muss Kapitalismus als eine Wirtschaftsform angesehen werden, in der Freundschaft unmöglich ist. Freundschaft und Kapitalismus schließen sich aus.

Stellen wir den Satz auf den Kopf: Freundschaft ist nur unter Menschen möglich, die die Gesetze des Kapitalismus außer Kraft setzen. Und die sind: Ich, Ich und Ich.

Kann es in einer Gesellschaft Freundschaft geben, wenn Menschen ihre Zusagen zu einem freundschaftlichen Treffen leichtfertig brechen, wie es mittlerweilen zum Brauch geworden ist?

„Erst zusagen, dann kurz vor knapp mit einer Ausrede absagen – wieso machen wir das? Für Freundschaften kann das zur Belastungsprobe werden. Zumindest dann, wenn man nicht die richtigen Worte findet.“ (WELT.de)

Doch wozu Freundschaft? Funktioniert die Welt nicht auch ohne? Möglich, dass sie überhaupt nur funktioniert, weil Freundschaft ausgerottet ist. Doch ist die Welt dadurch lebenswerter geworden?

Freundschaftslose Gesellschaften sind erfolgreich. Sie verzichten, um des Gewinns willen, auf die Bande des Herzens, weil sie dem Ruf der Macht durch Profit folgen müssen.

Ist es möglich, dass erfolgreiche, mächtige Gesellschaften auf Freundschaft verzichten können? Können Geld und Macht attraktiver sein als sentimentale Herzensbindungen?

Flanieren wir durch eine deutsche Stadt. Was sehen wir? Isolierte Monaden, von unsichtbaren Botschaften geleitet, die keinen Blick an ihre Umgebung verschwenden.

Sie suchen Freunde und wollen ständig mit ihnen verbunden sein. Ohne digitale Präsenz ihrer irrealen Beziehungen scheinen sie es nicht auszuhalten. Kann es sein, dass die Silicon-Valley-Giganten mehr von freundschaftlichen Bedürfnissen verstehen als alle Tugendprediger zusammen? Doch merkwürdig, wie Facebook-Genie Zuckerberg, der ursprünglich mit Freundschaft lockte, jetzt seinen Gläubigen ins Angesicht widersteht:

„Facebook hilft, mit Leuten in Kontakt zu bleiben, die wir auch im echten Leben kennen. Mehr nicht. Wer glaubt, dass jeder Facebook-Kontakt ein Freund ist, der weiß nicht, was Freundschaft bedeutet.“ (Mark Zuckerberg)

Menschen suchen Nähe, weshalb sie ihren „Freunden“ oft zusagen. Aber zur Freundschaft sind sie nicht fähig, weshalb sie in letzter Minute wieder absagen. Sie haben Angst, abhängig zu werden. Moderne Menschen dürfen nicht klebrig sein. Jeden Augenblick müssen sie damit rechnen, dass der Ruf aus einer anderen Richtung kommt und sie unter Tränen scheiden müssen. Vor diesen Tränen haben sie Angst, weshalb sie aus Vorsicht auf Distanz gehen. Wer sich allzu sehr bindet, muss sich mit Mühe wieder lösen. Lösen aber kostet seelische Energie, die man an anderer Stelle dringender benötigt.

Wer seine Kinder behandelt, als müsse er sich jeden Augenblick von ihnen lösen können, der hat das Gesetz des Kapitalismus verstanden. Er weiß, was die Gesellschaft eines Tages von seinen Kindern verlangen wird. Also will er sie auf die seelischen Verkrümmungen der Gesellschaft frühzeitig vorbereiten, indem er ihnen die Verletzungen in pädagogischer Vorsorge selber zufügt. Es ist das Gesetz der sozialen Impfung: Gleiches durch Gleiches.

Wer seine Kinder leiden lässt um ihrer zukünftigen Soziabilität willen, rechtfertigt sich gewöhnlich mit der Auskunft: das alles haben wir doch selbst überstanden und: sind wir nicht dennoch erfolgreiche Kerlchen geworden? Oh, das sind sie – aber mit welchen Persönlichkeitsdefekten und schmerzlichen Narben, die sie an ihre Kinder weitergeben müssen?

Kinder und Kapitalismus sind ebenso unverträglich wie Freundschaft und Kapitalismus. Freundschaft mit Kindern ist kein Verzicht auf Neinsagen. Aber die kleinen Neins müssen in einem großen Ja untergehen.

Dieses große Ja zur nachfolgenden Generation ist heute verschwunden. Die Trostlosigkeit des Fortschritts ist eine einzige Absage an das Kind.

Ohne basale Freundschaft ist Demokratie nicht möglich. Zu allen Zeiten verlässt sich der Einzelne auf die anderen der Gesellschaft, dass sie das Ihre zum Wohlergehen der Polis beitragen. Man vertraut den vielen Unbekannten, dass sie sich an Gesetze halten, ihre Steuern zahlen, ihre ehrliche Meinung kundtun und dass Regelverletzer eine belanglose Minderheit bleiben.

Das Ganze soll nicht nur funktionieren, sondern einen Hauch von Lebensfreude vermitteln. Doch wer immer mehr funktionieren muss, dessen Lebensfreude schwindet.

Das Ziel des Kapitalismus ist Wohlstand, Reichtum – und Macht über andere. Denn wer reich ist und Arbeitsplätze schafft, gebietet über diejenigen, die auf diese Arbeitsplätze angewiesen sind.

Der Reiche hat mehr Einfluss auf die Politik als Abhängige und Arme. Gleichheit vor dem Gesetz verträgt sich nicht mit Ungleichheit vor der Macht.

Ohne Kapitalismus könne man die Bedürfnisse der Menschheit nicht befriedigen, erklären seine Apologeten. Ohne ihn würden viele Völker noch immer in Armut verharren. Wenn die westlichen Imperialisten so sicher waren, dass sie mit Wirtschaftswachstum die Völker befreien würden: warum haben sie die Völker nicht befragt, ob sie aus ihrer Not überhaupt befreit werden wollten?

Die Meinung der Völker war ihnen gleichgültig. Sie wussten besser, wie man Menschen beglückt als diese selbst. Kein Eingeborenenstamm, der, ungebeten mit der westlichen Zivilisation in Berührung geraten, auf die Idee käme, sich dieser Zivilisation anzuschließen. Warum nur?

Wenn Faschismus Zwangsbeglückung ist, so ist ökonomische Zwangsbeglückung der Völker – Faschismus. Kein militärischer, aber einer, der die Welt der Beglückten mit wirtschaftlicher Gewalt verändert. Wenn wirtschaftlicher Faschismus ein dominanter Teil westlicher Demokratie ist, dürfen wir uns nicht wundern, dass Zwangsbeglückte die Demokratie immer mehr ablehnen. Zwischen Demokratie und Wirtschaft können sie kaum unterscheiden.

Wer hierzulande das Gemeinschaftsgefühl eingeborener Stämme rühmt, macht sich sozialistischer oder völkischer Bestrebungen verdächtig. Wie Christentum zwischen Erwählten und Verworfenen unterscheidet, so unterscheidet Sozialismus zwischen Ausbeutern und ihren Opfern. Und völkische Geschlossenheit hasst alles, was sich ihr nicht unterordnet.

Freundschaft ist inkompatibel mit allgegenwärtigem Wettbewerb – auf Kosten anderer. Inzwischen gibt es nichts mehr, was nicht gegeneinander antreten und zensiert werden muss. Zu den beliebtesten TV-Sendungen gehören jene, in denen sich die Teilnehmer gegenseitig fertig machen oder von Sadisten eiskalt vorgeführt werden.

Damit die Kinder nicht allzu lange verwöhnt werden, müssen sie so früh wie möglich den Zensoren zugeführt werden. Natürlich alles im Namen der Bildung. Welcher Bildung? Die Bildungsministerin weiß es:

„Für ein Land, das Innovationsland sei und bleiben wolle, könne „Mittelmaß nicht der Anspruch sein“. Deutschland müsse in die Spitzengruppe kommen.“ (Tagesschau.de)

Bildung im Dienst wirtschaftlichen Erfolgs. Das ist der Tod aller Bildung, die dem Heranwachsenden ermöglichen sollte, sich ein Urteil über die Welt zu bilden. Kinder werden nicht um ihrer selber willen gezeugt, sondern weil sie in der Industrie gebraucht werden. Immer mehr Arbeitsplätze bleiben leer, weil es zu wenige Kinder gibt, die sich um sie balgen müssten. Ein Kind ist kein Kind, sondern eine Investition, die sich lohnen muss. Bringt sie keinen Mehrwert, war sie ein Schuss in den Ofen.

Die Kinder sind schon vergeben, bevor sie auf die Welt kommen. Kaum sind sie da, wartet auf sie die Tretmühle der allgegenwärtigen Konkurrenz.

Man stelle sich vor, eine Generation der Jugendlichen verweigerte sich dem Konkurrenzdrill – mit dem Risiko, dass ihr Land im Boden versänke. Wäre das der Selbstmord der Nation, weil potentere Staaten die Loser kaltblütig versenken würden?

Jetzt haben wir die erste Generation Jugendlicher, die sich dem Selbstmord der Gattung entgegensetzen. Da das Thema mit allen Belangen der Gesellschaft zusammenhängt, werden sie die anderen Ursachen ihres Unbehagens an der Gesellschaft kontinuierlich aufdecken.

Sie werden entdecken, dass „unterentwickelte Nationen“ uns weit voraus sind:

„Ein Aspekt, der in den Spielen der Gesellschaften von Jägern und Sammlern, aber auch in den kleinsten Bauerngesellschaften regelmäßig zutage tritt, ist das Fehlen von Konkurrenz oder Wettbewerben. Stattdessen gehört es in Kleingesellschaften sehr häufig zu den Spielen, dass man teilt und die Kinder auf diese Weise auf das Leben der Erwachsenen vorbereitet, in dem das Schwergewicht ebenfalls auf dem Teilen liegt, während man Konkurrenz möglichst zu verhindern sucht.“ (Jared Diamond, Vermächtnis, Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können)

Was können wir von anderen Völkern lernen, die ein ganz anderes Leben führen als Natur zerstören und sich auf Kosten anderer profilieren? Nichts. Sie haben keinen Erfolg, also sind sie nichts.

Der Kapitalismus hat selbst den Wahrheitsbegriff der Philosophie mit dem Erfolgsvirus infiziert. Woran erkennt man Wahrheit?

Nicht an der Erkenntnis der Welt, sondern am Erfolg. Erfolg ist Macht über Mensch und Natur. Moderne Wahrheit muss die Wirklichkeit nicht mehr erkennen, sondern verändern.

Bewegung, Veränderung, Werden, Beschleunigen: nichts darf bleiben, wie es ist. Was ist, ist kontaminiert – mit Sünde. Verändern durch Erkennen entsündigt die Welt. Erkennen ist Feindschaft mit der Welt, Erkennen als Akt der Freundschaft ist verboten. Es darf keine Freundschaft mit der Welt geben:

„Wisset ihr nicht, daß der Welt Freundschaft Gottes Feindschaft ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein. Habet nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist. Wehe, wenn alle Menschen gut von euch reden. Ein jeder hüte sich vor seinem Freund, keiner traue seinem Bruder. Einer betrügt den anderen und keiner redet ein wahres Wort, ihre Zunge ist ans Lügen gewöhnt. Gewalttat über Gewalttat, Trug über Trug. Siehe, ich will sie schmelzen, will sie prüfen.“

Als Christ darf man niemandes Freund sein. Auch die Jünger waren nur „Freunde“ Jesu, aber nicht die ihrer Brüder. Warum setzte sich niemand für Judas ein, den Gott selbst dazu bestimmte, Verräter des Herrn zu werden? Sehenden Auges ließen sie ihn ins Verderben gehen.

Gottes Pisatest prüft jeden Einzelnen: der Test jenes Gottes, der nach Aussage des Papstes niemanden in Versuchung führen kann.

Der Hass der Neoliberalen auf die Vernunftethik beruht auf dem Hass gegen die Christenmoral, die keine eindeutige Moral ist. Lieber sich ehrlich erschrecken über die Realität als sich in trügerischer Ruhe selbst verblenden.

„Gerade der Umstand, dass Jesus kein Sozialreformer war, dass seine Lehren frei von jeder für das irdische Leben anwendbaren Moral sind, dass alles, was er seinen Jüngern empfiehlt, nur Sinn hat, wenn man mit umgürteten Lenden und brennenden Lichtern den Herrn erwartet, um ihm alsbald zu öffnen, wenn er kommt und anklopft, hat das Christentum befähigt, den Siegeslauf durch die Welt anzutreten. Nur weil es vollkommen asozial und amoralisch ist, konnte es durch die Jahrhunderte schreiten, ohne von den gewaltigen Umwälzungen des gesellschaftlichen Lebens vernichtet zu werden. Weil es nichts enthält, was es an eine bestimmte Sozialordnung gebunden hätte, weil es zeitlos und parteilos ist, konnte jede Zeit und jede Partei daraus das verwerten, was sie wollten. Jesus verneint alles Bestehende, ohne etwas an seine Stelle zu setzen. Alle gesellschaftlichen Bindungen will er lösen. Nicht nur für seinen Unterhalt soll der Jünger nicht sorgen, nicht nur sich aller Habe entäußern; er soll auch Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, ja sein eigenes Leben hassen. Im Eifer der Zerstörung aller gesellschaftlichen Bindungen kennt er keine Grenzen. Sie kann alles zerstören, weil sie die Bausteine der künftigen Ordnung von Gott in seiner Allmacht ganz neu gefügt werden sollen.“ (Ludwig von Mises, Die Gemeinwirtschaft)

Man kann nicht behaupten, dass von Mises sich in der Beurteilung der christlichen Religion geirrt hätte. Richtig hat er das Grundprinzip der Erlöserreligion herausgearbeitet: keine Freundschaft mit der Welt, weder mit Mensch noch mit Natur. Hier erkennen wir die religiöse Ursache der modernen Lösungs-Zwänge. Löst euch von allem. Denn alles, was euch hier bindet, verhindert eure Er-Lösung.

Erneut sehen wir den Raubzug des Christentums, das die Familie als seine Beute präsentiert. Das Gegenteil ist der Fall: der Erlöser will die Zerstörung der irdischen Familie, um seine Gemeinde an ihre Stelle zu setzen. Von wegen: Bewahrung der Schöpfung. Die gefallene Schöpfung muss in alle Teile zerlegt werden, damit der Schöpfer eine ganz neue aus dem Hut zaubern kann.

Hayek bekannte sich – im Gegensatz zu seinem Lehrer von Mises – zum Christentum. Mit welchem Wort? Mit einem Wort aus dem Prediger, das nicht die Ordnung und Verlässlichkeit der Welt preist, sondern den dämonischen Zufall und die unberechenbare Zeit:

„Wiederum sah ich, wie es unter der Sonne zugeht: Zum Laufen hilft nicht schnell sein, zum Kampf hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; dass einer angenehm sei, dazu hilft nicht, dass er etwas gut kann, sondern alles liegt an Zeit und Glück.“

Alles göttlicher Zufall, auf dass der Mensch nicht auf eigene Faust klug werde. Lebenslang soll der Mensch im Nebel stochern. Sein Verstand taugt nicht zum Durchschauen der sündigen Unberechenbarkeit. Das ist das absolute Gegenbild zur griechischen Verehrung der kosmischen Ordnung und Verlässlichkeit.

Man kann keine Freundschaft schließen mit dem Ungefähr, dem Irrlichternden, das einem zum Narren hält. Freunde müssen einander das Gefühl geben, dass sie sich aufeinander verlassen können.

Der frühe Kapitalismus entstand im Übergang von der verlässlichen stoischen Moral des jungen Adam Smith – ja, wohin? Mit den Worten des Aufklärers H. Th. Buckle:

„In seinen „sittlichen Gefühlen“ schreibt er unsere Handlungen dem Wohlstand zu; in seinem „Nationalreichtum“ schreibt er sie der Selbstsucht zu. Aus der ökonomischen Wissenschaft geht hervor, dass es Unrecht ist, dem Armen beizustehen, denn nichts ist besser bewiesen, als dass die Unterstützung der Armut diese vermehrt, indem sie die Sorglosigkeit befördert. Und trotzdem kommt das entgegengesetzte Prinzip des Mitleids ins Spiel und wird dafür sorgen, dass es ratsam ist für den, der so fühlt, Almosen zu geben.“ (Geschichte der Zivilisation in England)

Was hätte Smith gesagt, wenn seine Freunde über ihn geschrieben hätten: wir erwarteten nichts von seinem Wohlwollen, sondern nur von seiner Eigenliebe, nichts von seinem Mitleid, sondern nur von seiner Selbstsucht?

Wahrscheinlich wollte Smith den Nachweis erbringen: die Moderne hat solche Fortschritte in der Erkenntnis der Realität gemacht, dass sie auf pure Moral nicht mehr angewiesen ist. Mag die Realität auf den ersten Blick eigensüchtig sein, dennoch bietet diese Eigensucht eine verlässlichere Grundlage für das Wohlergehen der Menschheit als die unzuverlässige Moral der Mitmenschen.

Für die Basis der Gesellschaft mag das genügen. Wer mehr will, muss seine Sympathiemoral einbringen und für edlere Verhältnisse sorgen. Doch das kann nur das Surplus einer zukünftigen Gesellschaft sein. Fürs erste können wir uns mit der unvermuteten Harmonie der Eigensucht begnügen.

Die Wissenschaft fühlte sich soweit, dass ihre wissenschaftliche Basis egoistischer Nüchternheit verlässlicher schien als die unzuverlässige Kür moralischer Himmelsstürmer.

Und doch muss Smith erhebliche Zweifel an seiner egoistischen Vernunft gehabt haben. Aus welchem Grund sonst hätte er sich genötigt gesehen, eine Unsichtbare Hand als ultimative Rückversicherung aus dem Köcher zu ziehen?

Wer Freundschaft mit der Welt will, muss ihre Wahrheit erkennen. Nicht, um auf ihre Kosten Macht zu erringen, sondern um sie in Bewunderung anzuschauen.

Die Erkenntnistheorie der Moderne ruhte nicht eher, bis sie die Unerkennbarkeit der objektiven Welt glaubte, entlarvt zu haben. Sie erkannte, dass sie nichts außer ihr erkennen kann. Es war ein vollständiges Fiasko, das keines sein durfte. Was war zu tun?

Die Erkenntnis, die nichts erkannte, konstruierte selbst, was sie nicht erkennen konnte. Die Welt entstand im Erkenntnisakt des Menschen. Der Mensch erkennt nicht die Welt. Aber was er erkennt, wird zur Welt. Erkennen ist Konstruktion der Welt. Erkenntnistheoretiker sprechen von Konstruktivismus, Instrumentalismus, Pragmatismus.

Der italienische Philosoph Vico legte den Grundstein für diese Entwicklung mit seiner Formel: verum quia factum:

„Als wahr erkennbar ist nur das, was wir selbst gemacht haben.“

Für Bertrand Russell war der amerikanische Instrumentalismus John Deweys der Höhepunkt einer verhängnisvollen Entwicklung:

„In alledem sehe ich eine ernstliche Gefahr, die Gefahr einer kosmischen Pietätlosigkeit. Zu den Mitteln der Philosophie, der Menschheit das Element der Bescheidenheit einzuprägen, gehörte der Begriff der Wahrheit und zwar jener Wahrheit, die auf weitgehend außerhalb des menschlichen Herrschaftsbereichs liegenden Fakten beruht. Wenn dem Stolz nicht mehr auf diese Weise Einhalt geboten wird, dann ist ein weiterer Schritt getan auf dem Weg zu einer bestimmten Form von Wahnsinn – zum Machtrausch, der mit Fichte in die Philosophie eindrang. Nach meiner Überzeugung liegt in diesem Rausch die größte Gefahr unserer Zeit und jede Philosophie, die zu dieser Entwicklung beiträgt, verstärkt die drohende Gefahr einer ungeheuren sozialen Katastrophe.“ (Philosophie des Abendlandes)

Russells Unheilsprognose ist heute wahr geworden. Nicht nur als soziale, sondern als natürliche Katastrophe. Der Mensch, im Wahn, die Natur aus seinem Kopfe zu konstruieren, ist dabei, sie in Wirklichkeit zu vernichten. Und mit der Natur sich selbst. Das muss echte Freundschaft sein.

 

Fortsetzung folgt.